Was ist wirklich echt?

Von Ela Tuba Özcan, 18 Jahre

Manchmal wird alles irgendwie zu viel. Mein Kopf zu voll. Alles um mich herum zu laut. Es ist, als würde sich alles weiterbewegen, Menschen, Bilder, Worte. Alles trifft aufeinander und bewegt sich, fließt wie ein strömender Fluss in eine Richtung, durcheinander, ineinander. Ich fühle mich, als würde ich irgendwie dazwischenstehen, als würde der Strom aufbrechen, sich spalten und an mir vorbeifließen. Mich nicht mitnehmen. Mich allein lassen, auf mich gestellt. Meine Gedanken werden von dem Brausen der Strömung fast übertönt, doch nicht ganz. Sie sind unter der Oberfläche, ich nehme sie nur verschwommen und unklar war, doch sie sind da. Sie bilden ihren ganz eigenen Strom. Manchmal würde ich sie so gerne abstellen. Ich würde so gerne den Strom in mir abstellen um mich dem Strom um mich herum anzuschließen, mich mitziehen und mittreiben zu lassen.  Ein Teil von etwas Ganzem sein anstatt ein Teil für mich allein. Ich weiß bloß nicht wie. Und bevor ich es herausfinden kann, ist dieses Gefühl auch schon wieder verblasst, verschwunden, wieder dorthin zurückgekehrt, wo es hergekommen ist. An einen Ort, der sich nicht beschreiben, nicht erklären lässt, und doch irgendwie da ist, irgendwo, tief in mir drin. Ich erlange die Kontrolle über meinen Körper wieder, mein Blick wird klarer und meine Sicht kehrt zu mir zurück. Ich setze meinen Weg fort, dränge mich an Menschen vorbei, blende unzählige, unbedeutende Bilder aus, versuche, den Schwall der Worte zu umgehen, der sich über mich zu ergießen droht. Alles wirkt unwirklich, irgendwie unreal. Und es wird immer schwerer zu unterscheiden, was bloß so wirkt, und was wirklich nicht echt ist.
Nicht alle Menschen sind echt.
Nicht alle Bilder sind echt.
Nicht alle Worte sind. Echt.
Manchmal bin ich mir noch nicht einmal sicher, ob ich, echt, bin. Und das macht mir Angst. Es ist, als würde diese Angst sich in den dunkelsten Ecken meiner Gedanken einnisten und darauf warten, dass ich mich ihr ergebe. Dass ich aufgebe, gegen sie anzukämpfen, aufgebe, einen Kampf zu kämpfen, den ich nur gewinnen kann, wenn ich alles andere verliere. Doch das ist es mir wert. Es ist es mir wert, diesen Weg zu gehen, diese Entscheidung zu treffen, die alles verändert, die mich in große Gefahr begibt, die wohlmöglich dazu führt, dass ich alles zurücklassen muss. Es ist es mir wert, da ich lieber alles andere verlieren würde, als
mich selbst zu verlieren.
Ein letztes Mal rufe ich die Karte auf und sie erscheint in meinem Sichtfeld. Ich bewege meine Augen hin und her, scrolle auf der Karte nach rechts und links, bis ich mich vergewissert habe, dass ich hier richtig bin. Dass dieser Hintereingang eines scheinbar verlassenen, alten Bürogebäudes der Eingang zu einem neuen Leben ist. Ich steige über aus dem Boden wuchernde Pflanzen hinweg und ducke mich unter tiefhängenden Ästen hindurch. Ich nähere mich der grauen Metalltür, dessen Farbe an mehreren Stellen rostig abblättert. Bis ich vor ihr stehe. Bis mich nur noch Zentimeter von all dem trennen, auf das ich so lange gewartet habe. Ich schließe für einen Moment die Augen und atme tief ein. Dann drücke ich die Klingel. So stand es auf den Anweisungen, die ich in den letzten Tagen so sehr verinnerlicht habe, dass ich sie immer und überall, egal, in welcher Situation ich mich gerade befinde, aufsagen könnte.
Drücken Sie die Klingel.
Warten Sie, bis sich das Erkennungssystem hochfährt.
Gehen Sie mit dem Gesicht so nah wie möglich an die zwei, nun rot aufblinkenden, Leuchten heran.
Stellen Sie sicher, dass ihre Augen weit geöffnet sind.
Wenn Sie einen halblauten Summton hören, treten Sie einen Schritt zurück.
Drücken Sie innerhalb der nächsten zehn Sekunden die Klinke herunter und vergewissern Sie sich nach Ihrem Eintreten, dass Ihnen niemand gefolgt ist. 
Warten Sie dort, bis man Sie abholt.
Löschen Sie die Karte und diese Anweisungen, sobald Sie am letzten Schritt angekommen sind.


