54 Minuten

Von Nina, 21 Jahre

Zuerst sehe ich fünf Personen im Anzug um einen großen Tisch stehen und dann erst erblicke ich meinen Namen auf einem überdimensionalen Bildschirm an der Front des Raums.
Menschen in dunklen Anzügen, vier Herren und eine Dame, und die Tatsache, dass mein Name neben verschiedensten Diagrammen und Graphiken dort an der Wand prangt, lassen in mir spontan ein schlechtes Gefühl heranwachsen.
Wenn ich könnte, würde ich auf der Stelle umdrehen und gehen. Sofort.
Ein Muskelprotz von der Security bläst mir seinen Atem in den Nacken. Ich kann definitiv nicht umdrehen und gehen.

„Herzlichen Glückwünsch!“, schallt es zu mir herüber. Einer der Herren kommt mir mit ausgestreckter Hand entgegen. Ich ergreife die Hand zögernd. Er fixiert mich mit seinen Augen und fängt ungebändigt an, meine Hand zu schütteln: „Es freut mich und meine Kollegen ungemein, Ihnen zu gratulieren. Sie sind ab sofort der wichtigste Mensch auf diesem Planeten. Herzlichen Glückwünsch!“.

Ich bin zu 99% überrascht. Ich habe davon in der Zeitung gelesen. Deshalb bin ich nicht zu 100% überrascht. Aber, um ehrlich zu sein, habe ich weder daran geglaubt, dass es sich um die Wahrheit handelt, noch dass ich so direkt damit konfrontiert würde.

Der Herr im Anzug lässt meine Hand los, redet aber trotzdem weiter: „Sie haben das Privileg, von unserer KI 3785 ausgewählt worden zu sein. Das bedeutet, das Sie jetzt einen unschätzbaren Wert für die Regierung haben. Deshalb muss ich Ihnen leider mitteilen, dass wir Sie für die nächsten Stunden und Tage in Gewahrsam nehmen müssen. Erst wenn wir den Grund für Ihre Qualifizierung als wichtigsten Menschen der Welt identifiziert haben, können wir über Ihre nächsten Schritte entscheiden.“

„Ich bin mir nicht ganz sicher, wer Sie sind und was Sie genau von mir wollen, aber ein Stück Kuchen zur Feier des Tages wäre doch sicherlich ein angemessener nächster Schritt“, ich werde das Gefühl nicht los, in Situationen höchster Anspannung und Nervosität, nicht immer adäquat zu antworten.

Die einzige Frau in der Runde tritt hervor: „Sie verstehen wohl den Ernst der Lage nicht.“
Nein, anscheinend habe ich ihn nicht verstanden.
„Wir werten zu jeder Zeit, auch jetzt,“, die Frau deutet auf ihre Uhr, „weltweit alle Daten, die wir erheben können, aus. Diese Daten werden mit Hilfe eines Algorithmus, der sich seit Jahrhunderten selbst weiterentwickelt, in eine Liste von Namen umgewandelt. Es entsteht ein Ranking der wichtigsten Personen dieses Planeten. Und Sie stehen nun seit 39 Minuten ganz oben.“
Innerlich bin ich furchtbar erleichtert, dass ich nicht heute früh um 5 Uhr zum wichtigsten Menschen der Welt wurde, sondern noch in Ruhe frühstücken konnte, bevor mich die Security aus meinem Haus geklingelt hat.

„Dank diesem phänomenalen Einsatz von künstlicher Intelligenz war es uns in den letzten Jahren möglich, Personen mit natürlichen Antikörpern gegen die schlimmsten Krankheiten dieser Erde zu finden und wirksame Medikamente zu entwickeln.“ Die Frau lenkt mit einem Kopfnicken meine Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm. „Wir erheben jedoch nicht nur Gesundheitsdaten. Sondern auch Standort, Kaufverhalten, Bildungsniveau, soziales Verhalten, Kommunikation und vieles mehr werden von der KI 3785 mit einbezogen.“

