Der Schein trügt - Teil 2

von Ann-Katrin Kinzl

1. Kapitel

„Stellen Sie sich vor, ich ging nichts ahnend in den Garten, um Jane zu suchen und wen sehe ich da? Diesen Burschen mit einer blutverschmierten Engelsfigur über der blutenden und regungslosen Jane. Fassungslos hat er sie angestarrt! Dabei hat er sie doch ermordet. Selbstverständlich habe ich gleich die Polizei informiert. Dieser Kerl gehört hinter Gitter oder besser noch an den Galgen. Die arme Jane! Sie musste so viel in ihrem Leben mitmachen. Ich möchte nicht näher darauf eingehen, schließlich möchte ich nicht, dass sie mich für geschwätzig halten, Inspektor MacPhee!"

Orson MacPhee unterdrückte ein Lächeln. Er war Mitte 60 und würde in wenigen Monaten in seinen wohlverdienten Ruhestand treten. Mehr als 40 Jahre war er weit und breit der einzige Schotte unter Engländern bei Scotland Yard gewesen, was seine Abneigung gegen alles Englische erklärte.
Sein ständiger Wegbegleiter war der dicke Beagle Mr. Watson, ein astreiner Spürhund.
MacPhees zynischer Charakter und sein merkwürdiges Aussehen, mit dem dicken roten Schnauzbart und der Vorliebe für Tweed-Anzüge brachten ihm den Ruf als Witzfigur unter seinen Kollegen ein. Gegenüber Frauen war er meist sehr unbeholfen und schüchtern, doch konnte er auch sehr charmant sein. Dennoch war er sein Leben lang ein eingefleischter Junggeselle geblieben.

„Aber Mrs. Higgins. Nicht doch. Ich schätze aufmerksame Menschen. Ich verspreche Ihnen den Mörder Ihrer Freundin hinter Gitter zu bringen. Haben Sie denn geseh…“

In diesem Moment wurde das Gespräch durch ein tiefes Knurren von Mr. Watson unterbrochen. Der kleine Hund stand vor dem Gartentor und kläffte einen jungen Polizisten an. Der blonde Mann schaute verschreckt, war jedoch beruhigt, als MacPhee den Beagle bei Fuß rief. Kaum hatte er aber die Pforte überschritten, raste der Hund auf ihn zu, der Polizist verlor das Gleichgewicht und rutschte auf dem Boden aus. Nun stand der hechelnde und sabbernde Mr. Watson über ihm und begann dem Polizisten das ganze Gesicht mit der Zunge abzuschlecken. Lachend konnte er sich schließlich befreien und ging auf MacPhee und Mrs. Higgins zu.

„Entschuldigen Sie bitte, sind Sie Detective MacPhee?“
Geringschätzig musterte Orson den jungen Mann, der neben ihm stand. Engländer, kein Zweifel, ein Jungspund, nicht älter als 20. MacPhee nickte und wendete sich wieder der Zeugin zu.
„Mein Name ist Edward Davis und ich wurde von Scottland Yard zugeteilt, um Ihnen bei dem Mordfall zu assistieren.“
„Mr. Davis, Sie sind noch jung, deswegen werde ich nachsichtig sein. Ich habe weder Zeit noch Lust einem Frischling dauernd auf die Finger schauen zu müssen.“
Mit diesen Worten steckte er sich seine Pfeife an und rauchte genüsslich. Dabei zwirbelte er seinen roten Schnurrbart und streichelte Mr. Watson hingebungsvoll.
Davis errötete unter MacPhees Blicken und murmelte etwas Unverständliches.
Mrs. Higgins schaute interessiert zwischen den beiden hin und her.
„Also strengen Sie sich an und widersprechen Sie mir nicht, dann werden wir gut miteinander auskommen. Darf ich vorstellen: Mr. Watson.“ Mit diesen Worten zeigte MacPhee auf den schwanzwedelnden Hund, der soeben an Davis´ Bein schnüffelte.
„Erfreut Mr. Watson.“ Der lächelnde Polizist beugte sich hinunter und streichelte ihm den Kopf. In diesem Moment hob dieser sein Bein und pinkelte an das Hosenbein von Davis.
„Er scheint Sie zu mögen.“ MacPhee lachte und wandte sich Mrs. Higgins zu: „Wo waren wir zuletzt, bevor wir so rüde unterbrochen wurden?“
„Sie fragten, ob ich genau gesehen habe, wie dieser Kerl Jane erschlagen hat. Die Antwort darauf ist Nein. Aber was spielt das schon für eine Rolle. Dieser Bursche hat das Leben meiner Freundin auf dem Gewissen. Was gibt es denn da noch zu ermitteln?“
„Und wenn er nur durch unglückliche Umstände zur falschen Zeit am falschen Ort war? Welchen Grund sollte er gehabt haben, Mrs. Hemmingway zu töten?“, mischte sich nun auch Davis ein.
Mrs. Higgins schien nachzudenken. „Woher soll ich das wissen? Vielleicht wollte er Geld oder sonst etwas.“
„Wir versprechen Ihnen, dass wir den Mörder dingfest machen. Wir werden jeder Spur nachgehen. Seien Sie unbesorgt. Wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte, melden Sie sich bei uns.“

