Mädchensache - Teil 1

von Marianna Glanovitis

1. Ein rätselhafter Fall

Sabine sah aus dem Fenster des Autos. Da lag es. Das Meer!
Es sah so schön aus, zwischen den weißen Felsen! Als wäre die Sonne selbst baden gegangen!
Oh, wie sie Cres in München vermisst hatte, als sie aus ihrem Fenster nur die schmutzigen Häuser der Großstadt gesehen hatte.
Und Lea, ihrer Schwester, ging es sicher nicht anders! Nirgendwo konnte man besser Verstecken spielen als zwischen den Felsen, nirgendwo besser Höhlen erkunden. Cres war eine Trauminsel.
Es gab so viele versteckte Buchten und Höhlen, die man nur vom Meer aus sehen konnte. Es war einfach herrlich!
Endlich glitt das Auto durch den dichten Steineichenwald über den Kies auf den Stellplatz.
Sie waren ganz verschwitzt und müde von der langen Autofahrt. Sie halfen schnell das Zelt aufzubauen und fragten dann sofort, ob sie nachsehen durften, ob Sara da war.
Sie hatten Sara vor ein paar Jahren auf dem Campingplatz kennen gelernt und seither waren sie die besten Freundinnen. Seit einem Jahr hatten sie Sara nicht mehr gesehen, denn Sara wohnte in Berlin.

Lea und Sabine kamen atemlos am Dauerstellplatz von Saras Eltern an. Sara stürzte aus dem Wohnwagen und begrüßte sie stürmisch. Sie war ganz aufgeregt. Ihre blauen Augen funkelten und die langen, dunkelblonden Haare wehten. Freundschaftlich wuschelte sie Sabine durch die rote Mähne und stupste Lea auf die Nase.
„Los, kommt mit, ich muss euch etwas sagen, aber nicht hier!“, zischte sie und wies auf eine Felsspalte. „Dominik lauscht schon wieder!“, erklärte sie.
Die Mädchen stöhnten auf. Sie alle kannten Dominik, den großen Bruder von Sara, und waren die Nervensäge gründlich leid.


Sie liefen in die Höhle, die sie letztes Jahr immer als Geheimversteck benutzt hatten.
Vorsichtig schoben sie ein paar Dornenranken auseinander und schlüpften hinein. Drinnen ließen sie sich in den weichen Sand fallen und Sara flüsterte:
„Der alten Dame im Wohnwagen nebenan ist gestern Abend ihre goldene Uhr gestohlen worden. Sie ist ganz verzweifelt!“
„Wie konnte es denn dazu kommen?“, erkundigte sich Lea bestürzt.
„Sie ist am Abend noch baden gegangen“, erklärte Sara. „Ihre Uhr ist aber nicht wasserdicht. Deswegen hat sie die Uhr ausgezogen. Als sie zurück kam, war die Uhr verschwunden.“
„Und hast du schon eine Ahnung, wer es sein könnte?“, forschte Sabine aufgeregt.
Sara dachte kurz nach. „Nur einen“, erwiderte sie dann. „Da ist so ein komischer langhaariger Hippie, versteckt sich mit seinem Wohnwagen halb im Wald und will nichts mit den anderen zu tun haben. Ich glaube, er heißt Lukas…“
Sabines Augen blitzten. „Das müssen wir uns ansehen“, lachte sie und ehe sie jemand daran zu hindern vermochte, hatte sie schon die Dornenranken auseinander geschoben und war losgerannt.
„Warte, Sabine“, rief Sara, doch es war vergeblich. Deshalb standen Lea und Sara seufzend auf und liefen ihrer besten Freundin nach...