„Das klingt ja alles wirklich sehr überzeugend,“, ich räuspere mich kurz, um meiner Antwort eine gewisse Autorität zu verleihen, „aber ich bin mir sicher, dass es nicht nötig sein wird, mich hier für die nächsten Tage festzuhalten.“

Der Herr, der mich begrüßt hat, wendet sich mir wieder zu: „Leider muss ich Sie in dieser Hinsicht enttäuschen. Meine Kollegin hat Ihnen soeben ein äußerst positives Beispiel für unsere Arbeit mit der KI 3785 genannt. In der Vergangenheit hat sich jedoch schmerzlich herausgestellt, dass es nicht immer menschenfreundliche Eigenschaften sind, die den wichtigsten Menschen dieser Welt auszeichnen.“

Na toll, jetzt werde ich wohl auch noch für einen Massenmörder gehalten. Das schlechte Gefühl vom Anfang wandelt sich nun zunehmend in Übelkeit um.

Nun legt der Herr auch noch seine Hand auf meine Schulter, als würde er mich schon Jahre lang kennen: „Deshalb würde ich nun vorschlagen, dass wir mit der Arbeit beginnen.“ Er deutet auf einen Sitzplatz am vorderen Ende des Tisches. Langsam, weil ich mir noch nicht ganz sicher bin, was diese Runde von Anzugträgern nun von mir erwartet, steuere ich den Stuhl an und setze mich.

Die restlichen drei Anzugträger, sie sehen im Grunde eigentlich alle gleich aus, hatten in den letzten Minuten eifrig auf ihren Tablets gearbeitet. Jetzt aber blickt einer von ihnen hoch und trägt in einem unglaublichen Tempo erste Untersuchungsergebnisse vor.
Ich verstehe kein Wort.

Mir ist die ganze Situation sehr unangenehm. Mein Blick gleitet immer wieder zur Tür des Raums. Ich hoffe inständig, dass das hier alles nur ein großer Fehler ist.
Währenddessen wuseln die Dame und die vier Herren emsig um den Tisch herum. Mit zunehmender Zeit werden ihre Bewegungen immer schneller und ihre gedämpften Gespräche immer lauter.
Ich will hier weg.

Plötzlich und ohne ein mir ersichtliches Zeichen verstummen alle fünf. Dann wendet sich mir der Herr vom Anfang wieder zu:
„Wir sind sehr froh, Sie bei uns zu wissen. Ich bin mir sicher, dass Sie eine wirklich bedeutende Rolle für unseren Planeten spielen, aber…“
„Sie sind in jederlei Hinsicht durchschnittlich“, vollendet die Dame seinen Satz. 
Einer der restlichen drei Herren murmelt noch leise: „Cholesterin leicht erhöht.“

„Was wir Ihnen eigentlich verdeutlichen wollen, ist“, fährt die Dame unbeirrt fort, „dass Sie weder einen künstlerischen noch einen wissenschaftlichen oder sonst einen Wert für diese Welt haben.“

Fassungslos ist diesem Moment noch eine komplette Untertreibung meiner Gefühle.

„Sie wollen mir doch jetzt nicht ernsthaft erklären, dass ich der wichtigste Mensch der Welt bin, und Sie keine Ahnung haben warum.“

In diesem Moment erklingt ein kurzes „Pling“.

Sofort schauen alle auf den riesigen Bildschirm an der Wand. Dort befindet sich auf einmal ein neuer Name und auch die Diagramme haben sich verändert.

„Sie waren der wichtigste Mensch der Erde.“

Mit verschränkten Armen dreht sich die Dame zu mir um: „Jetzt sind Sie Platz 1.655.431.598. Das bedeutet, dass Sie…“

Ich lasse die Dame nicht weiterreden. Stattdessen mache ich das einzig sinnvolle. Das, was ich schon vor einer halben Stunde hätte tun sollen. Ich gehe. Nichts kann mich jetzt noch aufhalten.

Ohne nach links und rechts zu schauen, stürme ich in das nächste Café, bestelle ein Stück Kuchen und feiere ganz für mich allein, dass ich der wichtigste Mensch dieser Welt war, für 54 Minuten.

Autorin / Autor: Nina