Unsere Entscheidung

Von Pauline Carolin, 21 Jahre

„Welche Schuhe passen besser?“, fragte ich Tom während ich aufgeregt links in einem weißen Turnschuh und rechts in einer hohen Sandalette steckend, vor dem Spiegel herumtänzelte. Die erhoffte Beratung blieb allerdings aus. Stattdessen bekam ich nur ein: „Ist das nicht egal, wir gehen doch nur zum Arzt“, zu hören. Ich rollte mit den Augen. Aber im Ernst, was hatte ich auch erwartet? Gut, dass es noch Nicky gab. Ich tippte auf einen Knopf am Touchscreen des großen Spiegels und keine Sekunde später stand mir mein virtuelles Ich im Spiegel gegenüber. „Guten Morgen Mira, wie kann ich dir heute helfen?“, sagte meine virtuelle Persönlichkeit, die ich Nicky genannt hatte.

„Wir müssen los Mira!“, rief Tom und steckte seinen Kopf durch den Türrahmen. Er stieß einen genervten Seufzer aus als er sah, dass ich schon wieder den Spiegelassistenten verwendete. Tom konnte diesem Zeug nichts abgewinnen. Dabei war Nicky echt nützlich, nicht nur bei Klamottenberatungen. Man konnte sie über alle möglichen Geräte, die man mit dem Internet verband, nutzen. Durch Apps, die man herunterlud, wurden sogar ihre Fähigkeiten erweitert.

„Wir müssen los!“, rief mir Tom aus dem Gang entgegen. „Ist ja gut.“ Nachdem mir Nicky aufgrund der Wetterprognose, dem Weißanteil des Kleides sowie meinem Haut- und Haartyp zu den weißen Schuhen geraten hatte, flitze ich endlich zum Auto, in dem Tom schon ungeduldig auf mich wartete. Als ich ihn fragte, ob er auch so nervös war wie ich, gab er mir nur ein müdes Gähnen als Antwort und schüttelte dabei den Kopf. Im Radio lief fröhliche Musik, der Sonnenschein hielt gerade noch an und als Tom mit dem Auto auf den Parkplatz fuhr, hatte ich einfach die Hoffnung, dass alles gut werden würde.

Voller Aufregung lag ich auf der Liege im Sprechzimmer. Gleich würden wir es erfahren. Ich konnte es gar nicht mehr erwarten, die Antwort auf meine Frage zu bekommen, ob es ein Junge oder ein Mädchen werden sollte. Emil. Emil sollte das Baby heißen, wenn es eine Junge werden würde. In Toms Augen war Sebastian der perfekte Name, aber ich war da nur schwer kompromissbereit. Schon als Kind wusste ich, dass mein Sohn Emil heißen sollte. Bei einem Mädchen waren wir uns einig: Lily. Während meine Gedanken wie immer Achterbahn fuhren, saß Tom ganz entspannt daneben und schenkte mir ein ermattetes Lächeln. Die ganze Nacht war er aufgeblieben und hatte an dem Zimmer gearbeitet.

Endlich kam die Frau Konrad, die Ärztin. Langsam trottet sie in den Raum und schloss vorsichtig die Türe. „Hallo Frau Frisch. Hallo Herr Frisch“, sie schüttelte unsere Hände. Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich gegenüber von uns. Was hatte das denn zu bedeuten? Paranoid wie immer spannten sich in meinem Kopf bereits die wirrsten Gedanken zusammen. „Unsere Maschine hat den pränatalen Bluttest ausgewertet. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihr Kind mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit mit Trisomie 21 auf die Welt kommen wird.“ Ich spürte wie Tom neben mir zusammenzuckte. Das hatte er nicht erwartet. Das hatten wir beide nicht erwartet. Die Ärztin redete weiter, aber ich blendete alles aus. Wir hatten alles perfekt geplant. Da waren meine Sorgen eben doch berechtigt. Tom machte sich oft über mich und all meine Gedanken lustig und dann kam das. „Könnten Sie uns bitte sagen, ob wir einen Jungen oder ein Mädchen bekommen, bevor Sie uns hier in aller Ausführlichkeit über die Möglichkeiten der Abtreibung informieren?“, hörte ich Tom auf einmal sagen, was mich zurück ins Gespräch brachte. Abtreibung? Ich spürte, wie mein Herz begann schneller zu schlagen. An so etwas hatte ich gar nicht gedacht. „Achso Ihr Kind, das wäre ein Mädchen“, antwortete Frau Konrad ganz beiläufig. „Wäre?“

