Wenn man Gott spielt

Von Tatjana Flores, 21 Jahre

Wir schreiben das Jahr 2069. Es ist Donnerstag der 09. Februar, 09:52 pm.
Die Nacht ist dunkel und kalt, der Himmel jedoch erschreckend klar. In früheren Zeiten, als die Menschen es noch gewagt hätten, abergläubisch zu sein und an Vorzeichen zu glauben, wäre dies bestimmt ein gutes Omen für Professorin Dr. Mikashu Lu und ihre Forschungsarbeit, doch heutzutage -seit der Wende zur Ära der KI- war alles anders. Die Menschen wagten es nicht mehr, an etwas zu glauben, geschweige denn, von etwas zu träumen oder frei zu denken.

Lu saß wie üblich an ihrem Labortisch, über der großen runden Petrischale gebeugt, in der sich gerade ihr Lebenswerk ausruhte und weiterentwickelte.
„Das ist hoffentlich ein Ereignis, an das sich die Welt und viele Generationen nach uns noch lange erinnern werden“, sagte Lu zu Wurmy.

Lu war es gelungen- als erster Wissenschaftlerin überhaupt in der Geschichte der Menschheit- Roboterkapseln zu entwickeln, die fähig waren, die DNA von Lebewesen zu verändern. Sie wurden in einen Körper injiziert und von ihrer Programmierung abhängig, veränderten sie das Erbgut, so wie gewünscht. Eine sehr mächtige Waffe für das Ministerium.

Sie hatte sich dazu entschlossen, ihre Roboterkapseln in einem uns in der Entwicklungsskala weit unterlegenes Wesen einzuspritzen: einen Regenwurm.
Sie wusste nicht genau warum, aber sie hatte sich für einen Regenwurm entschlossen. Wurmy. Dann Wurmy 2.00 und letztendlich ihr Erfolgsversuch in der Petrischale Wurmy 3.00.

Lu war Pazifistin und wusste genau, dass die Vorsitzenden des Ministeriums es nicht waren.
Sie versuchte ständig, die Angst zu unterdrücken, nicht zu wissen, was das Ministerium mit Wurmy vorhaben würde. „Eine Waffe kann auch durchaus zum Schutze unseres Landes eingesetzt werden“, wiederholte sie sich Tag und Nacht.

„Dich wird man wie einen Prinzen behandeln, wie einen König, wie einen Zaren. Ich habe dich erschaffen und so programmiert, dass wir von dir lernen und sogar im besten Falle die Erleuchtung finden.“
Sie streichelte seinen weichen Körper mit ihrem handschuhbedeckten Finger. „Nur fürs Gute habe ich dich geschaffen.“ Sie zwinkerte ihm zu und lachte.

Ihr Blick viel jetzt auf das Diktiergerät, dass vergessen auf einer Ecke auf ihrem Tisch lag. Sie seufzte. Fast hätte sie die so extrem wichtige Protokollaufnahme des Tages vergessen.
Sie holte tief Luft, lehnte sich in ihrem Sessel zurück und fing an, die heutige Entwicklung Wurmys in ihr Gerät zu diktieren. Gegen 11:00 Uhr fertig damit, stand sie mit rauer Stimme auf und war froh, endlich nach Hause gehen zu können.

