Wo ist die Zeit geblieben?

Nutzer_innen verlieren die Außenwelt aus dem Blick, wenn sie in sozialen Netzwerken scrollen

Wer ein gutes Buch liest, kennt das Gefühl, dass die Welt außerhalb aus dem Fokus gerät und man Zeit und Raum vergisst. Ähnliches passiert auch, wenn wir uns in sozialen Netzwerken verlieren. Eigentlich wollten wir nur kurz noch einen Post ansehen, und schon ist eine halbe Stunde vergangen, ohne dass wir sagen könnten, was wir eigentlich die ganze Zeit gemacht haben, geschweige denn, was wir gelesen haben. Die Forscherin Amanda Baughan von der University of Washington hatte nun die Idee, dass in beiden Fällen etwas Ähnliches zugrunde liegt, nämliche eine Art Dissoziation. Der Begriff kommt aus der Psychologie und beschreibt einen etwas entrückten Zustand, in dem wir uns ein wenig von der realen Welt distanzieren. In stärkerem Ausmaß wird unter Dissoziation eine psychische Störung verstanden, sie kann u.a. durch posttraumatische Belastungen entstehen, aber in dieser milden Ausprägung ist sie eher so etwas wie eine Tagträumerei.

Baughan hat beobachtet, dass viele Menschen sich für ihre Social Media Nutzung schämen, wenn sie solche entrückenden Züge annimmt. Sie haben das Gefühl, süchtig zu sein und erleben einen Kontrollverlust, wenn die Zeit davonfliegt, ohne dass sie es merken. Der Begriff der Dissoziation gefiel ihr darum, weil er weg von diesem negativen Sucht-Gefühl führt.

Listen gegen Scrolling-Sucht

Baughan und ihr Team haben nun untersucht, wie die Gestaltung sozialer Netzwerke sein müsste, um dieses Kontrollverlust-Gefühl in ein genussvolles Abschalten und entspannte Seelenbaumlerei zu überführen. Gemeinsam mit ihrem Team entwickelte sie eine App in Anlehnung an Twitter, die sie Chirp nannten und die von 43 Twitter-Nutzer_innen einen Monat lang erprobt wurde. Dabei wollten sie den Nutzer_innen bieten, was sie an sozialen Netzwerken mögen, aber verhindern, dass sie sich dabei schlecht fühlen. Dabei überprüften sie ein paar Gestaltungselemente und ihre Auswirkungen auf das Gefühl beim Herumscrollen. So wurden Themen beispielsweise in Listen (z.B. Sport, Filme usw.) organisiert. Wenn die Nutzer_innen alles Neue darin gesehen hatten, bekamen sie eine Meldung, dass sie nun auf dem neusten Stand sind. Dann konnten sie sich einer weiteren Liste widmen, hatten aber auch eine Pause, in der sie entscheiden konnten, dass es jetzt genug ist. Ein anderes Gestaltungselement war eine Warnung, die angab, wieviel Zeit man bereits in der App verbracht hatte. Dieser Hinweis wurde aber weniger gut angenommen, vor allem, weil er beim Lesen stört, wenn man gerade nicht abgetaucht ist, sondern etwas konzentriert anschauen möchte.

Die Forscher_innen sahen sich darin bestätigt, dass die Aufteilung in Listen und damit kleinere Informationshäppchen günstig für die Nutzer_innen sind. Sie holen sie aus ihrem dissoziativen zustand heraus und erlauben eine bessere Kontrolle darüber, wie lange das Abtauchen dauern soll. Soziale Netzwerke seien allerdings gerade dazu gedacht, die Leute länger zum Scrollen zu bewegen. Und gerade in einem Zustand, wo die Welt drumherum verschwimmt, ist man noch anfälliger, auf die Reize zum Weiterscrollen hereinzufallen.

Allerdings wäre es ja auch schön, wenn sich die Nutzer_innen wohl fühlen würden und nicht anschließend das Gefühl haben müssten, ihre Zeit sinnlos verschwendet zu haben. Insofern kann man sich nur wünschen, dass soziale Netzwerke sich danach ausrichten und lieber ein qualitativ hochwertiges und entspannendes Abtauchen ermöglichen als ihre Nutzer*innen mit endlosen Postings gefangen zu halten.

Die Studie wurde übrigens von Facebook und der National Science Foundation gefördert 😉.

Quelle:

Autorin / Autor: Redaktion / Pressemitteilung - Stand: 27. Mai 2022