Warum Roboter nicht das größte Übel sind

Von Sibel Sandhu, 16 Jahre

Es bedarf einzig und allein drei Worte, um mich am Leben zu halten. Drei Worte einer einzigen Person, die meinen Namen rufend mir zuflüstert: „Bitte, hilf mir.“ Es ist nur ein Hauch eines Wortes, kaum hörbar, dennoch höre ich die bekannte, sonst so wohlig warme Stimme. Ich werde an diesen Worten festhalten.
Langsam und schwer öffnen sich meine Augen und ich merke, dass ich wohl auf dem Küchentisch eingeschlafen sein muss. Mir passieren solche Dinge öfters, seitdem es passiert ist. Ich bin zerstreut und weiß nichts mit mir anzufangen. Auch nicht mit den bizarren Träumen, die mich im Schlaf verfolgen, die mich verzweifeln lassen. Es ist so, als wolle mir mein Gehirn sagen: „Beeil dich, sonst ist es zu spät.“

Vor mir auf dem Tisch steht ein Computer, dessen grelles Licht mich blendet. Ich schaue auf die Wanduhr. Es ist zwei Uhr nachts. Die perfekte Uhrzeit für Illegalität. Ich ziehe den Computer zu mir und bin ein weiteres Mal dankbar dafür, dass er in meinem Besitz ist. Jedoch erinnert er mich auch jedes Mal daran, was Algorithmen mir gestohlen haben. Meine Eltern hatten sie genutzt, um der Menschheit mit künstlicher Intelligenz zu helfen, doch als sie merkten, dass die KI radikale Wege einschlägt, haben sie Algorithmen als Waffe gegen diese Intelligenz, die ebenfalls auf Algorithmen beruht, eingesetzt. Dieser Widerstand gegen die Großkonzerne führte sie schließlich in den Tod. Ermordet. Weder bestrafter, noch hinterfragter Mord. Ein weiteres Opfer der Algorithmen: meine große Schwester. Vega war schon immer vorsichtig gewesen, aber rebellisch. Sie ging andauernd auf gigantische Proteste, wo alle Individuen so nah beieinanderstehen, dass die Menschenmasse nur einen verschmolzenen Fleck bildet. Jedes Mal. Als alleiniger Schutz reicht diese Art von Anonymität in der Masse natürlich nicht aus, bei all der Videoüberwachung der Konzerne. Sie tragen auch Masken. Masken aller Art. Von Faschingskostümüberresten bis hin zu umfunktionierten Mützen und T-Shirts. Doch auch die Masse bietet einen gewissen Schutz, weshalb das Motto der Protestierenden auch ist: alle oder keiner. Sie tauschen sich mündlich über die Protesttermine aus, denn digital würden sie sofort zurückverfolgt werden und dann sterben? Niemand weiß, was mit den Leuten passiert, die den Konzernen in die Hände fallen, doch sie kehren nie zurück. Unvorhersehbare Aktionen sind schlicht und einfach sicherer. Die Konzerne von denen ich die ganze Zeit rede, sind die KI-Konzerne, die alle in Angst und Schrecken versetzen. Natürlicherweise, weil Menschen nun mal Angst davor haben zu sterben. Meistens.
Vor lauter Eitelkeit nennen sich die Autoritäten der Konzerne sogar „Deus“ (lateinisches Wort für Gott). Sie fühlen sich göttlich in ihren Rollen als „Schöpfer der besseren Menschen“. Den Robotern. Ihre künstlichen Neurone sind stärker miteinander verknüpft, anders miteinander verknüpft. Sie sind uns sowohl physisch als auch psychisch überlegen, weil sie genetisch „perfekt“ veranlagt sind, was auch immer das wohl heißen mag. Für die „Deus“ wahrscheinlich: „perfekte Sklaven“. Unermüdlich und effizient. Ich weiß nicht, was ich von den Robotern denken soll. Einerseits sind sie Diebe, sie haben unser aller Leben gestohlen. Wir Menschen leben zurückgezogen im Wald (oder wohl eher, was von ihm übrig ist) und manche sogar in den Wüsten, in anderen Teilen der Welt. Nun, man mag nun denken, dass wir nicht das Leben besitzen, dass unser eigen war, dennoch können wir eine neue Zivilisation kreieren, nicht wahr? Nein. Wie erwähnt gibt es keine Ressourcen mehr, die wir verwenden könnten. Die Erde ist nahezu tot. Und damit die auf ihr lebenden acht Milliarden Menschen auch.
Es gibt Erzählungen, in denen es heißt, die ganze Erde sei früher hauptsächlich grün gewesen, bestehend aus Bäumen und Wäldern und Leben, sogar in Anwesenheit von uns Menschen, doch sie wurde von eben diesen zerstört. Ist diesen Menschen denn nicht klar gewesen, dass sie ihrer eigenen Spezies und dem ganzen Leben auf der Erde die Zukunft rauben? Wahrscheinlich nicht, denn sonst müssen diese irrational gewesen sein.

