Im Land der weißen Schokolade

Autor: Martin Dolejš

Sommer 1980: Kurz vor den großen Ferien erzählen ihm seine Eltern, dass sie aus der Tschechoslowakei fliehen möchten. Martin staunt nicht schlecht, beginnt aber sofort, sich voller Vorfreude auf sein neues Leben in einem schönen westlichen Land mit Meer und Sandstrand vorzubereiten.
Schon hier zeichnet sich der Kontrast ab, den das Buch „Im Land der weißen Schokolade“ so gekonnt zur Geltung bringt. Der Westen erscheint bunt und verheißungsvoll, während es in der Tschechoslowakei nur Pioniere, Drill und grau-beige Männer gibt, die für Martin verdächtig nach Agenten der Staatssicherheit aussehen. Kurz gesagt: nichts, wofür es sich zu bleiben lohnt. Das einzig Bunte ist die Tafel weiße Schokolade, ein ganz besonderer Schatz für Martin und der rote italienische Flitzer, mit dem die Familie fliehen will. Und so machen sie sich auf den Weg…

*Meine Meinung*
Generell ist das Buch sehr schön konstruiert. Es gibt einen tollen Spannungsbogen und obwohl dieser am Ende, ohne zu viel verraten zu wollen, leider zu vorschnell aufgelöst wird, kann man ganz aufgeregt mitfiebern.
Das Buch fängt mitten im Geschehen an. Man wird hinein geworfen in eine vergangene Welt und in eine außergewöhnliche, spannende und lebensverändernde Situation. Teilweise konnte ich mich gar nicht von den Seiten losreißen. Geschickt sind dann auch die vielen kleinen Rückblicke in Martins Leben in der Tschechoslowakei vor der Flucht seiner Familie.
Hier wird kaum geschichtliches Wissen vorausgesetzt, was ich für ein Kinderbuch sehr gut finde. Es wird einfach viel aus dem Alltag eines früheren Ostblockstaates erzählt, und so erfährt man viel über Schule, Erziehung, Pionierorganisation, Essen, Familie- und Freundeszusammenhalt, kurz: eben über alles, was das Leben eines Kindes ausgemacht haben könnte. Durch die kindlichen Augen Martins versteht man dann auch viel der größeren Geschichte.

Leider wird zu wenig auf den Verlust der Heimat eingegangen und die Schwierigkeiten, die ein Neuanfang mit sich bringt. Nur an ein oder zwei Stellen schimmert Martins Traurigkeit im Angesicht dessen durch, was er für die Freiheit zurücklassen muss.
Andererseits haben mir die Passagen besonders gut gefallen, in denen Deutsch gesprochen wurde, was Martin nicht verstehen kann. Diese hat Dolejš sehr gekonnt umgesetzt, sodass man selbst Schwierigkeiten hat, diese neue Sprache zu verstehen und sich so besser in Martins Lage versetzen kann.
Ohne dass Dolejš Gefühle wie das der Einsamkeit oder des Verlorenseins explizit anspricht, gelingt ihm hier ein tiefer Einblick in Martins Gefühlswelt, für den plötzlich alles anders ist und der sich mit niemandem mehr richtig verständigen kann.
Auch Martins Normalität hat mir gut gefallen, denn er kommt anders als andere Protagonist:innen ganz ohne Superkräfte oder besondere Talente aus. Ich denke, man kann sich deshalb so gut mit ihm identifizieren und ist sehr nah bei ihm, seinen Wünschen, Ängsten und Träumen.
Da wäre z.B. Ivanka, die Martins Pioniergruppe leitet und in die er unsterblich verliebt ist, die ihn allerdings überhaupt nicht beachtet. Andere Charaktere wie beispielsweise Martins Eltern wirken jedoch ein bisschen flach, man taucht weniger in sie ein, was natürlich auch der Ich-Erzählweise geschuldet ist. Überhaupt wirken die Erwachsenen in diesem Buch entweder sehr besorgt und überbehüten ihre Kinder, oder sie sind herrisch, kommandieren die Kinder herum und sind schlichtweg gefährlich.

Martins Augen, durch die wir die Geschichte betrachten, verstehen die Welt der Erwachsenen noch nicht gut, decken so aber auch einige Widersprüche in ihr auf. Das wiederum macht ihn für mich glaubwürdig. An einigen Stellen unterschätzt der Autor meiner Meinung nach allerdings junge Leser:innen. Einige Sätze und Situationen sind zu einfach, die Lösungen nach spannungsreichem Aufbau fast schon achtlos dahergebracht. Das finde ich sehr schade und denke, Dolejš könnte den Kindern beim Lesen genau so viel zutrauen wie seiner Romanfigur.

Insgesamt hat mir das Buch sehr gut gefallen und ich kann mir vorstellen, dass man gerade an den Stellen, an denen es Lücken lässt, mit Neugier ansetzen kann, um noch mehr über die Geschichte zu erfahren.

*Erschienen im Magellan Verlag*

Autorin / Autor: Paula - Stand: 26. Oktober 2022