"Zusammen sind wir am stärksten"

Wie kann wieder Selbstliebe wachsen nach einer Missbrauchserfahrung? Unsere Autorin hat lange darüber nachgedacht, ob sie diesen Artikel veröffentlichen will, aber sie möchte anderen mit einer ähnlichen Erfahrung helfen, wieder klar zu kommen

Eine kluge Frau sagte einmal zu mir, dass Erfolg nur von der Wiederholung dessen kommt, was du liebst. Aber Erfolg ist nicht gleich Erfolg. Für manche ist es Geld oder Macht. Der einzige aktuelle Erfolg für mich ist das Teilen meiner Geschichte, um anderen und mir selbst Hoffnung zu geben. Ich versuche schon seit vier Jahren, darüber zu schreiben. Es haben mir nur immer die Worte gefehlt, es zu beschreiben und die Stärke, um es durchzuhalten.
Warum schreibe ich ausgerechnet jetzt darüber? Vielleicht weil ich keinen anderen Ausweg sehe. Anstatt alles raus zu schreien, verpacke ich es in Worte. Das macht es kontrollierbar. Ich schreibe es nun klar und deutlich: Mein erster Freund hat mich sexuell missbraucht. Einmal, aber schlimm genug. Ich sehe ihn jeden Tag in der Schule und sitze teils nur drei Meter von ihm entfernt. Ich werfe ihm keine böse Absicht vor. Das ist aber auch alles, was ich ihm zugestehe. Auch an Aufmerksamkeit in diesem Text. Hier geht es um mich und all diejenigen, die diesen Text lesen.

Im Moment ist es schlimm. Ein Satz der nicht besonders viel über meine Situation preis gibt, aber irgendwie schon fast alles sagt. Eben besagter Mensch hört auf, den bisher immer eingehaltenen Abstand einzuhalten. Er setzt sich dazu. Hat mich sogar einmal angesprochen. Die Grenze zwischen uns besteht buchstäblich nur noch aus einer schlanken Achtzehnjährigen, die zwischen uns sitzt. Für die meisten kein Problem. Mich macht es wahnsinnig vor Angst.
Dazu kommen noch andere Probleme. Dinge die so ziemlich jeden auf der Welt betreffen. Bald drei Jahre Pandemie und Krieg in der Ukraine. Ein demokratisches Land, dem von einem Irren die Freiheit entrissen wird.
Davon abgesehen ist meine Mutter so schwer psychisch erkrankt, dass sie im Keller wohnt, weil sie nicht in die Klinik will. Keine Sorge, unser Keller ist fast wie ein zweites Wohnzimmer eingerichtet, und sie ist in ärztlicher Behandlung. Dazu kommt noch meine persönliche Angststörung, die mehr oder weniger ihr eigenes Ding durchzieht. Und ganz nebenbei mache ich noch Abitur.

Trotz all dieser Dinge stehe ich jeden Morgen auf, trinke meinen viel zu süßen Kaffee und fahre in die Schule. Ich setze mich in den Unterricht, dem ich aktuell mehr oder weniger folge (jetzt gerade habe ich Englisch), dann fahre ich nach Hause und mache Sport, esse und falle völlig erschöpft ins Bett. Meistens habe ich Alpträume. Manchmal sind die Tage gut und manchmal nicht. Jedes extremere Gefühl lässt mich zurück in mein Trauma kippen, und da wieder raus zu kommen, ist mit einer immensen Kraftanstrengung verbunden.

Und im Moment habe ich viele extreme Gefühle und alles ist wahnsinnig intensiv. Einen Vorteil hat es jedoch, so zu fühlen. Die wenigen wirklich schönen Momente, wie die Sonne auf der Haut zu spüren oder zu laufen, sind ebenso intensiv. Für diese Momente lohnt es sich weiter zu machen. Sie gleichen etwas von den Tagen aus, an denen ich nur da sitze, ins Leere stiere und mein ganzer Körper unkontrollierbar zuckt. Einigen von euch dürfte dieser Zustand bekannt vorkommen.

Doch wenn ich jetzt gerade genauer an diese Momente denke, merke ich, dass ich über diese überhaupt nicht schreiben will. Diejenigen unter euch, die Überlebende sind, wissen allzu gut, wovon ich rede, und denen, die es nicht wissen, kann es auch kaum begreifbar gemacht werden. Es ist ein reines physisches und psychisches Erleben, dass sich praktisch nicht in Worte fassen lässt. Am besten einfangen könnte ich es mit der Beschreibung von der Verletzung des innersten Menschseins. Viel schlimmer und tiefgehender als alles andere. Es ist das, was uns tief in uns ausmacht.