Das war zu viel für mich. Ich fühlte mich plötzlich wie eingepfercht in diesem kleinen stickigen Sprechzimmer. Mit den Tränen kämpfend und so schnell, wie es meine tauben Beine zuließen, verließ ich den Raum und ging nach draußen, wo ich, mit den Händen auf meine Knie gestützt, versuchte, nach Luft zu schnappen. „Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“, fragte mich schließlich eine Sprechstundenhilfe. Unfähig zu sprechen, streckte ich nur meine Hand aus und drehte eine Runde um den Parkplatz. Eine halbe Ewigkeit später kam auch endlich Tom mit einem Dutzend Flyer in der Hand, welche ich auf der Heimfahrt wie wild studierte. „Hör auf damit“, unterbrach Tom schließlich das Schweigen. „Was soll ich denn sonst machen?“, fragte ich ihn und brach in Tränen aus.

Selbst die Psychologin hatte zu mir gesagt, dass ich mir genau überlegen sollte, ob ich bereit für ein Kind war. Statt mir eine Antwort zu geben, schaltete Tom das Radio ein. Er wusste, dass ich erst einmal eine Weile brauchte, bis ich mit ihm darüber reden konnte. „Wir schaffen das schon“, sagte er, als wir aus dem Auto ausstiegen. „Meinst du wir schaffen es, eine Entscheidung zu treffen oder meinst du wir schaffen es, ein Kind mit Behinderung großzuziehen?“ Anstelle einer Antwort umarmte mich Tom und ich vergrub mein Gesicht an seiner Schulter. „Alles wird gut Mira.“ Ich nickte, während wir Hand in Hand zurück ins Haus gingen. Dort überkam mich auf einmal eine solche Müdigkeit, dass ich hoch ins Schlafzimmer trottete und mich auf dem Bett fallen ließ.

Vom lauten Regen wachte ich wieder auf. Ich öffnete die Balkontür und ging hinaus. Es fühlte sich so gut an. „Draußen regnet es. Du solltest wieder hereinkommen, sonst wirst du krank“, hörte ich eine Stimme vom Schlafzimmer aus sagen. Ich hatte ganz vergessen, Nicky auszuschalten. Drinnen hielt ich Ausschau nach Tom, doch ich konnte ihn nirgends finden. Wahrscheinlich war er wieder in die Arbeit gefahren. „Nicky, ruf Mama an“, ich wollte jetzt nicht allein sein. Leider ging weder sie noch meine Schwester Klara ans Telefon. Warum musste Tom immer abhauen, wenn es darauf ankam? Um mich abzulenken versuchte ich etwas zu lesen, Fernsehen zu schauen, ich machte mich sogar wieder ans Stricken, bis mir wieder einfiel, für wen ich die kleine Mütze eigentlich fabrizierte.

„Nicky?“, fragte ich und drücke auf das zentrale Gerät im Wohnzimmer, welches mit allen anderen Geräten, über die ich Nicky empfangen konnte, verbunden war. „Hallo Mira. Was kann ich für dich tun?“ „Was weißt du über das Down-Syndrom?“ Statt mir eine sinnvolle Antwort zu geben, ratterte meine „persönliche Assistentin“ sämtliche wissenschaftliche Artikel herunter, die mich genau über die Entstehung dieser Beeinträchtigung informierten. „Schalte dich aus, Nicky.“ Ich wusste gar nicht, was ich hören wollte. Schließlich beschäftigte ich mich mit den Flyern, die Tom von Frau Konrad bekommen hatte. Ein großer Teil dieser Flyer beschäftigte sich mit dem Thema Abtreibung. Allein bei dem Gedanken daran wurde mir schlecht. Wir wollten doch unbedingt ein Kind haben.

Andere Flyer beinhalteten die möglichen Folgen, mit denen Betroffene zu leben hatten. Die Bannbreite war so riesig. Insbesondere die Gefahr, dass bei meinem Kind ein Herzfehler auftreten könnte, beängstigte mich. Jetzt kamen wieder die Tränen. Meine Mama konnte ich immer noch nicht erreichen und auch meine Schwester schien unterwegs zu sein. Ich wollte gerade Tom schreiben, wann er endlich von der Arbeit nach Hause käme, als er mir eine SMS mit:

Tut mir leid, es wird heute später. Muss das Projekt noch fertig machen. Lass uns morgen reden, schickte.

Also blieb mir nichts anderes übrig, als mich wieder den Prospekten zuzuwenden. Wieder erfolglos. Ich pfefferte einen nach dem anderen in die Ecke, bis ich schließlich einen in der Hand hielt, der mit seiner Eingangsfrage „Suchen Sie Unterstützung im Entscheidungsprozess?“, mein Interesse weckte, denn Unterstützung suchte ich auf jeden Fall, deshalb las ich weiter.

