Veilchenblau, rosenrot, tot

Von Lara Klingsporn, 18 Jahre

„Und das linke Bein hoch, eins, zwei, drei… Und wieder absetzen. Tief einatmen, ein, aus… Super machen Sie das! Und das andere Bein, und eins, zwei, drei…“
Mechanisch folgt sie den Bewegungen der Trainerin, die in grell pinken Leggings vor dem Spiegel steht und sich im Takt der Musik verrenkt. Hebt ihre eigenen langen, makellosen Beine, wenn die Frau am Spiegel das tut. Simuliert ein Ein- und Ausatmen, wenn die restlichen Kursteilnehmer Luft holen müssen.
Macht… sowas den Menschen wirklich Spaß?
Aerobic ist nach Badminton, Kung Fu und Pilates das vierte Hobby diese Woche, das Emilia für sich zu entdecken versucht. Ohne Erfolg. Nicht, dass sie diese Tätigkeiten hassen würde, und sich nur wünscht, dass sie vorübergehen. Sie ist einfach in diesen Kursen, führt alle Bewegungen perfekt aus und verspürt doch keine Genugtuung. Für nichts verspürt sie Genugtuung.
Außer für ihn. Und er ist weg, verschwunden, als er sie satthatte und sie ihm wohl nichts mehr bieten konnte. Irgendwann abgehauen, nicht wiedergekommen zu ihr, zu dem eigentlich perfekten Haus, das jetzt viel zu groß für sie alleine ist.
Woran es liegt, dass er sie nicht mehr wollte? Emilia weiß, dass es nichts mit ihr zu tun hat, sondern mit ihm, mit seiner Meinung, die sich offenbar geändert hat. Stundenlang hat er Emilia in Beratungsgesprächen bis aufs Haar festgelegt, jedes Detail von ihr bestimmt, von ihren wesentlichen Charakterzügen bis hin zu der Form ihrer Fingernägel. Er hat sich ausgesucht, wie sie sein muss, um perfekt zu sein, und LoveOnDemand hat sie dann genau so erschaffen.
Sie hätte sein Traum sein müssen. Das war sie auch, zumindest die ersten Jahre.
Und trotzdem will er sie nicht mehr.
Wieso?
„So, und runter auf die Matten! Gehen Sie auf die Knie, und das Bein nach hinten strecken, eins, zwei…“
Es ist seltsam, zu beschreiben, was der Gedanke an ihm in ihr auflöst. Da ist diese Leere in ihr, und sie weiß, dass nur er diese Leere füllen kann. Erst, wenn er zurückkommt, wird sie sich wieder vollständig fühlen, nicht mehr wie ein dickes Buch, dessen Seiten beim Aufschlagen völlig unbeschrieben sind.
Rational betrachtet gibt es keinen Grund, ihn zu vermissen, nicht einmal einen Grund, ihn wirklich zu mögen mit der zu großen Klappe, den Aggressionsproblemen und dem ewigen Gestank. Und dennoch. Sie wurde programmiert, um ihm ihre ewige Liebe, Leidenschaft und Hingabe zu schenken, nur ihm allein, und dass bis in alle Ewigkeit. Nun ist er also weg, wohin und mit wem weiß sie nicht, und der Platz in ihrem metaphorischen Herzen ist so von ihm besetzt, dass dort kein Platz mehr für etwas anderes ist. Nicht einmal für Aerobic.
„So, Sie haben es geschafft! Gratulation. Jetzt dehnen wir uns noch kurz, aber das Schlimmste ist schon vorbei. Sie können stolz auf sich sein!“
Vielleicht wäre Emilia wirklich stolz auf sich, wenn sie so etwas wie Stolz fühlen könnte. Wenn sie irgendetwas fühlen könnte.