Sie tauschte rasch ihren Laborkittel gegen ihren Mantel um und legte Wurmy in seine Beobachtungsbox. Sie mochte es, sie so zu nennen, diese besondere Box die im Grunde nichts anderes war, als ein speziell angefertigter Brutkasten für ihn. Im eigentlichen Sinne war es eher ein Gefängnis. 
Sie musste ihn in jeden Moment, in dem sie ihn nicht beobachtete oder auf ihn „aufpasste“, dort reinlegen, damit alle -und auch wirklich alle- seine Fortschritte oder auch die die nicht da waren, aufgezeichnet werden konnten.
Der Kasten war mit mehreren Kameras -in verschiedenen Winkeln gelegen- ausgestattet und sogar mit Mikrophonen.
Lu hatte mehrmals darauf hingewiesen, als der Kasten in ihrem Labor eingebaut wurde, dass diese nutzlos seien, denn Wurmy würde erst Tage nach seiner Geburt fähig sein, zu sprechen, aber das war dem Ministerium egal. Die Präsidentin hatte ihr selbst gesagt: „Die übertreiben es lieber mit der Kontrolle, anstatt etwas zu verpassen, was sie sich später nicht erklären können.“ Und so einen Fehler konnten sie sich natürlich nicht erlauben, schließlich planten sie, eines Tages eine ganze Armee an Wurmys zu haben.
Lu musste daraufhin nachgeben und zulassen, dass ihr Labor zu so etwas wie den Schauplatz für eine Reality-Tv Show wurde.
Sie störte es nicht, zu wissen, dass es noch Jahrzehnte lang Aufnahmen von ihr im Archiv des Ministeriums geben würde, das einzige was sie tatsächlich vermisste, waren die Besuche ihrer Freunde und Kollegen aus der Forschungsfakultät, denen den Zutritt streng verwehrt war.

Auf dem Flur und schon direkt hinter ihrer Tür begegnete sie dem üblichen Wachpersonal. Sie nickte ihnen wie immer freundlich zu und ging ihren Weg zum Hauptein- und Ausgang. Gerne hätte sie sich öfters mit diesen Frauen und Männern unterhalten, eine normale Konversation mit ihnen geführt, sie nach ihren Familien und Kindern gefragt. Darüber geplaudert, wie gut das Ministerium mittlerweile das Wetter unter Kontrolle hatte und noch vieles mehr, doch ihre starren Gesichter schüchterten sie so ein, dass sie jeden Abend das Institut verließ, ohne ein Wörtchen mit ihnen zu reden. 

Zu Hause hing sie ihren Mantel an den Garderobenständer und versuchte zu entspannen. Endlich war sie für einen weiteren Tag den Leistungsdruck los.
Sie ging zufrieden zum Kühlschrank, nahm sich ein Eisbecher und pflanzte sich vor dem großen Bildschirm in ihrem Wohnzimmer.
Sie schaute sich eine Folge von einer uralten Serie an, die sie -als sie noch ganz klein war- mit ihrer Mutter schaute. Damals war sie schon ein Klassiker gewesen, aber mittlerweile könnte man sie schon als Dokument über die Vergangenheit bezeichnen.

Sie hatte auf ihrer letzten Reise nach Paris, zufällig bei einer Auktion von Antiquitäten reingeschaut und die ganzen Folgen auf DVD in Sammleredition gefunden. Zu allem entschlossen, setzte sie sich in den Auktionssaal und bot über einer halben Stunde gegen eine alte Dame an. Als diese schließlich nachgab und sie ihren Preis bei der Annahmestelle abholen konnte, war sie sich sicher, den besten Kauf ihres Lebens gemacht zu haben, auch wenn es ihr ganzes restliches Budget für Ihre Reise aufgefressen hatte. Und dieses Gefühl dauerte bis heute an und kam in ihr frisch hoch, jedes Mal wenn sie an dieses Ereignis dachte oder sie sich die Serie anschaute.

Zufrieden, mit vollem Magen und mit ihren Gedanken mal woanders als bei der Arbeit, ging sie ins Bett. Sie kuschelte sich auf ziemlich kindlicher Weise darin ein und verfiel sofort in einem tiefen, ruhigen und erholsamen Schlaf, das dachte sie zumindest...

Als sie die Augen öffnete klingelte ihr Wecker und es war freitags 9:00 Uhr morgens.

Sie ging die Treppe hinunter, in der Vorstellung sich ein leckeres Frühstück zu machen. Dort fand sie ihn: Er lag wie ein kleines elendes Wesen, dass sich krampfte und zusammen rollte in einer gläsernen Petrischale. Er war viel zu groß, mit Geschwüren überdeckt und konnte sein Auge kaum mehr öffnen; so geschwollen war er. Wurmys ganzer Körper sah aus, als ob er kurz davor stünde, zu platzen; wie eine Wurst die unkontrolliert pochte und jeden Moment in die Luft gehen könnte.