Anfangs war das Problem wohl noch Plastik gewesen, wobei Roboter vielen Menschen das Leben retteten. Sie konnten nämlich das für Menschen lebensgefährliche Plastik entfernen, welches es geschafft hatte, sich massiv als Mikropartikel ins Wasser und ins Essen zu schleichen. Doch die Konzerne waren schlau. Sie schufen nicht nur medizinische Roboter, sondern auch militärische und unterdrücken uns bis zum heutigen Tag.
Dennoch sind Roboter nicht perfekt, denn sie sind Diebe, Räuber und Vega wollte für unsere Rechte kämpfen, für die Freiheit aller. Doch an dem Tag, wo sie sich mit einem kraftvollen Lächeln verabschiedete, kam sie nie mehr zurück.
Bis zu diesem Punkt, hatte ich immer Angst gehabt. Vor den Robotern und Hässlichkeiten (ich meine die „Deus“) und vor dem Sterben, aber warum soll ich leben, wenn es sich nicht lohnt? Ich tagein, tagaus einzig und allein beobachte, wie die Welt, wie eine naturgeschaffene Blume verwelkt, teilnahmelos? Ich war eine Mitläuferin. Weder unterstützte ich die negativen Aspekte der KI, noch widersetzte ich mich ihnen.
Mein Leben ist jetzt geprägt von Wut, Hass und Ehrgeiz. Seit zwei Jahren tue ich nichts anderes, als das Hacken zu lernen. Vor zwei Jahren, als meine Schwester verschwand, packte mich ein skurriles Gefühl. Mir wurde ganz heiß, so als würde ich in Flammen aufgehen. Ich veränderte mich von Grund auf. Gegen ein Uhr nachts nach Vegas Verschwinden, nahm ich meinen Rucksack, der meine Habseligkeiten komplett fassen konnte, und lief mit Socken über die Straßen, um keine Geräusche zu machen. Ich verließ den „Wald“, der nach der Machtübernahme der „Deus“ mein Zuhause geworden war. Ich wich allen Robotern aus, ging um jede Straßenecke mit einem noch größeren Adrenalinkick und da stand ich endlich vor meinem Zuhause. Doch ich hatte mich geirrt. Dennoch war es einem Roboter gelungen, mich zu verfolgen, doch er unternahm nichts, sagte nichts. Er folgte mir schlicht und einfach. Ich drehte mich um und fragte ihn einfach. Was er von mir will und warum er mich nicht ausliefert. Seine Antwort überraschte mich. „Ich will nur Freunde finden und gut sein. Courage ist mein Name.“, sagte er unschuldigerweise. Ab diesem Tag an erkannte ich, dass es auch gute Roboter geben kann, denn sie besitzen zwar künstliche Neurone, aber auch einen eigenen Willen und Gefühle und manchen gelingt es anscheinend der Kontrolle der Deus zu entfliehen.
Obwohl ich erwischt wurde, hatte ich Glück, dass ich auf einen guten Roboter traf und, dass ich noch vor der Kamerainstallation an jeder Straßenecke aus dem Wald aufgebrochen war, um zu meinem Zuhause in der Stadt zurückzukehren.