Nutzen Sie Ihr virtuelles Ich als Unterstützung, Beratung und empirisch gesicherte Einschätzung. Sollten Sie noch nicht über ein virtuelles Ich verfügen, können Sie dieses Produkt ganz einfach auf der Website unserer Firma DF (Digital Freedom) erwerben. Alle, die bereits über die Standardversion verfügen, können ihrem Assistenten über den Online Store BeingVirtual mithilfe der App Health Expertise die entsprechenden Fähigkeiten verleihen.

Den übrigen Text las ich gar nicht mehr. Ohne überhaupt nachzudenken, griff ich zu meinem Handy, öffnete den BeingVirtual App Store, in dem man Nicky mit bestimmten Einkäufen upgraden konnte und lud die App für 4,99 Euro herunter. Nach dem Download schaltete sich Nicky automatisch ein. „Hallo Mira. Herzlichen Glückwunsch, jetzt kann ich dir auch mit meinem medizinischen Rat zur Seite stehen. Über die App auf dem Handy siehst du verschiedene Funktionen.“

Ich scrollte durch die App bis ich schließlich zu Pränataldiagnostik gelangte.
„Welche Informationen benötigst du zur Pränataldiagnostik? Möchtest du etwas zu dem Verfahren, den Risiken oder dem Ergebnis wissen?“
„Zu dem Ergebnis. Eine Untersuchung hat das Down-Syndrom bei meinem ungeborenen Kind festgesellt. Ist es sinnvoll diesen Test zu wiederholen?“
„Da die Untersuchungen zu 99 Prozent sicher sind, ist eine Wiederholung in der Regel nicht empfehlenswert. Wenn du mehr über Down-Syndrom erfahren willst, dann sage ja oder klicke auf den grünen Button auf deinem Handy.“
„Ja.“
„Was möchtest du wissen?“
„Ich möchte gerne wissen, was auf mich, als eine potentielle Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom zukommt.“
„Was meinst du mit potentiell?“, fragte Nicky, „Heißt das, du weißt noch nicht, ob du das Kind bekommen möchtest?“
Wusste ich es wirklich noch nicht? Zuvor hatte ich mir diese Frage gar nicht gestellt. Aber langsam überkamen mich die ersten Zweifel, ob ich nicht doch über eine Abtreibung nachdenken sollte.
„Ja“, antwortete ich deshalb.  Auf meinem Handydisplay erschienen verschiedene Funktionen. „Du kannst nun die Kategorien Ressourcen, Gesundheit sowie Kinderwunsch und psychische Stabilität nach der Reihe auswählen. Jede Option wird unterschiedlich gewichtet. Am Ende erhältst du eine Empfehlung.“
„Was für eine Empfehlung?“, fragte ich zitternd, wobei ich die Antwort bereits erahnen konnte.
„Eine Empfehlung, ob es sinnvoll ist, das Kind zu bekommen“, sagte Nickys nüchterne Computerstimme.
Allein bei dem Wort sinnvoll zuckte ich zusammen. „Nicky, schalte dich aus.“

Ich wollte das nicht. Das war doch unsere Entscheidung. Tom… Warum konnte er nicht endlich zu Hause sein. Auch der dritte Versuch meine Mama und Schwester zu erreichen blieb erfolglos. Das Fernsehprogramm war nach wie vor nicht besonders vielversprechend. Eine Schokoladentafel später saß ich wieder am Handy und scrollte durch die „perfekten“ Familienbilder, die meine Cousine auf Instagram gepostet hatte. Keine Minute später und ich öffnete wieder Health Expertise.

„Willkommen zurück.“
Zuerst beschäftigte ich mit der Kategorie: Ressourcen. Ich hatte zahlreiche Fragen auf einer Skala von eins bis zehn zu beantworten. Bei materiellen Ressourcen gab es kein Problem. Der Knackpunkt waren die zeitlichen und persönlichen Ressourcen. Ich selbst traute mir zu, voll und ganz für mein Kind dazu sein, weshalb ich auf die 10 klickte. Aber wie war das mit Tom? Und meine Eltern, könnten die mich unterstützen? Die waren mit ihrem Bioladen ganz schön beschäftigt und gerade zu meinem Vater pflegte ich seit meinem letzten Krankenhausaufenthalt nicht gerade das beste Verhältnis. Nun zu Tom. Ich war vollkommen überzeugt, dass er unbedingt ein Kind wollte, aber um für Lily wirklich da zu sein, gerade mit all den Komplikationen, die auf uns zu kamen, müsste er in der Arbeit definitiv kürzertreten. Ob er das konnte? Eher weniger. Die App suchte automatisch nach sozialen Einrichtungen und Ärzten in der Umgebung, leider sah es hier auf dem Lande ehr mau aus. Könnten Kindergarten und Schule ausreichend Unterstützung bieten?

