Ein Moment des Nachdenkens

Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet

Er konnte nicht schlafen. Natürlich nicht. Dieser Tag war so reich an Erlebnissen und Eindrücken gewesen. Erinnerungen an die Stadt kamen auf, als er schon im Dämmerzustand war und hielten ihn wach. Hier zwei streitende Leute, da ein Liebespaar auf einer Bank. Ein Obdachloser, der seine Nahrung erbetteln musste, saß mit gefalteten Händen in einer Gasse. Jemand mit Anzug schrie in sein Handy und gab energische Anweisungen. Dann verschwamm alles, wurde flüssig, vermischte sich, wurde undeutlich, zäh und ungreifbar. Ein bewaffneter Mann in Uniform lief schreiend an dem Pärchen auf der Bank  vorbei, während er ein paar Mal in die Luft feuerte. Er stand auf und verließ das Kino, berauscht von dem guten Film.

Fast wäre er eingeschlafen. Er drehte sich einmal um und stieß einen leisen Fluch aus, denn er lag nur noch unbequemer als zuvor. Das war genug! Endgültig! Er stand auf und verließ das Haus. Es war fast tropisch warm draußen, die Luft drückend. Urwald. Mittlerweile musste wohl Tag geworden sein und er hatte nicht geschlafen! Ein wenig verwirrt fragte er sich, warum sich die Welt so verändert hatte.

Plötzlich hörte er einen Hubschrauber. Einem Instinkt folgend, lief er in den Wald. Er konnte sich nicht dagegen wehren. Seine Beine liefen und er bahnte sich mit dem Buschmesser einen Weg durch das dichte Unterholz. Vögel schraken auf und Affen stießen alarmierende Warnrufe aus. Ein kleiner Mückenschwarm machte sich über ihn her. Beim Zuschlagen entdeckte er, dass er in Armeeklamotten steckte. Schüsse fielen. Ein Adrenalinschub gab ihm neue Kräfte. Eine andere Richtung einschlagend durchquerte er nun sumpfiges Gelände und einen Wust aus umgestürzten Baumriesen. Sie waren gefällt worden. Weiter ging es über einen Wasserlauf, in dem Öl trieb, das wie ein Regenbogen schillerte. Langsam entfernten sich die Motorengeräusche des Helikopters, bis sie schließlich vollkommen verstummten. Er setzte sich in seiner jetzt total verdreckten Uniform auf einen Baumstumpf und holte tief Luft und genoss die frische Dschungelluft, die nach Rauch roch. Rauch! Die Alarmglocken läuteten wieder, als die verschiedensten Tiere an ihm vorbeiliefen oder flogen. Er ergriff mit ihnen die Flucht. Er hörte die Flammen knistern, spürte förmlich die Hitze des Feuers, welches sich mit lautem Knacken durch das Holz fraß. Direkt vor ihm stürzte ein Tapir, konnte sich nicht wieder aufrichten. Es durfte nicht so qualvoll im Feuer sterben! Also blieb nur eine blutige Möglichkeit…

All das nahm er wie durch einen Schleier wahr, der sowohl die Augen, als auch die Ohren bedeckte. Dennoch fühlte es sich echt an. Ein seltsames Gefühl alles gedämpft und dennoch geschärft mitzubekommen. Er rannte ununterbrochen weiter. Immer den Tieren hinterher bis er an einen unheimlich großen See kam. Er sah einen Pfad, der an das steil abfallende Ufer führte. Sobald er angekommen war, sah er, wie die Säugetiere alle in Richtung einer leuchtenden Insel schwammen, wohingegen alles, was Flügel hatte, gegen einen starken Wind kämpfte, ehe sie das rettende Ufer erreichten. Er überlegte nicht lang, stürzte sich in die Fluten und schwamm nun seinerseits in langen kräftigen Zügen gegen eine immense Strömung an. Es schienen Stunden zu vergehen, doch das Ufer näherte sich keinen Meter. Der Blick zurück fiel in ein Nichts aus Wasser. Kein Urwald mehr. Vermutlich verdeckte der Qualm seinen Startpunkt. Er hatte keine Wahl, er musste weiter, das Ziel immer im Auge. Das Wasser wurde zunehmend kälter. Keuchend und von Krämpfen geschüttelt, kam ihm der Gedanke, jemanden um Einlass zu bitten, ganz so wie es Kinder tun, denen die Türklinke zu hoch ist. Er hechelte zwischen seinen Atemzügen versuchsweise ein: „Darf ich bitte rein?“

