Das letzte Weihnachten

Das Christkind feiert seinen 2099. Geburtag...

Es war dunkel, ganz wie es sein sollte. Aber es schneite nicht. Der Mond schien hell am Himmel, bald war Vollmond. Das blasse Licht tauchte die Erde in einen geheimnisvollen Schimmer. Ein Licht, das wie Gold und Silber zugleich erschien legte sich über die Wälder, Berge und Täler, machte einsame Seen zu Spiegeln, in die nie jemand schaute. Es war still dort draußen und das war gut so. Denn wohin hätte das Mondlicht sich sonst zurückziehen sollen und sein ewiges Geschenk verschenken können?

In den Städten gab es keinen Platz. Dort herrschte buntes, wildes Licht. Die Stadt atmete im Takt der dröhnenden Musik. Ein Haus stand dort, zwischen die anderen gedrückt und hilflos in der schweren Luft keuchend. Es war mindestens genauso alt wie seine Bewohner. Das älteste Haus der Stadt. „Seniorenpark“ stand in Großbuchstaben vorne am Eingang. Aber zu dem Haus gehörte kein Garten. Niemand wunderte sich darüber. Es gab keine Gärten hier, in der Stadt.

Ein Kind saß auf dem Fensterbrett und schaute vorsichtig durch die Vorhänge. Es trug ein weißes Kleid. Das war nichts Besonderes. Andere Kinder hatten jetzt auch hübsche Kleider an und warteten mit erhitzten Köpfen, ob ihnen der Mann mit dem roten Mantel wohl auch die neue Modelleisenbahn, das neue vollelektrische Puppenhaus oder den lang ersehnten Computer bringen würde. Das Kind saß dort draußen in der Kälte und bewegte sich nicht. Es zitterte nur. Regen fiel vom Himmel. Feine Tropfen und es war fast wie ein Streicheln auf den blassen Wangen des Kindes.

Das Zimmer war klein, aber alte Leute brauchten ja nicht viel Platz. So erzählten die Eltern den Kindern immer wieder. Versuchten sich zu rechtfertigen. Aber an Weihnachten kamen sie alle. Die ganze Familie. Die zwei erwachsenen Töchter, der Sohn und ihre Familien. Sie passten nicht alle in das Zimmer, mussten im Gemeinschaftsraum unter einem künstlichen Baum feiern. Echte Bäume gab es nicht. Keiner hatte die Zeit sich um den Baum zu kümmern. Vielleicht hatten sie auch alle keine Lust.

Die alte Frau saß alleine in ihrem Zimmer. Sie hatte von dem Gebäck gekostet, dass ihr Sohn mitgebracht hatte und das nicht nach Weihnachtskeksen schmeckte, sondern nach Pappe mit Geschmacksverstärker. Sie hatte von den Getränken probiert, die ihre Töchter mitgebracht hatten. Neuerfindungen, die nicht an Getränke erinnerten, mehr an ein Gift. Cola war auch dabei. Ihre Mutter hatte sich immer darüber aufgeregt, dass alle vom Weihnachtsmann erzählten. Eine Erfindung von Coca Cola. Niemand hatte die Geschichte vom Christkind erzählt und auch bei ihren Kindern war sie nicht angekommen. Niemand glaubte an es. Die Frau war alt und müde. Sie wusste, dass es ihr letztes Weihnachten sein würde.

Das Kind, das dort draußen auf dem Fensterbrett saß, hatte so viel von einem Engel. Es lächelte, aber es war ein wehmütiges Lächeln. Ein einziger Baum stand neben dem Haus. Ein Übrigbleibsel aus einer längst vergessen Zeit. Ein Zweig reichte bis zu dem Fenster. Blattlos, feucht. Die Regentropfen sammelten sich am einen Ende und schließlich tropfte eine einzige, große Träne hinab. Tief, bis sie auf den harten Boden aufschlug. Das Kind beugte sich vor. Weiter, bis man es durch das Fenster sehen konnte. Es blickte auf das faltige Gesicht der alten Frau und für einen Moment kreuzten sich ihre Blicke. Dann schloss sie die Augen und zum ersten Mal seit langem lächelte sie wieder. Die großen Augen des Kindes ruhten noch kurz auf dem stillen Gesicht, dann erhob es sich. Flog dem Himmel entgegen. Wie ein Nebelschleier. Heute feierten die Menschen seinen 2099. Geburtstag und sie wussten es nicht mehr. Es würde der letzte Geburtstag sein. Und ein Kind, das seinem Fernlenkauto hinterhergelaufen war, kam genau in dem Moment an der offenen Tür vorbei. Es sah den weißen Schleier, der langsam in den Himmel stieg und auf einmal hatte es das Gefühl, etwas sehr Wichtiges verloren zu haben.

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Autorin / Autor: islenski.hesturinn - Stand: 10. November 2008