Niemand ist schuld!

Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet

»Hörst du mir zu, Emily?«
»Ich bin nicht Emily.«
»Wer bist du dann?« fragte der Psychologe. Er wusste nicht ob er diese Frage bereits hundert, oder eher tausend Mal gestellt hatte.
»Niemand« antwortete das Mädchen mit den sanften grauen Augen ihm gegenüber.
»Wieso?«
»Das ist mein Name. Niemand.«
Der Psychologe kniff seine Augen nachdenklich zusammen und verlagerte sein Gewicht auf dem abgegriffenen Stoff seines Stuhles.
»Hat dich deine Schwester früher so genannt?«
»Ich habe keine Schwester.«
Der Psychologe schluckte lautlos und blickte aus dem Fenster. Seine Gedanken kreisten. Was konnte er noch tun? Er beschloss einen anderen Weg einzuschlagen.
»Kannst du mir sagen wer der erste Präsident der Vereinigten Staaten war?«
»George Washington« antwortete das Mädchen sofort.
»Und welcher Berg ist der höchste der Erde?«
»Der Mount Everest.«
»Was für einen Beruf hat dein Vater?«
Ihre sanften Augen weiteten sich zur Ratlosigkeit.
»Kannst du dich noch an deine Schildkröte April erinnern.« fragte er.
»Ich weiß nicht wovon Sie reden. Kann ich jetzt gehen?«
»Wäre es dir lieber wenn wir diese Unterhaltung zu einer späteren Zeit weiterführen?«
Sie nickte.
»Kannst du dich wirklich nicht mehr an deine Schwester Scarlett erinnern?«
Da war ein Knarren in ihrem Kopf. Ein Knarren, unerbittlich, gleich einer Tür, die sich nach Jahren das erste Mal rührte. Hastig schüttelte sie ihren Kopf. Halb um die Frage zu verneinen, halb um ihren Kopf wieder zu leeren.
Sie kannte keine Scarlett.
Sie verließ den Raum und lief durch den Korridor hinaus in den Park. Rechts von ihr saß ein Dutzend Personen auf Hüpfbällen, die versuchten sich im Kreis zu bewegen. Links spielten zwei Frauen Federball, dahinter ein alter Mann, der von einem Anderen in weiß geführt  wurde.
Die vollkommene Leere in ihrem Kopf ließ sie immer weiter geradeaus laufen. Nichts um sie herum hinterließ einen Abdruck. Nur ein Wort in dieser Leere, wie ein Mantra,
»Niemand. Niemand. Niemand. Niemand.«
Sie hatte mittlerweile die Steinmauer des Parks erreicht. Dieser folgte sie. Immer weiter, immer weiter.
Sie stoppte an einem riesigen Eisentor. Mit hoher Geschwindigkeit raste ein Fahrzeug an ihr vorbei und kam quietschend vor dem Hauptgebäude zum stehen. Jemand sprang aus dem Wagen und weitere weißgekleidete Menschen kamen aus dem Eingang gerannt.
Das Quietschen des Autos hallte in ihrem Kopf wieder. Immer und immer wieder, bis sie nichts anderes mehr wahrnahm. Ein unendliches quälendes Geräusch. Dann, zwei riesige, helle Scheinwerfer, die aus der Dunkelheit auf sie zurasten. Panik!
Das Mädchen lief den Weg entlang der Mauer verzweifelt zurück, wie um das Gesehene rückgängig zu machen. Um die Abfolge der Bilder in ihrem Kopf zu stoppen. Doch sie blieben und vervielfachten sich. Zeitlupe. Wiederholung. Zwei grelle Aufschreie. Ein weiteres Quietschen, Metall kratzte über Stein und ein dumpfer Schlag.
Dann herrschte wieder Stille. Doch es war keine friedvolle, leere Stille wie sie es gewohnt war. Die Stille war voller Emotionen.
Sie schüttelte verzweifelt ihren Kopf, doch es half nichts. Das Knarren der Tür stoppte. Sie war offen. Die dahinter gestauten Bilder brachen sich Bahnen.
»Scarlett? Scarlett!« Mein verzweifelter Schrei in der Nacht.
Niemand antwortete mir.
Ich nahm den Rest der Szenerie war. Die zerbrochene Windschutzscheibe, das noch immer grünlich leuchtende Handy auf meinem Schoß, das Blut das über Scarletts Hände lief, die nach oben gebogene Kühlerhaube und die riesige Glasscherbe, die aus Scarletts Brust ragte.
»Scarlett« schluchzte ich und schüttelte meine Schwester auf dem Beifahrersitz. Ihre blauen Augen öffneten sich langsam und trafen auf die meinen.
»Emily. . . Ems. . .« flüsterte Scarlett.
»Es tut mir so leid!« flüstere ich tonlos und spürte wie mir Tränen über die Wangen liefen. »Das wollte ich nicht!«
»Es war nicht deine Schuld.« antwortete Scarlett mit schwacher Stimme »Die Scheinwerfer... Der Truck. . .«
»Aber ich habe nicht aufgepasst. Ich hätte besser aufpassen müssen. . . Das Handy. . .« meine Stimme erstickte in Schluchzern.
»Ich liebe dich Emily.«
»Nein! Bleib bei mir! Du darfst nicht sterben! Ich lasse dich nicht sterben! Wir gehören zusammen, du bist meine Schwester!«
»Du warst nicht hier Emily! Niemand war hier außer mir! Niemand war hier! Niemand hat einen Fehler gemacht! Niemand ist verantwortlich! Niemand ist Schuld!«
»Nein. . . nein« weinte ich verzweifelt.
»Es war nicht deine Schuld. . . Niemand ist schuld. . . Ich. . .«
Ich blickte in ihre blauen Augen. Sie waren leer, sie wurden starr.
»Niemand ist schuld.«

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Autorin / Autor: Consuelo Anna Treffert, 18 Jahre - Stand: 14. Juni 2010