Eine märchenhafte Begegnung

Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet

Im Mondlicht weiß schimmernde Hände bahnten sich ihren Weg durch das Dunkel der Nacht. Sie ertastete weiche Grashalme unter ihren Handflächen und spürte den Windhauch auf ihrer Haut. Ganz leise und sacht wie eine Katze strich sie durch das hochgewachsene Gras und atmete die kühle Nachtluft ein, die nach Sommer und Lavendel roch. Es fühlte sich an wie damals, als sie noch ein Kind war und im Garten ihrer Großeltern spielte. Lang war es her, als die Welt noch eine faszinierende Landschaft gewesen war, die es zu entdecken galt. Und noch viel länger war es her, als die Welt noch nichts von ihrer Fantasie und ihrer Mystik verloren hatte. Damals hatte sie allerhand fantastische Gestalten im hohen Gras ihrer Großeltern gesehen.
Sie erinnerte sich daran, wie sie eine Audienz mit der Feenkönigin höchstpersönlich gehabt hatte, wie sie mit einem rothaarigen Kobold die Geheimnisse der Wälder und ihrer Bewohner entdeckte und wie sie mit ihrer damaligen Katze Mia auf Suche nach Froschkönigen gegangen war.
In diesen Erinnerungen versank sie, schloss die Augen und legte sich in das feuchte dunkle Gras. Plötzlich hörte sie ein dumpfes Geräusch, wie ein hölzernes Knarzen, als hätte jemand einen Schrank geöffnet und ihn nicht wieder geschlossen.
Einige Minuten vergingen, da vernahm sie das Geräusch abermals. Dieses Mal war es ein wenig leiser, dafür aber langgezogener. Was mochte es sein und woher kam es?, fragte sie sich und öffnete die Augen. Über ihr war nichts als das helle Licht des Mondes und ein paar Sterne zu sehen. Sie wollte die Augen gerade wieder schließen, als ihr etwas in der Nase kribbelte und sie musste niesen. Als sie die Augen wieder öffnete, flog ein winziger leuchtender Punkt hektisch vor ihrem Gesicht herum, der nicht ruhen wollte. Bei genauerem Hinschauen, entdeckte sie winzige kleine Libellen Flügelchen und feine, hauchdünne Gliedmaße.
Sie rieb sich die Augen. Das konnte doch nicht sein…, dachte sie und schaute noch einmal genauer hin. Doch es bestand kein Zweifel: Der leuchtende Punkt schien ein menschenähnliches Wesen zu sein, mit einem Kopf, einem Gesicht und langen goldenen Haaren. War das etwa eine Elfe? Das winzige kleine Geschöpf winkte mit ihrer zerbrechlichen kleinen Hand und signalisierte ihr, dass sie ihr folgen sollte. Sie blickte sich um, doch außer dem kleinen leuchtenden Punkt, der nun von ihr weg flog, war sonst nichts zu sehen.
„Warte“, rief sie und folgte dem kleinen leuchtenden Geschöpf, welches sich immer weiter von ihr entfernte. Sie hatte Mühe dem kleinen Wesen zu folgen und dabei möglichst nicht zu stolpern. Gerade als sie dachte es eingeholt zu haben, hatte sie es schon wieder aus den Augen verloren. Sie suchte in der Dunkelheit nach dem leuchtenden Punkt, doch sie konnte ihn nicht finden.
„Mist“, murmelte sie. Doch aufgeben wollte sie noch nicht. Sie musste herausfinden, was dieses kleine Geschöpf war und woher es kam. Sie suchte weiter und gelangte an einen kleinen See,  auf dessen Wasseroberfläche das Licht des Mondes und der Sterne glitzerte. Sie versank in der wunderschönen Spiegelung des Mondes und gerade als ihre Hand das Wasser berührte, sah sie nur ein paar Zentimeter von ihrer Hand entfernt, den leuchtenden Punkt, der diesmal etwas ruhiger über der Wasseroberfläche flog. Kaum hatte sie das Wesen entdeckt, schon winkte es ihr abermals zu und entfernte sich vom Wasser.
„Hey, warte auf mich!“, rief sie zu dem Wesen, doch dieses flog immer weiter durch die Luft und verschwand schließlich in einer hochgewachsenen Hecke, die einem Privatgrundstück angehörte.
Nun war sie verzweifelt. Was mochte sich hinter dieser Hecke verbergen und wie sollte sie nur hinüber gelangen? Da erblickte sie eine kleine Leiter, die halb in der Hecke versteckt war, deren Ende jedoch deutlich herausragte. Sie zögerte keinen Augenblick, nahm die Leiter und lehnte sie gegen die Hecke. Mit einem mulmigen Gefühl kletterte sie die Leiter hinauf und blickte auf die andere Seite der Hecke. Doch es war zu dunkel, um zu erkennen, was sich genau auf diesem Grundstück befand. Das einzige was sie sah, war ein altes Gartenhäuschen aus Holz, dessen Tür angelehnt war und aus dessen Spalt dünne goldene Lichtstrahlen drangen. Sie traute ihren Augen nicht. Aus diesem winzigen Türspalt kamen noch mehr leuchtende Punkte, die einen Tanz aufzuführen schienen und in einem Reigen flogen. Sie rieb sich die Augen. Waren das wirklich Elfen? Das kann nicht wahr sein, dachte sie, das müssen Glühwürmchen sein!
Gerade als sie im Begriff war über die Hecke zu klettern, um noch näher an das Gartenhäuschen mit seiner angelehnten Holztür zu gelangen, hörte sie aus der Ferne die Stimme ihrer Mutter rufen. „Hannah, wo bleibst du?“
Sie war unentschlossen was sie tun sollte. Sie starrte wie paralysiert auf das goldene Licht, dass sich seinen Weg durch die Dunkelheit bahnte und war fasziniert von den leuchtenden und tanzenden Gestalten, die sich davor befanden.
„Ich komme sofort…“, murmelte sie. Sie wusste genau, dass es manchmal besser war, die Gegenwart so zu lassen wie sie war. Doch manchmal war es auch besser, den Sprung ins Ungewisse zu wagen, um festzustellen, dass einem eine komplett neue, andersartige Welt offen stand.
Diese Entscheidung musste sie alleine treffen. Und so wagte sie den Sprung ins Ungewisse, kletterte über die dunkle Hecke, lief durch das hochgewachsene Gras, welches im Mondlicht wie ein silbernes Meer schillerte und rannte auf die schwere Holztür zu. Mit vor Aufregung feuchten Händen umschloss sie den eisernen Griff der Tür, aus der sie eben noch die Glühwürmchen – oder waren es doch Feen? – fliegen sah. Ihr Herz pochte wie noch nie zuvor. Sie atmete tief ein und mit einem Schwung öffnete sie die Tür, welche den Blick frei gab - zu der gleißenden Mittagssonne an einem Tag im Juli. Hannah blinzelte verschlafen und musste ungläubig feststellen, dass sie sich im Auto ihrer Eltern befand, auf dem Weg in den langersehnten Urlaub nach Frankreich.

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Autorin / Autor: juniper-pearl, 18 Jahre - Stand: 14. Juni 2010