Daraufhin wurde es totenstill, das kühle Nass erwärmte sich und dichter Nebel umfing ihn plötzlich. Eine kopflose Stimme sprach sehr laut und allumfassend: „Wer bist du, dass du um Einlass bittest? Bist du Mann oder Frau?“ Die Antwort wäre ihm fast über die Lippen gekommen, da besann er sich und sagte: „Ich komme als Mensch.“ Er hatte Boden unter den Füßen! „Ha!“, donnerte es „Beweise es oder stirb erbärmlich!“  Ein kurzer Moment des Nachdenkens. Dann zog er sein Langmesser. „Ja, dass beweist allerdings, dass du ein Mensch bist! ... und was für einer… immer mit einer Mordwaffe im Gepäck!“ Das Echo schallte von irgendwoher. Der Boden schien sich regelrecht aufzulösen und er tauchte unter. Mit Armen und Beinen strampelnd, wollte er die Oberfläche erreichen, doch etwas hielt ihn unter Wasser. Der Atemreflex war kaum mehr unterdrückbar. Schwarze Punkte tanzten und verdichteten sich vor seinen Augen. Leuchtend näherte sich der Tapir und rettete ihn vor dem sicheren Tod.

Erst am Ufer kam er wieder zu sich. Allein. Der Strand war so weich. Alles schien zu strahlen. Von angenehmer Wärme umfangen, betrat er den Wald auf einem Pfad. Die Kleidung war verschwunden. Nach kurzer Zeit kam eine Lichtung in Sicht, auf der die wunderbarsten Pflanzen blühten. Die unvorstellbarsten Geschöpfe krochen, liefen, flogen, kreischten, zwitscherten und hüpften umher. In der Mitte stand ein Apfelbaum, an dem ein greiser Mann lehnte. „Tritt näher!“, wurde er von ihm aufgefordert. Er gehorchte, denn der Alte sah sowohl Vertrauen erweckend als auch autoritär aus. „Soso, du bist also ein Mensch…“ Da er nicht wusste, wie er reagieren sollte, nickte er einfach unterwürfig, um den streng wirkenden Mann nicht zu verärgern. „Auf der Erde bezeichnet ihr euresgleichen als intelligent, doch frage ich dich, welches intelligente Wesen hier“, er deutete mit einer weit ausholenden Geste auf alles rundherum „ zerstört seinen eigenen Lebensraum, rottet seine Art selbst aus, fügt anderen aus purer Boshaftigkeit Schaden zu?“ Er zuckte die Achseln, da sich die Antwort ihm nicht erschloss. „Keines!“ sagte der Alte milde. Er stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ihr müsst endlich begreifen! Jeder ist für sein eigenes Handeln selbst verantwortlich! Es heißt zwar immer: Man hat keine Wahl, doch die hat man! Jeder von euch, jeden Tag. Ihr müsst nicht den Befehlen gehorchen, die ihr euch gegenseitig gebt, um euch aus der Verantwortung zu ziehen. Dieses Handeln nach Gesetzen im Bewusstsein, immer das Richtige zu tun, ist kompletter Schwachsinn, denn das, was an dem einen Menschenort gegeben ist, hat an einem anderen schon keine Bedeutung mehr. Ihr widersprecht euch in euren Taten. Hört auf, wissentlich Böses zu tun und das mit Worten zu legitimieren, die vor langer Zeit gefallen sind. Jeder von euch weiß, wie z.B. Gottes Worte gemeint sind und trotzdem dreht ihr sie so hin, wie sie euch gerade Gefallen bringen. Das Morden und Kaputtmachen der Schöpfung im Namen der Gier muss ein Ende finden! Versuche gut zu leben! Nein!!! Lebe gut! Versprich es!“ Ohne zu zögern erwiderte der Mensch: „Ich verspreche es zu versuchen!“

Der Blitz schlug in ihn ein und beförderte ihn umgehend ins Nichts.
Schweißgebadet fuhr er hoch, blinzelnd, da das Zimmerlicht angeschaltet war. „Was ist denn, Schatz?“, fragte seine Frau besorgt. „Wir müssen verantwortungsvoller leben!“, war die Antwort. „Aber wie?“, fragte sie verwundert zurück. „So, dass wir etwas Besseres hinterlassen, als wir vorfanden.“, meinte er geheimnisvoll und hatte damit wahrscheinlich Recht.

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Autorin / Autor: JON, 16 Jahre - Stand: 14. Juni 2010