Nun sitze ich an einem nicht registrierten, relativ sicheren Computer und versuche den Standort von Vega rauszufinden, indem ich meine vorhandenen Kenntnisse von Mama und Papa anwende, als auch die selbstständig erworbenen, wobei mir Courage geholfen hat.
Ich bin hellwach und konzentriere mich auf die Zeichen, die sich immer wieder verändern. Und dann, urplötzlich, erscheinen Koordinaten. Ich… Ich habe sie gefunden! Ich drucke die kartierte Information aus, lösche meinen Hackverlauf, schalte den Computer und den Drucker aus, schnappe mir meinen immer gepackten Rucksack, der für diesen Fall immer neben dem Tisch liegt und schlüpfe in den Wintergarten. Hier habe ich heimlich Tomaten züchten können, von denen ich mich dann ernährt habe. Ich laufe so vorsichtig und so schnell ich kann zum 3,5 Meter hohen Holzzaun und krieche durch das Gebüsch in den Nachbargarten. So gewinne ich Zeit, weil sie mich nun nicht auf der nächsten Straße vermuten, also die Roboter. Mit höchster Sicherheit wurde ein Alarm ausgelöst, als ich gehackt habe. Sie müssten schon an der Haustür stehen, doch ich bin schon im nächsten Vorgarten und renne durch die kleinen Gassen, die meistens unbewacht sind. Endlich erreiche ich den Wald. Oder wohl eher, was vom Wald übrig ist. Der Boden ist sandig, die Bäume ausgetrocknet und tot. Ich renne und spüre mein Herz in meiner Brust laut klopfen, doch auch wenn mir der Atem wegbleibt, laufe ich weiter. Ich laufe weg von jeglicher Zivilisation. Alles liegt still vor mir. Ich weiß, dass mich niemand bis hierhin verfolgen wird, denn hier, ohne jegliche Lebewesen, wird man verhungern. Ein paar Tage Hunger sind aber erträglich geworden, eigentlich so ziemlich Teil meines Alltags.

Nach einiger Zeit verlangsame ich mein Tempo und komme endgültig zum Stillstand. Ich muss erstmal ein paar Mal ein- und ausatmen, bis ich mich setzen kann, ohne dass mir dabei schwarz vor Augen wird. Ich hole die Karte aus meinem Rucksack, starre sie an und muss hämisch grinsen. Sie finden mich nicht und sie werden es auch nicht, weil ich weiß, wie man Datensätze löscht und Spuren verwischt. Ich muss an meine Schwester denken. Für eine Zeit lang habe ich gedacht: „Wäre sie lieber doch nicht auf die Demo gegangen…“, doch eigentlich habe ich sie dafür geliebt. Für ihre Stärke und Gutherzigkeit, dass sie sich einsetzt, für alle. Motiviert, schaue ich mir die Karte genauer an und setze meinen Weg mit einem Kompass in der Hand fort. Es vergehen mehrere Tage (ich habe irgendwann aufgehört zu zählen) und der Hunger, sowie der Durst machen sich schmerzhaft bemerkbar. Ich breche zusammen. Als ich meine Augen öffne, sehe ich Courage vor mir, der Essen und etwas zum Trinken gefunden hat. Ich bin unendlich dankbar, dass er da ist, denn er ist mein bester und auch einzig wahrer Freund und ohne ihn wäre ich gestorben. Wir wandern zusammen weiter, trinken gelegentlich an einem kleinen Bach etwas, kauen auf Blättern und schlafen. Seit Courage da ist, schlafe ich ruhiger, denn die Stille hier draußen drohte, mich um den Verstand zu bringen. Ich hatte mich noch nie zuvor so einsam gefühlt. In meinem Zuhause hatte ich mich wenigstens noch einigermaßen geborgen gefühlt, doch hier im kahlen Nichts? Die perfekte Angriffsstelle, aber nicht nur das machte mir Angst, sondern das Nichts. Früher, als meine Eltern noch am Leben waren und meine Schwester auch noch da war, haben Vega und ich Geschichten vorgelesen bekommen, von Wäldern voller unterschiedlicher Tierarten und Meere voller Fische. Es soll Tiere gegeben haben, so groß wie Häuser und so klein wie Zahnstocher und sie machten alle Arten von Geräuschen. Hier ist das Einzige, was ich höre, gelegentlich der Wind, meine Fußschritte und meinen Atem. Meine Eltern nannten die Ursache für das Verwelken der Erde „Klimawandel“, doch es ist zu spät, um etwas zu unternehmen. Man muss versuchen die Hohlköpfe („Deus“) zu stoppen, denn gerade sie sind diejenigen, die der Umwelt schaden. Ich hoffe, dass Vega nicht in den Händen der Deus und Roboter ist, doch dieser Fakt ist unausweichlich. Sie ist schließlich auf einem rebellischen Protest verschwunden. Und um auf die Umweltzerstörung zurückzukommen; Die Deus sehen keinen Ausweg mehr für die Erde und verprassten den Rest der fossilen Brennstoffe, um Energie für die Roboter zu gewinnen, damit diese wiederrum Wurmlöcher im All vergrößern können, um einen Planten B zu finden. Wir Menschen sollen dabei natürlich alle zurückgelassen werden.
Wutentbrannt stampfe ich über den trockenen Boden. Courage guckt mich verwirrt an und fragt: „Was ist denn los mit dir?“
„Nichts, es ist nur wegen der Planet B-Suche der Deus. Vielleicht haben wir es verdient zu sterben, weil wir dem Planeten so viel Schaden zugefügt haben, aber die Deppen doch noch viel mehr.“
„Ich weiß, aber was willst du unternehmen?“
„Ich glaube, wir als gesamte Menschheit sind dennoch stärker als die Deus.“
„Wahrscheinlich hast du Recht, doch viele sind nicht bereit, sich für einen Kampf, eine Revolution zu opfern, aber du sollst wissen, egal was du tust, ich stehe hinter dir.“
Ich habe ihn so liebgewonnen. Ich umarme ihn und lächle ihn dankbar und glücklich an.
„Zum Glück habe ich dich. Hab dich lieb!“
„Ich dich auch, Nahal.“