Aber wenn ich darüber gar nicht schreiben will, worüber dann? Vielleicht darüber, wie ich damit umgehe in meinem Alltag. Ein how to survive für mich selbst und vielleicht auch für jemanden da draußen.

Erster Punkt: das richtige Gefühl

Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber mir hat ganz am Anfang, vor vier Jahren, kein Gefühl mehr geholfen, als die Wut. Helle, gleißende Wut. Ignoriert die Schuldgefühle! Für das, was passiert ist, könnt ihr nichts. Egal wer euch das sagt oder ob ihr es euch selbst einredet: Es ist nicht eure Schuld!
Zu meinem großen Glück konnte ich schon immer sehr gut auseinander halten, für was ich in meinem Leben Verantwortung oder sogar Schuld trage oder nicht. Die Bücher nicht rechtzeitig in die Bibliothek zurückgebracht und deshalb Bußgeld angehäuft? Definitiv meine Verantwortung. Dafür, was mir an Missbrauch passiert ist, trage ich aber definitiv keine Schuld oder Verantwortung.
Schafft man es, seine Wut in die richtigen Bahnen zu lenken, kann sie einen aus dem Sumpf herauskatapultieren, indem man zu versinken droht. Vor vier Jahren war es der Gedanke, dass ich mir mein Leben und auch meine Freiheit und die Kontrolle über meinen Körper Stück für Stück wieder zurück erobern werde. Heute ist es der Gedanke daran, dass ich das, was ich mir wieder aufgebaut habe, nicht wieder wegnehmen lasse. Sucht euch eine Kleinigkeit, an der ihr euch festhalten könnt und dann die nächste und die nächste. Holt euch so Stück für Stück euer Selbst zurück. Dies führt mich zu meinem nächsten Punkt.

Zweiter Punkt: die richtigen Menschen

Wie weiter vorne im Text bereits erwähnt, ist mein aktuelles Umfeld nicht wirklich stabil, und die Menschen, mit denen ich vor vier Jahren geredet hätte, sind wegen des einen oder anderen Umstands für mich nicht wirklich zugänglich. Das ist nicht böse gemeint. Sie haben wirklich ihre eigenen Probleme, und eigentlich möchte ich gar nicht darüber reden. Ich denke, ich bin nicht die einzige, der es so geht. Darüber zu sprechen ist extrem unangenehm. Es fühlt sich an, als ob man seine verwundbarste Stelle preisgibt, und es kann sogar triggern. Trotzdem. Es ist unfassbar wichtig darüber zu reden! Sonst ist man ganz auf sich gestellt und bekommt keine Hilfe. Hilfe, die einem zusteht.

Am besten sind Personen, denen man vertraut und die einem Sicherheit und Stabilität bieten. Mach klar, dass du die Kontrolle in diesem Gespräch hast und es jederzeit beenden kannst. Du musst keine Fragen beantworten, auf die du nicht antworten willst. Natürlich wäre eine Therapie am besten. Therapieplätze sind hier in Deutschland aktuell allerdings ziemlich rar und man muss häufig lange warten. Eine weitere Möglichkeit wären Vertrauenslehrer, falls du noch Schülerin oder Schüler bist. Häufig haben sie gute Verbindungen zu Organisationen wie der Caritas oder anderen Frauenberatungsstellen. Natürlich können dir auch Menschen aus deinem Umfeld helfen. Mama, Papa, Geschwister oder sehr gute Freunde.

Bei mir sind es aktuell mein bester Freund und mein fester Freund. Ja ich führe eine Beziehung. Es kann funktionieren, wenn man sich den richtigen Partner sucht. Wie ich das gemacht habe? Ich habe gewartet. So lange bis ich das Gefühl hatte, ich kann wieder jemanden so an mich heranlassen, und dann habe ich nach dem Gegenteil von meinem Exfreund gesucht und habe es gefunden. Einen lieben, aufmerksamen Mann, der mich versteht und denselben Humor hat wie ich. Es kann funktionieren. Man muss sich nur Zeit lassen. Es ist wichtig, deine Grenzen zu kommunizieren und die Grenzen des Partners zu respektieren. Das gilt übrigens auch für Männer und jedes andere Geschlecht. Respektiert und achtet eure Partner und guten Freunde.