Die Operation dauerte ungefähr zwei Stunden. Ich war allein als ich durch das Narkosemittel, was man mir vorher verabreicht hatte, einschlief, und ich war allein, als ich wieder aufwachte. Ich begegnete höchstens einer Handvoll Personen, die alle nicht mehr als das Nötigste mit mir sprachen. Es war mehr als deutlich, dass ich so wenig wie möglich mitkriegen und noch weniger wissen sollte. Niemand beantwortete Fragen. Niemand stellte welche. Ich ließ mir einen Teil meiner Wahrnehmung von Menschen entfernen, von denen ich keine Ahnung habe, wer sie sind. Es hätte sonst etwas schieflaufen können. Ich hätte erblinden können, vielleicht sogar sterben. Doch in dem Moment, in dem ich dort lag, auf dem Operationstisch, umgeben von Geräten, die ich in meinem Leben noch nie gesehen hatte, und die Geräusche von sich gaben, die mich mehr als nervös hätten machen sollen, fühlte ich mich innerlich so ruhig, so entspannt, wie schon lange nicht mehr. Es war, als wüsste mein Körper ganz genau, was jetzt kommen würde und als wäre nichts Falsches daran. Ich hatte zum Ersten Mal seit Wochen keine Angst. Nachdem ich das Gebäude verlassen hatte, noch benebelt von der Narkose und ohne wirklichen Orientierungssinn, hatte ich keine Angst. Als ich am menschenleeren Bahngleis wartete und den durch die vorbeifahrenden Züge verursachten Wind auf meiner Haut, in meinen Haaren spürte, hatte ich keine Angst. Als ich meinen Weg zurück in die Stadt antrat und nach und nach alles klarer wurde, mein Verstand, meine Sicht, hatte ich keine Angst.
Ich habe jetzt keine Angst. Vielleicht sollte ich sie haben. Doch dieses Gefühl, was von mir Besitz ergriffen hat, seitdem ich den Operationssaal verlassen habe, übertrifft alles.
Das Augenimplantat, welches mir unmittelbar nach meiner Geburt eingesetzt wurde, und welches seitdem ein Teil von mir ist, mit mir gewachsen ist, mich besser kennen gelernt hat, als ich mich selbst, wurde mir genommen, es ist weg, und ich spüre es. Ich spüre mit jeder Sekunde mehr, dass nichts mehr da ist, was meine Wahrnehmung, das, was ich sehe, und das, was ich höre, beeinflusst. Das da nichts mehr ist, was Bilder in meinem Sichtfeld erscheinen lässt, Daten, zu jeder Person, die meine Augen erfassen,
Worte, Namen, Nummern,
nichts.
Da ist nichts mehr, außer das, was meine natürlichen Sinne mir erlauben wahrzunehmen. Menschen gehen an mir vorbei und ich sehe sie. Ich sehe nicht das, was uns weißgemacht wird, was wir sehen sollten, sondern ich sehe sie. Ich sehe Gesichter, die, wenn man sie genau betrachtet, so viel mehr erzählen, als jedes Programm, jedes System je über sie erzählen könnte.  Gesichter, die zielstrebig in eine Richtung blicken und diese verfolgen und doch so wirken, als wüssten sie nicht, wohin. Gesichter, die ins Leere starren und aussehen, als bekämen sie nichts von dem mit, was um sie herum geschieht,.Gesichter, die anderen Gesichtern zugewendet sind, die miteinander reden, scheinbar, ohne einander anzusehen.
Ich wende meinen Blick nach oben, betrachte die Fassaden von Hochhäusern, die unvertraut blank und farblos erscheinen. Ich blicke auf Schaufenster, Plakatwände, Bildschirme... nichts. Vorher war dort alles. Bilder von Dingen, die mir gefallen, die ich mag, Dinge, die ich konsumiert habe oder noch konsumieren werde, Orte, die mich interessierten, Veranstaltungen, die ich gerne besuchen würde. All das wirkte auf mich ein, beeinflusste mich jedes Mal, wenn ich meinen Blick auch nur in eine andere Richtung wendete, mein Blick, mein Implantat, ich, das Individuum... Das Individuum als Mittel zum Zweck. Das, was ich nicht mehr sein wollte. Mein Implantat steuerte mich. So wie es jeden steuert. Es zeigt dir Dinge, die dich glücklich machen, die dir wichtig sind, es gibt dir ein Gefühl von Kontrolle, wenn du über jeden Menschen, genau in dem Moment, in dem du ihm begegnest, genug Bescheid weißt, um darüber entscheiden zu können, ob du ihn zu dir nach Hause einladen würdest. Es weiß, wann du aufstehst, wie du zur Arbeit, zur Schule oder sonst wohin kommst, es kennt deinen Tagesablauf, es weiß, wann es Zeit ist zu Essen, zu schlafen, und all das, was du da zwischen gerne tust. Es kennt deine Freunde, deine Familie es kennt dich, doch es ist
nicht du.