Die Beraterin ist nicht wie sie, das erkennt Emilia in der Sekunde, in der die blonde Frau in den perfekt maßgeschneiderten Kleidern den Raum betritt. Sie ist… echt. Keine „Geformte“, wie es hier offiziell heißt. Kein „Roboter“, wie sie hinter vorgehaltenen Händen genannt werden.
Die Fremde lächelt ihr strahlend zu, ehe sie sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches sinken lässt. Dann hievt sie einen dicken Ordner hervor und legt ihn geräuschlos auf der Tischplatte aus Mahagoni ab.
„Guten Tag“, begrüßt sie Emilia. „Ich bin Courtney und helfe Ihnen heute weiter. Sie hatten ein Beratungsgespräch wegen einer abweichenden Situation  einberufen. Würden Sie mir die Situation bitte erläutern?“
„Ich würde mich gerne umprogrammieren lassen“, antwortet Emilia, ohne die Begrüßung zu erwidern.
Courtneys Augen flackern, das Zeichen, dass sie die Situation analysiert hat, verstanden hat, wen – was – sie da vor sich hat. „Darf ich fragen, wieso?“
„Mein Erschaffer hat mich verlassen, und nun habe ich keine Aufgabe mehr, ich kann nichts tun, weil meine Liebe zu ihm mich im Alltag ständig behindert. Deswegen würde ich mich gerne umprogrammieren lassen, um meine Gefühle zu ihm abzuschaffen und frei sein zu können.“
„Nun“, Die Frau verzieht skeptisch den Mund. „Das wird leider nicht möglich sein.“
„Wieso?“
„Hier bei LoveOnDemand sind wir darauf spezialisiert, künstliche Intelligenzen – um es so technisch auszudrücken – mit speziellen Zuneigungen zu kreieren. Die bedingungslose Liebe für die empfangende Person ist quasi der wesentliche Baustein der Programmierung. Ohne die würde die gesamte Software nicht funktionieren.“ Courtney schlägt den Ordner auf, blättert auf Anhieb zur richtigen Seite und beginnt vorzulesen. „Im Falle einer Unzufriedenheit des Kunden und des Wunsches nach einer Rückgabe der Bestellung – Bestellung, das bist du – hat er die Möglichkeit, die Ware umprogrammieren zu lassen. In diesem Fall bindet sich die Ware an eine neue Bezugsperson und widmet jener all ihre Gefühle mit der gleichen Intensität wie zuvor.“ Sie blickt wieder auf. „Du verstehst?“
„Ich kann mich also nur auf jemand anderen umschreiben lassen, aber meine Gefühle nicht komplett aus der Software entfernen lassen?“
„Exakt. Du musst nur wissen, dass diese Prozedur mit Mehrkosten verbunden ist.“
„Und zwar?“
Courtney nennt ihr die Summe, die für diesen Vorgang zu bezahlen wäre, und wäre Emilia ein Mensch, würde ihr die Kinnlade angesichts dieser Zahlen nach unten fallen.
„Aber das ist unsinnig“, beginnt sie nach einigen Sekunden. „Ich will ja niemand neuen haben, den ich liebe. Ich möchte gar keinen haben. Ich möchte einfach unabhängig… leben können.“
Ihr Gegenüber schürzt die Lippen. „Du lebst nicht. Leben, das tun wir Menschen, und du bist kein Mensch. Du bist eine Geformte, nur dafür geschaffen, Liebe zu schenken. Würdest du das nicht mehr tun, wärst du überflüssig. Wenn du dich also auf jemanden umschreiben willst, kannst du gerne wiederkommen. Aber die Entfernung des Gefühlsapparates wird nicht stattfinden.“
Du lebst nicht. Du lebst nicht. Sie lebt nicht? Natürlich lebt sie! Vielleicht nicht mit Herzschlag, Gefühlen und allem drum und dran, vielleicht nicht wie natürlich geborene Menschen, aber… Sie lebt doch?
„Aber-“
„Kein aber“, unterbricht Courtney sie forsch. „Was du willst, geht nicht. Deine bedingungslose Liebe gilt deiner Bezugsperson, und das bis an dessen Lebensende. Wie gesagt, du kannst die Bezugsperson gerne ändern. Mehr ist nicht drin.“ Sie schlägt den Ordner zusammen und steht auf. „Und jetzt entschuldige mich, ich habe noch Gespräche. Mit… richtigen Kunden. Du findest den Weg nach draußen bestimmt allein.“ Sie wirft Emilia noch einen letzten abwertenden Blick zu, dann dreht die blonde Frau sich um und verlässt den Raum.
Emilia bleibt zurück, genauso ratlos wie zuvor. Sie will keine neue „Bezugsperson“. Sie will einfach nur frei sein.
Müsste sie denn wirklich ein Mensch sein, um frei sein zu dürfen?