Nach diesem Gespräch verließ Mrs. Higgins eilig den Tatort.
Davis und MacPhee machten sich hingegen auf den Weg, um den bisher einzigen Tatverdächtigen zu befragen.


2. Kapitel

Evan Brendt war ein junger Mann von 19 Jahren. Er war ein gut aussehender Gentleman, dem man seine schreckliche Vergangenheit nicht anmerkte. Seit kurzem war er mit Rosalie Westham, seiner großen Liebe, verheiratet. Trotz aller Widerstände der gesellschaftlichen Konventionen hatten sie heiraten dürfen. Rosalie war die Tochter eines vermögenden Bankers und stand sozial weit über Evan. Evan war Vollwaise und im Waisenhaus aufgewachsen. Durch gute Bildung und Ehrgeiz hatte er in ganz England von sich Reden gemacht und hatte sich schließlich ein kleines Vermögen erarbeitet. Wenig später hielt er um Rosalies Hand an und schon bald wurden sie feierlich in die Ehe eingeführt. Wenige Tage vor dem verhängnisvollen Tag, als Jane Hemmingway ermordet wurde, gestand Rosalie ihrem Gatten sogar, dass sie ein Kind von ihm erwartete. Trotz des bitteren Geheimnisses, das auf Evan lastete, freute er sich sehr Vater zu werden. Er wusste aber ganz genau, dass er nicht ewig mit diesem Geheimnis leben könnte. Und so fuhr er zu Jane Hemmingways Haus, um endgültig mit der Vergangenheit abzuschließen. Er schlich sich hinter die Rosenbüsche.
Der Rest der Geschichte ist bereits bekannt.

Evan Brendt saß nun im örtlichen Gefängnis. Im Halbdunkel dachte er darüber nach, was er denn eigentlich zu seiner Verteidigung sagen konnte. Er war am Tatort mit der Tatwaffe und blutbespritzt gesehen worden. Niemand würde ihm seine absurde Geschichte glauben. Niemand würde sich dafür interessieren. Und Rose, was würde sie dazu sagen? Natürlich würde sie vor Freunden und ihrer Familie behaupten, es handle sich um ein Missverständnis, doch ihre missgünstige Mutter würde die Scheidung verlangen. Sein Schwiegervater hingegen würde seinen Einfluss und sein Geld spielen lassen, um ihn irgendwie aus der Zelle herauszuholen. Ein Wärter unterbrach seinen Gedankengang und öffnete die Gitter.

„Mr. Brendt, zwei Herren von Scotland Yard möchten Sie gerne im Mordfall Hemmingway befragen. Kommen Sie bitte mit.“

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Autorin / Autor: Ann-Katrin Kinzl - Stand: 6. Juli 2010