Niemand darf es bemerken. Niemand darf es erfahren. Ich darf mit niemandem darüber reden. Alles ist bloß eine Frage der Zeit. Sie werden es bemerken. Sie werden es in Erfahrung bringen. Anfangs wird es nicht auffallen. Ich werde in der Menge untergehen, niemandem wird auffallen, dass mein Implantat ihren Implantaten keine Informationen über mich sendet. Und wenn mir jemand Fremdes in die Augen sieht, und es ihm auffällt, dann wird er möglicherweise denken, es wäre ein technischer Fehler, ein kleiner Makel im Programm, im System, der schon in Bearbeitung ist, der gerade in diesem Moment behoben wird. Und was meine Freunde, meine Familie betrifft, anfangs werden die in ihren Implantaten bereits abgespeicherten Informationen über mich ausreichen, anfangs wird sich niemand fragen, warum da kein Update kommt. Bis irgendwann. Irgendwann wird sich jemand fragen, was das soll. Was da nicht stimmt. Irgendwann wird mich jemand fragen. Und dann wird es für mich Zeit werden, abzuhauen. Es sind noch nicht einmal 24 Stunden vergangen, seit ich das Implantat nicht mehr habe. Und doch weiß ich jetzt schon, dass ich das ohne Probleme tun werde. Denn ich weiß jetzt schon, dass ich mich noch nie freier und selbstbestimmter gefühlt habe, und dass ich dieses Gefühl für nichts auf der Welt wieder hergeben würde. Es ist als hätte das Netz einer Falle, in die ich, in die wir alle, schon vor so langer Zeit geraten sind, mich freigegeben, losgelassen, sodass ich endlich wieder die Kontrolle über meinen Körper, über meine Gedanken erlangt habe, sodass mich endlich nichts mehr davon abhält, dem entgegen zu streben, was meinen Verstand, meine gesamte Existenz dominiert, dem Willen, frei zu sein, welcher so stark ist, dass er dem Willen eines Ertrinkenden zu Atmen gleicht, dem Willen, die Oberfläche zu durchbrechen. Und jetzt, wo ich sie durchbrochen habe, jetzt, wo all die neuen Dinge, die ich sehe, fühle und spüre, meinen Blick auf so vieles verändert haben, kann ich nicht mehr zurück. Also muss ich weg. Alles, was ich habe, ist eine Adresse, die mir zusammen mit der Karte und den Anweisungen auf mein Implantat gesendet wurde. Ich weiß noch immer nicht genau, von wem. Ich weiß so wenig über all das. So wenig über diese Menschen, die das gleiche wollen wie ich, die mehr wollen, wie ich, und die mir einfach alles ermöglicht haben. Und doch weiß ich, dass ich mich ihnen anschließen werde. Dass ich diese Adresse aufsuchen werde und den Weg fortsetzen werde. Den Weg in eine neue Realität, in ein neues Leben, in eine neue
Welt.

Autorin / Autor: Ela Tuba Özcan