Höre nie auf das Klopfen im Schrank

Großmutters alter Schrank öffnet die Tür zu...

Es war der erste Advent. Draußen wurde es bereits Nacht, und die weihnachtlichen Lichter warfen ihren Schein aus den Fensterscheiben hinaus auf die Straße. Jeder in der kleinen Stadt spürte, dass dies ein ganz besonderer Tag war, obwohl niemand eine Erklärung dafür hatte. Die ersten Schneeflocken fielen sanft vom Himmel hinab auf die Erde. Ayana lag bereits seit drei Stunden in ihrem Bett, als sie wieder dieses geheimnisvolle Klopfen im Schrank hörte. Seit zwei Monaten hörte sie dieses Klopfen nun schon, aber bisher hatte sie nie den Mut gefunden, aus dem Bett zu steigen und die Schranktüren zu öffnen. Es war ein alter Schrank. Ayana hatte ihn vor zehn Jahren von ihrer Großmutter geerbt, als diese eines Tages aus mysteriösen Gründen einfach verschwunden war.

Von Minute zu Minute wurde das Klopfen immer lauter. Mit einem kräftigen Schwung sprang Ayana aus dem Bett. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihr ganzer Körper zitterte und bebte. Ein leichter Luftzug kroch durch das Fenster, streichelte ihre Haut und verschwand wieder durch die Zimmertüre.  Ayana holte ihre Taschenlampe aus dem Nachttisch, und mit vorsichtigen und leisen Schritten näherte sie sich nun dem Schrank. Als sie endlich vor ihm stand war ihr, als sei der Schrank plötzlich größer und dunkler geworden. Sie legte ihre Hände um die Griffe, nahm all ihren Mut zusammen und öffnete die Türen. Es quietschte laut, und ihr Herz schien für einen Moment auszusetzen. Mit der Taschenlampe leuchtete sie vorsichtig hinein, steckte dann ihren Kopf in den Schrank und musste feststellen, dass das Klopfen aufgehört hatte. Es war weg. Mit den Händen durchsuchte sie die Schuhkartons, durchwühlte ihre Kleidungsstücke und stellte sich letzt endlich in den Schrank hinein.

Mit einem Ruck fielen hinter ihr plötzlich die Schranktüren zu, sie rüttelte an den Türen, doch es gab keinen Weg aus dem Schrank hinaus. Ayana wurde ganz schummrig im Kopf. Es war, als wäre ein Nebel im Schrank aufgezogen. Sie konnte Kälte spüren, und schmeckte eine Mischung aus Salz und Zuckerwasser auf ihren Lippen. Das Licht der Taschenlampe flatterte, wurde schwächer, und plötzlich tat sicher der Boden unter ihren Füßen auf und Ayana stürzte in die Tiefe. Ein Schrei entfuhr aus ihrem Mund. Sie versuchte einen Halt zu finden, aber um sie herum war nur Leere und Dunkelheit.

Erst als es bereits wieder Tag war, erwachte Ayana. Sie blinzelte, rieb sich die Augen und war froh, dass das alles nur ein Traum gewesen war. Sie richtete sich auf, ließ ihre Beine über den Bettrand baumeln, und plötzlich schien ihr Herz für einen Moment still zu stehen. Sie sah sich im Zimmer um. Es war nicht ihr Zimmer. Ihr Herz begann wieder zu schlagen, immer schneller und schneller, es raste wie ein wild gewordener Autofahrer. Es war also gar kein Traum gewesen. Sie war tatsächlich in den Schrank gestiegen, sie war wirklich in die Tiefe gestürzt und befand sich nun an einem fremden Ort. Hier war alles so anders. Ayana ging zum Fenster und war erstaunt über den Anblick. Hochhäuser, die zehnfach so groß waren wie bei ihr Zuhause. Es gab keine Autos, stattdessen saßen die Menschen in fliegenden Maschinen.

Wenn Ayana jetzt an das Klopfen dachte, lief ihr ein kalter Schauen über den Rücken. Und es klopfte wirklich wieder. Aber in diesem Zimmer, in dieser fremden Welt, gab es gar keinen Schrank. Es klopfte an der Tür. Ayana wollte sich gerade verstecken, als sich die Tür auch schon öffnete und niemand geringeres plötzlich im Türrahmen stand, als ihre Großmutter persönlich. Großmutter Gerlinde. Ayana stand im Zimmer und sah verwirrt auf ihre Oma, als sie fragte: “Träume ich, Großmutter?“ Doch diese lächelte traurig und sagte: “Nein, mein Kind. Du bist genau wie ich damals dem Klopfen im Schrank gefolgt. Wir befinden uns hier im Jahre 2099. Advent 2099. Dieser Schrank, mein alter Schrank, ist der Schrank der in die Zukunft führt. Du hättest dem Klopfen nicht folgen dürfen, denn es gibt keinen Weg zurück in die Vergangenheit.“

Zur nächsten Adventsgeschichte

Alle Einsendungen

Autorin / Autor: zonneschijn, - Stand: 13. November 2008