In Kontakt mit anderen Menschen zu bleiben hat mir geholfen. Egal wie unangenehm es war oder ist darüber zu sprechen, nur so bekommt man Hilfe und eine gewisse Form von Erleichterung. Trotzdem war für mich ein Rückzugsort immer wichtig. Meinen bevorzugten Rückzugsort musste ich mir zurück erobern. Mein Zimmer, in dem mir viele schöne aber auch eine sehr sehr schlechte Sache passiert ist.

Dritter Punkt: mein Körper

Mit vierzehn Jahren hat mir eine meiner besten Freundinnen gesagt, sie müsse hungern, um dünn zu bleiben. Mit vierzehn! Mir ging es lange Zeit leider genauso. Es gab mir die Kontrolle zurück, die ich durch den Missbrauch verloren hatte, und damit bestrafte ich meinen Körper für etwas, wofür er nichts konnte: Mein Körper zu sein. Zum Glück habe ich noch ganz knapp die Kurve gekriegt und nie eine richtige Essstörung entwickelt.
Um euch einen guten Rat zu geben: fangt nicht mit so was an! Bestraft euch und euren Körper nicht, egal wie schlimm es ist. Erfahrt lieber, was er für ein Geschenk sein kann. Mich hat laufen gehen gerettet, und es rettet mich jede Woche aufs Neue. Laufen hat mich meinen Körper auf positive Art und Weise erfahren lassen. In diesen kurzen Abschnitten der Woche hat er wieder ganz mir gehört. Es war fantastisch, jeden Muskel im Körper zu spüren und den Schweiß auf meiner Haut.
Nicht jeder muss laufen gehen, aber Sport kann einem das Gefühl für den eigenen Körper zurückgeben, und wenn es nur ein paar Sit-Ups sind. Selbstakzeptanz und irgendwann Selbstliebe, für deinen Körper und auch für dich selbst, sind wichtige Schritte im how to survive. Das ist nicht einfach und scheint häufig unmöglich. Ich spreche da aus Erfahrung. Meiner Ansicht nach bin ich auf einem guten Weg, aber falle noch häufig über Stolpersteine, wie zum Beispiel die seltsame Regel, nur einmal täglich Süßigkeiten zu essen. Ansonsten versuche ich, Verzicht zu üben. Das ist etwas problematisch, wie ich finde, aber wenn ich jetzt genauer darüber nachdenke, wird mir bewusst, dass ich in dem Punkt viel weiter bin als noch vor drei Jahren. Wenn ich ein Fazit ziehen sollte, wäre es etwas wie: lerne deinen Körper und dich selbst zu lieben. Verzeihe dir und deinem Körper und sammle mit ihm schöne Erlebnisse, wie mit einem guten Freund.

Wenn ich hier schon lang und breit über Selbstliebe und Körper rede, muss ich auch über DAS Thema schreiben. Sex. Wer damit Probleme hat, sollte diesen Teil überspringen. Fast vier Jahre lang und in aktuellen Situationen, die mich zurückkippen lassen, fühle ich meinen gesamten Geschlechtsapparat gar nicht. Es ist wie eine Leerstelle in meinem Körper. Trotzdem habe ich ein Sexleben. Ich würde euch, genau wie bei einer Beziehung, raten, nicht frühzeitig damit anzufangen. Für mich ist es ein absoluter Vertrauensbeweis.
Die letzten Male waren jedoch auf meiner Seite etwas verkrampft. Nicht, weil ich etwas getan habe, was ich nicht wollte, sondern weil die Situation in der Schule dazu führt, dass ich viel empfindlicher und auch angespannter bin. Sowieso bin ich beim Sex sehr schmerzempfindlich. War ich allerdings schon immer. Mit meinem ersten Freund habe ich das nie kommuniziert, was schmerzhaft war. Deshalb mache ich es jetzt anders oder versuche es zumindest. Manchmal sage ich trotzdem nichts. Damit sollte ich aufhören. Schmerzen beim Sex sollten nicht sein. Sagt Stopp, wenn ihr  welche habt.
Doch bevor ich überhaupt wieder an Sex denken konnte, musste ich neu lernen, mich selbst zu berühren. Allein die Vorstellung von körperlicher Nähe hat mich in Panik versetzt. Das wichtigste, was ich bezüglich meines Körpers gelernt habe, ist mir Zeit zu lassen und dass es okay ist, wenn nicht alles wieder auf Anhieb funktioniert.
Für den Kontakt zu Menschen, denen du erlaubst deinen Körper zu berühren und mit dir zu schlafen, ist das Thema Kommunikation und Grenzen wahnsinnig wichtig. Über meinen Körper und Körper im Allgemeinen könnte ich noch sehr viel mehr schreiben. Über Puppen, die schon kleinen Kindern vermitteln sollen, wie sie auszusehen haben und den Unterschied zwischen gesund und dünn sein…, aber andere, mir wichtige Punkte würden dadurch zu kurz kommen.

