„Ich habe immer Pfefferspray dabei!“

Wer als Mädchen in Indien allein unterwegs  ist, muss mit sexuellen Übergriffen rechnen. Selbstverteidigungskurse gibt es kaum. Sie gelten als unschicklich. Aber die Inderinnen lernen, für ihre Freiheiten zu kämpfen.

Es ist immer die gleiche unangenehme Situation – stierende Blicke, ein paar obszöne Gesten und schließlich gierige Stimmen. Schon ist das Mädchen umringt von mehreren Männern, die sie anfassen und bedrängen. „Wenn ich alleine unterwegs bin, werde ich bestimmt einmal in der Woche angegangen“, sagt Kinneri. Die 28-jährige Collegelehrerin aus Manipal fügt hinzu: „In den letzten Jahren hat sich die Situation für Frauen in Indien verschärft. Das Land ist gefährlicher  geworden – die Männer sind gefährlicher geworden. Ich habe immer Pfefferspray mit dabei.“

*Zahl der Vergewaltigungen gestiegen*
Tatsächlich sind die Vergewaltigungszahlen in den letzten Jahren angestiegen. Nach offiziellen Angaben werden 1,5 von hunderttausend Frauen vergewaltigt. In den USA sind es 32 von hunderttausend. „Aber das sind nur die offiziellen Zahlen. Die meisten Frauen zeigen Vergewaltigungen gar nicht an. Denn es herrscht immer noch der Mythos, dass die Frauen selbst Schuld sind oder die Vergewaltigung sogar geniessen!“ sagt Kinneri.

*Zum Opfer erzogen*
„Die Frauen und Mädchen Indiens müssen lernen, sich zu wehren und ihre Stimmen erheben!“ fordert die freie Journalistin und Feministin Deepti Priya Mehrotra aus Delhi. „Jungen sind nicht brutal geboren, aber sie werden so erzogen. Mädchen dagegen lernen, dass sie immer sanft, weich, harmlos sein sollen.“ Den Mädchen werde schon von frühem Kindsalter an eingebläut, dass sie keine Muskeln und keine Stärke hätten, um es mit einem Mann aufzunehmen. Selbstverteidigung für Mädchen – ein Tabu auf dem Subkontinent. Die Studentin Ayla erzählt: „Hier in der Universitätsstadt Manipal wurde ein Mädchen vor einem Jahr vergewaltigt. Die Politik der Uni war es, die Mädchenwohnheime nun noch eine Stunde früher zu schließen und niemanden mehr reinzulassen. Auf die Idee, Selbstverteidigungskurse für Frauen anzubieten, sind die gar nicht gekommen. Das gilt als unschicklich.“

Selbstverteidigungskurse für Mädchen

Ein einziges privates Fitness-Studio in der Universitätsstadt bietet Selbstverteidigungskurse an. Trainerin Amita sagt: „Ich trainiere mit den Mädchen auf Kraft. Wenn sie wissen, dass sie hier locker 60 oder 70 Kilo stemmen können, steigt ihr Selbstbewusstsein. Außerdem zeige ich ihnen Tritte.“ Aber fast nur ausländische Studentinnen kommen ins Studio. „Für die indischen Studentinnen gilt unser Studio als unschicklich. Eine Frau, die auf Kraft trainiert, wird nicht mehr als Frau angesehen“, erklärt die Trainerin. Deepti Priya Mehrotra sagt: „Eine Frau, die aufsteht und für ihre Rechte kämpft, wird als unweiblich angesehen.“

*Sie wissen nicht einmal, dass sie unterdrückt werden*
Um für seine Rechte und Freiheiten kämpfen zu können, bedarf es vor allem eines: Diese Freiheiten und Rechte überhaupt zu kennen. Vor allem in den ländlichen Regionen leben viele Frauen und Mädchen fern von Bildung und Freiheit. Mehr als die Hälfte aller Frauen können weder lesen noch schreiben, haben nie eine Schule besucht. Sie leben in Dorfgemeinschaften, in denen die Männer alles dominieren, und in denen Ungerechtigkeit gegenüber Frauen an der Tagesordnung ist. Viele Dörfer haben weder Strom, noch eine Wasserversorgung. Anstelle von Toiletten benutzen die DorfbewohnerInnen ein nahe gelegenes Feld – das von den Frauen nur in der Nacht benutzt werden darf. Viele Frauen trinken deshalb zu wenig und riskieren, krank zu werden – nur weil es ihnen nicht erlaubt ist, die Toilette zu benutzen. Und selbst wenn sie in der Nacht das Feld aufsuchen, sind sie vor Vergewaltigungen nicht gefeit. „Solche Fälle gelangen nie an die Öffentlichkeit“, so Mehrotra, „überhaupt berichten die Medien kaum über Vergewaltigungen und Angriffe auf Frauen. Und wenn, dann werden unsinnige Sicherheitswarnungen herausgegeben.“