Sie war erschrocken und entsetzt. Bis jetzt hatte sie sich nur Sorgen darum gemacht, was das Ministerium mit einer ganzen Armee an Wurmys machen könnte; an den Folgen eines radikalen Eingreifens im natürlichen Zyklus der Natur, wie es die Ausführung ihrer Arbeit war, hatte sie nie gedacht.
Sie schämte sich, so besessen davon gewesen zu sein, all den Ruhm und Ehre für ihre bahnbrechende Forschung zu kassieren, dass sie wahrhaftig gedacht hatte, sie stünde über den Regeln der Natur und könne Gott spielen.

Sie konnte und wollte Wurmys Anblick nicht länger ertragen und griff nach dem ersten Gegenstand, der ihr einfiel und hackte ihn in zwei. Der Kopf mit dem abgetrennten Auge kullerte kurz ein paar Zentimeter vom Rest des blass-rosafarbenen Körpers weg. Sie legte das scharfe Küchenmesser weg, zog ihren Mantel an, und verließ das Haus.

Sie fuhr rasend schnell zum Institut. Sie marschierte -dieses Mal mit nur gespielter Schüchternheit- an dem Wachpersonal vorbei und versuchte so natürlich zu wirken, wie möglich, auch wenn sie viel früher als üblich an ihrem Arbeitsplatz war. Sie setzte sich an ihren Computer und fing an, neue Robokapseln zu programmieren, während sie in ihrem Kopf einen ganz anderen Plan ausheckte.
Als sie mit der Programmierung fertig war, tat sie so, als würde sie irgendwelche Utensilien aus einem Regal in ihrer Nähe holen. Sie nahm ein paar Robokapseln, kleine Fläschchen und weitere elektronische Gegenstände und legte sie alle sorgfältig auf dem Tisch. Aus Versehen, mit einer ihrer Ärmel ihres Laborkittels, stieß sie eins der Fläschchen um und die sich darin befindende Flüssigkeit fiel über eine Platine, die daneben lag. Sofort fing diese an zu brenne und so zu qualmen, dass eine große Wolke Rauch entstand und es fast unmöglich wurde, etwas zu sehen.
Sie schnappte sich blind Wurmy aus seinem Brutkasten und rannte zur Tür. Sie zog den Alarmhebel neben der Tür runter und ging in den Flur hinaus. „Alle raus!“, schrie sie. „Alle raus! Das ist ein Notfall, eine giftige Gaswolke breitet sich im Labor aus!“
Sie rannte mit dem postierten Wachpersonal zum nächsten Notausgang raus und sah, als sie sich draußen umdrehte, wie jetzt auch der Rest von den sämtlichen Mitarbeitern des Instituts sich in der frischen Luft in Sicherheit brachten. Darunter alle bekannten Gesichter und Freunde. Sie atmete kurz auf und merkte dann aber, wie es ihr schwerfiel, ihre besorgte Miene aufrecht zu erhalten und ein selbstzufriedenes Lächeln zu unterdrücken. Sie drückte sich stark die Petrischale einmal an die Brust unter ihrer Jacke und verschwand auf unauffälliger Weise.

Es ist Freitags der 17. Februar, 9:52 pm. Die Nacht ist kalt und dunkel, doch es leuchtet ein klarer und freier Sternenhimmel. Lu liegt mit ihrem Kinn auf ihrem Arm gelehnt und spielt Mensch-ärgere-dich-nicht mit Wurmy. Im Hintergrund laufen die Nachrichten, die darüber berichten, dass es schon mittlerweile eine Woche her ist, dass sich eine giftige Gaswolke in eines der Labore des Forschungsinstituts der Stadt ausgebreitet hatte. Die einzige Information, die das Ministerium frei gegeben hat, ist dass es scheinbar ein menschlicher Fehler war.
Ein gutes Omen für Lus Spiel, denn mit ihrem letzten Zug gewinnt sie es. Wurmy formt sein großes dunkles Auge zu einem Schlitz.
„Ärgere dich nicht Wurmy“, sagt sie zu ihm. „So sind die Spielregeln“, und zwinkert ihm zu und ist froh ihn nur in ihrem Albtraum zerhackt zu haben.

Autorin / Autor: Tatjana Flores