Auf der Bahnhofsbank

Menschenleer war der Bahnhof des Städtchens. Durch die Fenster der Halle konnte man eine weiße Decke über Straßen und Wegen sehen, die aber sicherlich bis morgen wieder geschmolzen sein würde, da die Temperaturen nicht unter, sondern weit über dem Gefrierpunkt lagen. In drei Minuten würde laut Fahrplan der letzte Zug eintreffen, dessen Fahrgäste die drückende Stille wenigstens für ein paar Momente durchbrechen würden. Es war alles genauso wie im letzten Jahr und auch wie im Jahr davor und im Jahr davor. Eigentlich war Weihnachten seit fünfzehn Jahren so. Ob es davor auch schon so gewesen war, konnte Max, der Fahrkartenverkäufer nicht einschätzen, da er zu diesem Zeitpunkt noch an einem anderen Ort gearbeitet hatte. Doch dann hatte es ihn in diesen hübschen Ort verschlagen und seitdem übernahm er jedes Jahr die Schicht über die Weihnachtsfeiertage, da er sowieso niemanden hatte, mit dem er hätte feiern können.

Max stand gerade auf um sich neuen Kaffee zu machen, der ihn etwas wärmen sollte, als der Zug am Bahnsteig hielt. Die Türen öffneten sich, doch zunächst stieg keiner aus. Erst als sie sich schon fast wieder geschlossen hatten, sprang ein Mädchen zwischen ihnen heraus. Aus der Ferne konnte Max sie noch nicht genau erkennen, aber irgendwas störte ihn an ihr. Nachdem er sie noch einmal genauer betrachtet hatte, merkte er, dass sie kein Gepäck bei sich hatte, nicht mal eine Handtasche trug sie mit sich. Das war seltsam für einen Teenager.

Eigentlich dachte Max, dass sie den Bahnhof so schnell wie möglich verlassen wollte, aber stattdessen, setzte sie sich auf die erstbeste Bank und fing an zu schluchzen. Der Fahrkartenverkäufer näherte sich langsam und sah nun, dass sie weinte. Das machte ihn natürlich neugierig, denn es schien ihm, als verbarg sie eine interessante Geschichte.
„Darf ich mich zu dir setzen?“, fragte er als er genau vor der Bank stand. Das Mädchen hob nur kurz den Kopf und nickte dann. Ihr braunen Locken hingen über ihre Schultern und verdeckten das ganze Gesicht.

„Was ist denn mit dir los? Geht’s dir nicht gut?“
Sie antwortete zwar, aber er konnte zwischen dem Schluchzen nichts verstehen. „Nun beruhige dich erstmal“, sagte er mit ruhiger Stimme, “wie heißt du überhaupt? Vielleicht willst du mir ja auch erzählen, was eigentlich passiert ist, dass du so aufgelöst bist.“ Nach ein paar Augenblicken war das Schluchzen verstummt und sie sagte nur kurz: „Saskia, Ich heiße Saskia.“ Sie sammelte sich noch einen Moment dann berichtete sie, was ihr zugestoßen war: „Ich bin hier, um meinen Freund zu besuchen. Die Weihnachtsfeiertage sollte ich bei ihm verbringen, denn wir sehen uns so selten. Im Zug bin ich dann irgendwann eingeschlafen, da ich die Nacht über wohl zu wenig Schlaf bekommen hatte. Vor drei oder vier Stationen bin ich zum Glück wieder aufgewacht, musste aber feststellen, dass sich über mir nur noch ein leeres Netz befand, in das ich beim Einsteigen mein Gepäck gelegt hatte. Ich bin extra durch die ganze Reihe gelaufen, um zu sehen, ob ich es vielleicht nicht doch wo anders hineingepackt hatte, aber das war leider nicht der Fall. Und jetzt sitze ich hier ohne Handy, Portmonee oder auch nur einem Taschentuch. Eigentlich sollte ich jetzt gemütlich an meinen Freund gekuschelt in seinem Zimmer sitzen, aber stattdessen sitze ich hier auf einer eisernen, eiskalten Bahnhofsbank und weiß nicht wohin.“

Das berührte den einsamen Fahrkartenverkäufer. Aber man musste ihr doch helfen können. „Weißt du denn nicht einmal wo dein Freund wohnt?“ „Nein schließlich war ich noch nie hier. Und eine Wegbeschreibung hatte ich in meiner Tasche, aber die ist ja...“ „Und wie heißt dein Freund? Vielleicht kenne ich ihn ja zufällig.“ Sie schaute ihn ungläubig an, antwortete aber trotzdem: „Er heißt Tom, wird aber von allen nur Red genannt, weil er knallrote Haare hat.“ Max riss die Augen auf. „Red? Natürlich kenne ich den. Ich denke, es gibt kaum jemanden in diesem Städtchen der ihn nicht kennt. Ich weiß sogar, wo er wohnt. Wenn du willst, fahre ich dich hin. Hier passiert sowieso nichts mehr.“

Das Mädchen senkte den Kopf und zögerte. Darauf sagte Max nur: „Keine Angst, ich tue dir nichts. Außerdem kannst du Red ja mal von meinem Handy aus anrufen.“ Vor allem der letzte Teil hatte sie überzeugt und ihr Angst beiseite gefegt, sodass sie zustimmte. 'Dies ist das interessanteste Weihnachten meiner gesamten Karriere. Aber wer weiß, was noch im nächsten Jahr kommt.', dachte sich Max und fuhr Saskia zu Tom, oder besser gesagt Red.

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Autorin / Autor: sanny, - Stand: 4. Dezember 2008