„Du weißt doch gar nicht, wo es hingeht!“, rief Sara, als es ihr endlich gelungen war, Sabine einzuholen.
„Ist mir egal, den knöpfe ich mir vor!“, fauchte Sabine bissig. „Los, wir haben keine Zeit zu verlieren!“
Sara grinste. Ja, sie war die bissige Art ihrer Freundin gewohnt. Doch sie hatte Recht. Jetzt, wo ihre Freundinnen da waren, hatten sie keine Zeit zu verlieren.
Sie gab nach, weil sie wusste, dass sie gegen Sabine keine Chance hatte.
„Na gut, ich führe euch hin“, sagte Sara seufzend. Sie lief voraus, Sabine, die vor Tatendrang sprühte, dicht auf den Fersen. Doch sie kamen nicht weit. Sie waren noch nicht einmal hundert Meter gelaufen, als neben ihnen die Büsche raschelten und heraus kam... Dominik!
Lea sah ihn nicht und rannte weiter. Bevor eines der Mädchen sie warnen konnte, hatte er schon einen Fuß herausgestreckt und Lea stolperte.
Sie fiel hin und blieb auf den Steinen liegen. Sie hielt sich den Knöchel.
„Spinner“, schrie Sara ihren großen Bruder an. Sie gab ihm eine schallende Ohrfeige und Dominik lief weg.
„Wow, das hat gesessen!“, rief Sabine. „Der kommt so schnell nicht mehr!“
„Wenn ich das genau wüsste, wäre ich froh!“, murmelte Sara verdrossen. „So etwas ist der gewohnt, er bekommt täglich mindestens Eine! Nein, glaubt mir: der lässt sich nicht von ein paar Ohrfeigen abschrecken!“
Sabine hatte sich bisher um Lea gekümmert, die sich offenbar den Knöchel verstaucht hatte.
Gemeinsam gingen sie zu Lukas’ Wohnwagen, fanden ihn aber zu ihrer Enttäuschung leer vor. Offenbar war Lukas ausgegangen. Enttäuscht gingen sie zum Campingplatz zurück.
„Die Sonne geht gerade unter!“, sagte Sara staunend.
„Seht nur, wie schön der Sonnenuntergang ist“, stimmte ihr Lea zu. „Kommt, wir setzen uns auf die Felsen und sehen ihn uns an. Mein Knöchel tut weh!“ Nur zu gerne folgten die Mädchen ihrem Beispiel und setzten sich auf die Klippen.
„Schaut nur!“, rief Lea. Eine Möwe flog auf die untergehende Sonne zu und wurde immer kleiner, bis es schließlich aussah, als wäre sie direkt in die Sonne geflogen.
Langsam, so sah es aus, versank die Sonne im Meer.
Das ersterbende Licht ließ das Meer schimmern als seien tausend kleine Lampen im Meer eingeschlossen.
Staunend betrachteten die Mädchen das Naturspektakel.
„Der Sonnenuntergang ist schön!“, sagte Sara. „Wollen wir uns nicht ein paar Märchen erzählen?“ Sabine stimmte sofort zu. Lea schwieg. Sie wollte nicht zugeben, dass sie keine Märchen mochte. Märchen waren immer so traurig. Sara sah das offenbar als Aufforderung, denn sie fing sofort an.
„Also…“, begann Sara. „An dem Abend, an dem alles begann, zogen dicke, schwarze Wolken auf. In der Nacht war das Gewitter schon in vollem Gange. Donner grollten und nur vereinzelt erhellte ein Blitz die finstere Burg am Ende des düsteren Landes, in dem die erzböse Königin Pareas herrschte…“ Kurze Zeit später lauschte sogar Lea wie verzaubert der Geschichte, die von zwei unsterblichen, verfeindeten Königinnen handelte.
„Und wahrscheinlich leben sie heute immer noch und führen Krieg, bis in alle Ewigkeit“, schloss Sara ihre Geschichte. Lea applaudierte begeistert.
„Super!“, sagte auch Sabine beeindruckt. „Und jetzt bin ich dran!“
Bald darauf erzählten sie um die Wette: eine Geschichte besser als die andere und nach einer Weile machte sogar Lea begeistert mit.
Mit der Zeit wurde es dunkel. Die Sonne war verschwunden und langsam wurde es ihnen zu kalt.
„Mich friert…“, murmelte Lea.
„Ich habe eine Idee!“, sagte Sabine. „Wir können doch den Wohnwagen unseres Verdächtigen beobachten. Jetzt ist es dunkel und er kann uns nicht sehen. In der Dunkelheit können wir uns in Ruhe umsehen.“
„Ja, schon… aber… Na gut, wenn du willst…“, willigte Lea ein. Auch Sara war einverstanden.

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Autorin / Autor: Marianna Glanovitis - Stand: 14. Juli 2010