Vierter Punkt: Feminismus

Ja. Ich bin Feministin. Muss es deshalb allen Frauen und Mädchen, die sexuellen Missbrauch erfahren haben, genauso gehen? Jain. Niemand muss sich mit einem Label betiteln, mit dem er oder sie sich nicht wohlfühlt und auch nicht seine komplette politische Einstellung über den Haufen werfen oder dazu übergehen, allen Männern Rache zu schwören. Zumal ich sowieso der Ansicht bin, dass Rache nehmen zu wollen an einem ganzen Geschlecht, nie zu Frieden und Gleichheit führen wird. Das ist ein unreflektiertes Verhalten, obwohl ich den Impuls sehr gut verstehen und nachempfinden kann.
Aber Rache ist für mich kein Feminismus. Feminismus ist für mich das Reflektieren der Gesellschaft und der Zusammenhalt zwischen Frauen. Das Akzeptieren von Unterschieden zwischen uns allen und das gemeinsame Kämpfen gegen Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Es ist okay, wenn nicht alle Feministin werden wollen. Niemand kann euch dazu zwingen, aber der Zusammenhalt zwischen Frauen ist eine kostbare Sache und kann helfen, sich nicht alleine zu fühlen und Menschen zu finden, die dich verstehen. Bei mir war es so. Als ich mein erstes richtig feministisches Buch gelesen habe, hatte ich auf einmal das Gefühl, nicht mehr alleine zu sein.

Ich kann mit Männern und Frauen über Missbrauch reden und auch über meinen. Was allerdings daran liegt, dass sie eine gewisse politische und menschliche Grundeinstellung mitbringen und sehr empathisch veranlagt sind. Sie verstehen, wie vorsichtig man mit diesem Thema umgehen muss und können mich trotzdem bestärken. Ich habe auch weibliche und männliche Vertreter in meinem familiären Umfeld, mit denen ich kaum darüber reden kann und es auch nur mache, wenn es um reinen Informationsaustausch geht.

Kommen wir zurück auf den Feminismus. Je schlechter es mir geht, desto intensiver beschäftige ich mich damit und desto mehr Bücher lese ich darüber. Es gibt mir das Gefühl, stark zu sein. Hier muss ich jedoch eine kleine Warnung einfügen für diejenigen, die zu dem Thema noch nicht so viel gelesen haben. Feministische Literatur kann harter Tobak sein. In den meisten Büchern geht es unter anderem um Gewalt gegen Frauen. Sucht euch jemanden, der sich damit auskennt und euch gute Empfehlungen geben kann.

Fünfter Punkt: die kleinen Dinge

Jeder Tag ist etwas Besonderes, auch wenn er scheiße ist. Es sind Kleinigkeiten, wie der Geschmack des ersten Kaffees oder Tees am Morgen, Menschen die man trifft oder nicht trifft. Ein schlechter Tag kann etwas aufgehellt werden durch den ersten Schmetterling des Frühlings, den ihr auf dem Weg nach Hause seht. An kleinen, schönen Dingen im Alltag kann man sich festhalten. Haltet die Augen nach ihnen offen und ihr werdet sie überall finden. Sie sorgen dafür, dass sich das Leben wieder ein wenig lebenswerter anfühlt. Und wenn ihr wirklich nichts findet, versucht selber dafür zu sorgen. Ich empfehle hier, solange zu tanzen, bis man glücklich und erschöpft auf seinem Bett zusammenbricht.

In der Zeit, in der ich diesen Artikel geschrieben habe, sind Wochen vergangen und einiges hat sich getan. Die Schule hat sich eingeschaltet und ein Vertrauenslehrer hat mit ihm gesprochen. Er hält wieder Abstand. Ich muss noch nicht einmal meine Abiprüfungen mit ihm schreiben, wenn ich das nicht will. Mir geht es besser. Ich bin noch nicht stabil, und das wird auch noch etwas dauern, aber es wird jeden Tag etwas einfacher. Jetzt am Ende möchte ich sagen, ihr seid nicht alleine, und ihr seid stärker als ihr glaubt. Das gilt für uns alle. Egal, welche Erfahrungen wir gemacht haben. Zusammen sind wir am stärksten.

Autorin / Autor: Freie Frau - Stand: 31. März 2022