*Gut gemeinte Ratschläge unterdrücken die Frauen*
So ließ die Polizei Delhis vor wenigen Monaten Sicherheitsregeln für Frauen in den Tageszeitungen abdrucken. Darin hieß es, Frauen sollten keine einsamen Plätze aufsuchen und auch nicht allein im Dunkeln rausgehen. Sie sollten ihre Routen genau planen, sich stets von Familienangehörigen begleiten lassen und auch immer ein Mobiltelefon dabei haben. „Diese gut gemeinten Ratschläge beschneiden die Freiheiten von Frauen. Frauen haben jedes Recht rauszugehen. Und nicht jede Frau hat Familie, ein Mobiltelefon oder kann ihre Route genau planen. Es ist Aufgabe der Polizei, sicherzustellen, dass es keine einsamen, gefährlichen Plätze gibt,“ sagt die Journalistin.
Aber auch an überfüllten Plätzen sind Frauen nicht vor Übergriffen sicher. Besonders in den überfüllten Nahverkehrsmitteln nutzen Männer die Situation oft schamlos aus. Kinneri erzählt: „Mir ist es schon oft passiert, dass mich ein Mann im überfüllten Bus angegrabscht hat. Aber in der Masse weiß man nicht, wer es war!“ Manchmal hilft da schwarzer Humor, wie ihn Mani Bedi angewendet hat, die täglich zwischen Ghaziabad und Delhi pendelt. Als sich ein Mann schamlos an sie presste, fing sie an zu schreien: „Steck deine Waffe weg!“ Der Busfahrer glaubte, dass der Mann tatsächlich eine Waffe hätte – und warf den Grabscher aus dem Bus.

*Auch Deospray kann eine Waffe sein*
Kinneri rät ihren Studentinnen, sich  körperlich zu wehren. „Pfefferspray ist schwierig zu bekommen. Aber man kann Deospray benutzen, den Angreifer ein Buch auf den Kopf schlagen oder einfach zwischen die Beine treten. Auch Männer sind verletzlich und sie erwarten nicht, dass sich die Frauen wehren.“ Diese Erfahrung hat auch die 16-jährige Lalita gemacht, die in einem Dorf im nordindischen Staat Bihar lebt. Sie nahm an einem UNICEF-Projekt teil, in dessen Rahmen sie eine Schulausbildung erhielt – und sogar Karate lernte. Jetzt arbeitet das Mädchen als Karatelehrerin in ihrem Dorf. Trotzdem versuchten die jungen Männer ihrer Gemeinschaft, die 16-Jährige sexuell zu belästigen. Lalita schlug sofort zu. Damit hatten die Angreifer nicht gerechnet. Sie flehten um Verzeihung.

*Verwirrt und durchgedreht*
Doch warum kommt es immer häufiger zu solchen Übergriffen? Kinneri sagt: „Wir – die jungen Inder und Inderinnen sind eine verwirrte Generation. Wir sind an die Traditionen unserer Vorfahren gefesselt und wollen gerne frei nach westlichem Vorbild leben. Aber wir sind irgendwie alle an die strengen Traditionen unserer Vorfahren gebunden und wollen diese auch nicht aufgeben.“ Verwirrt darüber, was richtig, was falsch ist, aufgewachsen in einer Gesellschaft, in der die Geschlechter streng getrennt und die Frau als weniger wert angesehen wird und aufgeregt über die (sexuellen) Freiheiten, die ein Leben nach westlichem Vorbild bietet – das könnten die Gründe für die immer häufigeren sexuellen Übergriffe sein.  Gleichzeitig müssen die Frauen diesen gesellschaftlichen Umbruch als Chance wahrnehmen, sich zu wehren und freizuschwimmen.

*Frauen, kämpft für eure Freiheit!*
Die Journalistin Mehrotra meint, erst wenn Frauen und Mädchen sich selbstverteidigen und aus der Opferrolle aussteigen, wird sich auch etwas an der Unterdrückung der Frau in Indien ändern. Darum schlägt sie Frauen-Netzwerke vor. „Solange es Jungen erlaubt sein wird, Jungen zu sein, werden Männer gewaltbereit aufwachsen. Wir Frauen müssen endlich lernen, gemeinsam für uns zu kämpfen.“

Autorin / Autor: Tina Groll - Stand: 23. März 2006