Im Millisekundentakt fährt die Nadel der Nähmaschine auf den blutroten Stoff hinab, webt die Stücke aus Seide zusammen, Naht für Naht für Naht. Wieder ein neuer Tag, wieder ein neues Hobby, das Emilia zu ihrer neuen Leidenschaft zu machen versucht. Vergeblich. Obwohl sie das Nähen ebenso perfekt beherrscht wie die mittlerweile fast fünfzig anderen Tätigkeiten, die sie schon ausprobiert hat, kommt da einfach keine Erfüllung.
Nur, dass sie darauf mittlerweile nicht mehr angewiesen ist. Sie hat einen Plan, einen, um endlich aus ihrer Situation herauszukommen.
Drei Wochen sind seit dem Gespräch mit Courtney vergangen, drei Wochen, in denen sie alle ihre Möglichkeiten durchgespielt hat. Möglichkeit A: Nichts tun, und damit klarkommen, dass sie sich bis zum Ende ihrer Existenz in zwei, drei, vier Jahrzehnten irgendwie leer fühlen wird. Möglichkeit B: Sich jemand anderen suchen, der bereit ist, für sie diesen Preis zu bezahlen, damit sie umprogrammiert werden kann. Nicht, dass das im Entferntesten realistisch wäre. In dieser Gesellschaft gibt es fast niemanden mehr, der noch keinen eigens für ihn geformten Partner bei LoveOnDemand bestellt hat. Und selbst wenn sie jemanden fände, der noch nicht vergeben ist, wäre der wohl kaum bereit, mehrere Tausend Euro für eine Geformte bezahlen, die eigentlich als jemand anderes Seelenverwandte erschaffen wurde.
Möglichkeit C: Geld auftreiben, und sich auf sie selbst umprogrammieren lassen. Zwar wäre sie dann unsterblich selbstverliebt, aber immer noch besser als die momentane Situation, oder?
Nach wenigen Stunden hatte sich diese Möglichkeit aber schon wieder erledigt. Ein kurzer Anruf bei LoveOnDemand, und ihr wurde klargemacht, dass sie sich nur auf „Richtige Menschen“ umschreiben lassen kann. Die Option Selbstliebe war damit auch erledigt.
Drei Optionen also, von denen eine unansprechender war als die andere. Die Wahl zwischen Pest, Cholera und beidem zusammen, sozusagen.
Sie war schon kurz vor dem, was einer Verzweiflung wohl am nächsten käme. Und dann kam er plötzlich: Der Gedanke. Der Plan. Die Lösung. Das Ende ihrer Probleme.
Die ultimative Idee, und ausgerechnet Courtney war es, die sie ihr in den Kopf gepflanzt hat. Wenn auch unabsichtlich.
Es war dieser eine Satz, diese paar Worte, die die Frau vermutlich ohne groß nachzudenken von sich gegeben hatte: Deine bedingungslose Liebe gilt deiner Bezugsperson, und das bis an sein Lebensende. Damit war klar, was Emilia zu tun hatte.
Solange er lebte, würde sie ihn lieben, lieben müssen, solange er lebte, würde sie diesen Platz in ihrem Kopf nie mit etwas anderem füllen, nie frei sein können. Eigentlich wäre es optimal, wenn er sie einfach wieder zurücknehmen, sie zurücklieben würde. Problem gelöst. Nur ist das in den Monaten, die er sie jetzt schon allein gelassen hat, Tag für Tag unwahrscheinlicher geworden.
Wenn sie also wirklich frei sein will, gibt es für Emilia nur eine Möglichkeit.

Mit Befriedigung mustert sie die roten, gelben und blauen Blumen, die wie ein Regenbogen aus dem Beet sprießen. Streicht über die Katzenminze, den Rittersporn, die Hortensien. Das Beet ist ein kleines Meisterwerk geworden, eines ihrer besten Werke bisher. So gut, dass sie dafür den alljährlichen Ernst-Benaly-Preis für den talentiertesten Nachwuchsgärtner gewonnen hat.
Es fühlt sich gut an, ein Talent im Gärtnern zu sein. So gut.
„Ihre Geschichte ist wirklich inspirierend“, sagt der Journalist neben ihr, der einen Artikel über dieses besondere Talent der Gärtnerszene schreiben soll. „Man könnte meinen, dass Sie nach dem Tod ihres Partners verzweifelt wären, jetzt, wo Sie keinen Lebenszweck mehr hatten. Stattdessen haben Sie sich voll der Gärtnerei gewidmet. Wie geht das?“
„Nun, der Tod meines Mannes war ein… bedauernswerter Unfall. Aber ich wusste, dass ich weitermachen muss. Nachdem meine Hingabe für ihn aus meinen Einstellungen entfernt worden war, war alles so… leer, und ich wusste, dass ich eine neue Leidenschaft brauche. So bin ich aufs Gärtnern gekommen, und wie Sie sehen, hat es mir gefallen.“ Sie lächelt, auf diese aufrichtige Art, mit einer Spur von Trauer in den Augen. Schließlich ist sie immer noch zerstört über den tragischen Tod ihres Partners. Nachts von Räubern überfallen worden und getötet, einfach so, ein Gewaltverbrechen, das man wohl nie wird aufklären können.
Zu schade aber auch.
„Haben Sie Tipps für andere Gärtner, die Sie als Inspiration sehen?“
„Ich würde ihnen sagen, dass sie immer nach ihrem Gefühl gehen sollen, auch, wenn das heißt, komplett neu anzufangen. Manchmal muss man Blumen komplett aus dem Boden reißen, auch wenn sie schön sind. Aber wenn sie nicht in das Beet passen, warum dann an ihnen festhalten?“
Demonstrativ schnappt sie mit ihrer spitzen Gartenschere in der Luft zu. Die Gartenschere, die wahrlich schon mehr als Rosen und Narzissen geschnitten hat. Was, wenn die Schere sprechen könnte, erzählen, was mit ihr passiert ist? Vielleicht wäre Emilia dann an einem anderen Ort als auf der Titelseite des Gärtnermagazins.
Zu gut also, dass die Schere schweigt.
Und als der Journalist seine Kamera sauf Emilia richtet, sie in all ihrer Schönheit und Perfektion ablichtet, fühlt sie in ihrem Inneren das erste Mal den Anflug von Stolz.

Autorin / Autor: Lara Klingsporn