Nahal. Mein eigener Name. Ich habe ihn schon ewig nicht mehr gehört, weil ich niemanden hatte, der mich so rufen konnte. Ich schaue an Courage vorbei und da sehe ich sie. Unvergesslich, nicht verwechselbar. Schulterlange, leicht wellige, hellbraune Haare, dunkelbraune Augen und ein breites, warmes Lächeln. Vega.
„Oh mein Gott, Vega!“, schreie ich aufgeregt. 
„Wo denn?“, fragt Courage sichtlich verwirrt.
„Da hinten!“
Ich sprinte los. Ich laufe und laufe, doch irgendwie scheine ich Vega nicht näherzukommen. Sie ist immer noch gleich weit von mir entfernt. Ich renne schneller, bis ich fast keine Luft mehr kriege und dann nähere ich mich Vega, meiner großen Schwester, die ich so sehr liebe und vermisst habe. Mir steigen Freudentränen in die Augen. Sie lebt und sie ist unversehrt! Ich bin schrecklich erleichtert. Ich bin nur noch wenige Sekunden von Vega entfernt. Ich flüstere leise und glücklich ihren Namen: „Vega…“, wobei sie ihre Arme schon weit geöffnet hat und nur darauf wartet, dass ich ihr in die Arme falle und wir uns umarmen, wie wir es so oft getan haben, ganz ohne Grund, doch diesmal gibt es einen. Unser Wiedersehen. Ich strecke meine Arme nach Vega aus, doch ich fasse ins Leere.
Ich erinnere mich an einen vergessen geglaubten Moment in der Vergangenheit. Meine Mutter und ich am Küchentisch sitzend. Eine kleine Version meiner Selbst fragt: „Hat mein Name eine Bedeutung, Mama?“ Meine Mutter schaut mich aus zärtlichen Augen an und antwortet: „Kleiner Vogel. Du bist mein freier, kleiner Vogel.“
Frei war ich vielleicht einmal, doch die Freiheit wurde mir gestohlen.
Klein bin ich immer noch, ein kleiner Fleck über dem Boden.
Ein Vogel. Das bin ich nicht. Ich kann nicht fliegen. Ich bin ein gefallener Vogel.
Ich spüre nur noch den freien Fall.
Ich höre nur noch einen verzweifelten Schrei.
Und dann, Stille.

Autorin / Autor: Sibel Sandhu