Bis in die Nacht beantwortete ich an die hundert Fragen. Schließlich war die erste Kategorie ausgefüllt. Kurz nachdem ich das Licht ausgeschaltet und mich in meine Decke gekuschelt hatte, kam Tom nach Hause. Ich stellte mich schlafend. Ich wusste nicht warum, aber ich wollte jetzt nicht mit ihm reden. Aber ich konnte unmöglich. Über die Fragen in der App hatte ich zuvor gar nicht so nachgedacht. Was war, wenn ich am Ende allein dastand? Wie würde mein Kind allein in einer Schule, die nicht dafür ausgelegt war, zurechtkommen? Fragen über Fragen quälten mich, weshalb ich ins Wohnzimmer trottete, Nicky anschaltete und die nächste Kategorie bearbeitete. Hier ging es um den gesundheitlichen Aspekt. Ich tippte die Testergebnisse in mein Handy. Welche Beeinträchtigung genau und in welchem Ausmaß später einmal auftreten würden, konnte jetzt noch nicht bestimmt werden, weshalb Nicky Werte aus der Statistik übernahm. Ich blickte auf die Zeitanzeige. Es war kurz nach vier. „Gleich hast du es geschafft, jetzt kommen wir zu Kinderwunsch und psychische Stabilität.“

„Was machst du da?“, ich hatte gar nicht bemerkt, dass Tom die Treppe hinunter ins Wohnzimmer gekommen war.
„Ich recherchiere.“ Tom setzte sich neben mich und warf einen Blick auf mein Handy. Als Nicky „Hallo Tom“, sagte, stöhnte dieser genervt und nahm mir das Handy aus der Hand:
„Aber doch nicht mit diesem Ding.“
„Wieso nicht? Du warst schließlich den ganzen Tag nicht da.“
„Es tut mir leid Mira. Ich war arbeiten.“
„Du bist immer arbeiten.“
„Was soll das denn jetzt? Wir mussten unbedingt das Projekt fertig machen. Heute war der Abgabetermin. Es war sowieso schon großzügig von Karl, dass ich dich heute Morgen zum Arzt begleiten durfte.“
„Mich begleiten? Ach, so siehst du das. Es geht hier um unser GEMEINSAMES Kind. Ich saß den ganzen Tag allein zu Hause und konnte niemanden erreichen.“

Wütend marschierte ich aus dem Wohnzimmer, zog mir Jacke und Schuhe an, schnappte mir den Wohnungsschlüssel und knallte die Tür zu, nicht ohne Toms „Mira, warte doch“, zu ignorieren.

Als ich zurückkam, war Tom schon wieder unterwegs. Genau das hatte ich gemeint. Den Tag verbrachte ich allein. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, mich an die letzte Kategorie zu trauen, doch ich hatte Angst. Am Nachmittag musste ich sowieso wieder in die Apotheke, um zu arbeiten. Also vertrödelte ich den Vormittag mit Einkaufen und langweiligen Serien. Nach der Arbeit fuhr ich zu Lucy, meiner Freundin. Statt eines „Das musst doch du wissen“, hatte ich mir eigentlich einen Rat von ihr erhofft. Als ich nach Hause kam, lag Tom schon im Bett und schlief. Auch am Mittwoch und Donnerstag bekam ich ihn kaum zu Gesicht, was vor allem daran lag, dass ich ihm aus dem Weg ging. Außerdem war ich beschäftigt. Die Fragen der App, die mich viel Überwindung kosteten, waren sehr detailliert und nahmen viel Zeit in Anspruch. Als Tom an diesem Abend zum wahrscheinlich 50sten Mal das Gespräch mit mir suchte, verkündete Nicky mir endlich das Ergebnis.

„Aufgrund der vielen Risiken und der Tatsache, dass Tom und du euerem Kind nicht gerecht werden könnt, empfehle ich dir, das Kind nicht zu bekommen.“
Dieser Satz traf mich bis ins Mark. Ich fing an zu schreien und konnte nicht mehr aufhören. Und Tom? Tom war da. Er hielt mich fest in seinen Armen.
„Sch Mira. Sch. Wir schaffen das.“
Jeder andere Mann hätte die Flucht ergriffen. Aber nicht Tom. Er ließ mich nicht los. Und das war der Moment. Das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass ich mich entschieden hatte. Ich hatte mich entschieden, dass ich dieses Baby zur Welt bringen wollte und ohne, dass ich mit Tom darüber sprach, wusste ich, dass er genauso dachte.

Autorin / Autor: Pauline Carolin - Stand: 21