Unberechenbar

Von Coco, 22 Jahre

„Sport ist Talent. Literatur ist Liebe. Handwerk ist Leidenschaft. Doch die Digitalisierung scheint wie ein Dementor die Seele aus allen drei Disziplinen zu saugen!“, sagt Robert bewegt und lehnt sich an die Tischkante. Sein älterer Bruder Franz lässt dieser Gefühlsausbruch jedoch relativ kalt. Er ist es gewohnt, dass Robert nicht viel von seinem Beruf beim nahegelegenen Institut für Robotik und Mechatronik hält.
„Robert, vergleichst du den technologischen Fortschritt gerade mit Harry Potter?“, fragt dieser gelassen und schüttet sich heißen Kaffee ein.
„1996 – wo pulsierte das Blut, als DeepBlue den Schachgroßmeister Garry Kasparov besiegte? Oder 2016 – wo flossen die Tränen, als AlphaGo dem Mythos Go ein Ende bereitete? Wo blieb da die Menschlichkeit, ich möchte ja nur ein bisschen Barmherzigkeit...“, sagt Robert und wirft die Arme nach oben.
„Hmm... Menschlichkeit möchtest du. Ich glaube, würde ein Computer alle Zeitungen der Welt analysieren, müsste er wohl schlussfolgern der Mensch sei ein Tier“.


„Oma, es ist da!“, aufgeregt kommt Gerda in die Küche gestürmt. „Komm schon, das musst du dir unbedingt ansehen!“, ungeduldig springt die Neunjährige auf und ab.
„Liebling, warte, ich brauche erst noch meine Brille.“, sagt Annelie lachend und greift nach ihrem mit Rosen besticktem Brillenetui. Dann folgt sie ihrer Enkelin durch den schmalen Flur ins Freie.
„Oh, die Farbe sieht wirklich klasse aus! Wie toll die schimmert.“
Roségold, um genau zu sein. So eine exklusive Farbe hatte sie zuvor an noch keinem Wagen gesehen. Aber Annelie hatte nach dem Tod ihres geliebten Ehemannes Konrad vor zwei Jahren nur noch selten ihre gewohnte Umgebung verlassen, in der Zeit kann sich einiges auf den Straßen getan haben. Mit stolzen 70-Jahren ist dieses schicke wie von Zauberhand selbstfahrende Auto nun ihr erster Wagen überhaupt. Für den Führerschein fehlte ihrer siebenköpfigen Familie damals einfach das Geld. Ihr Sohn Franz hatte das Modell ausgesucht, es gelte als besonders sicher, die Farbauswahl hatte er dann, die Augen verdrehend, seiner Mutter überlassen.

„Die Schlüssel hast du schon, oder Oma?“, schlagartig stellt Gerda das Springen ein und blickt ihrer Oma hoffnungsvoll in die Augen.
„Die Schlüssel habe ich schon. Aber wollen wir nicht warten bis Emil morgen von der Klassenfahrt zurück ist?“
„Mit Emil können wir doch morgen noch mal losfahren...“, enttäuscht blickt Gerda zu Boden und malt mit ihrem rechten Fuß imaginäre Kreise auf den Asphalt.
„Aber es ist auch schon fast dunkel, Liebling...“
Leise beginnt Gerda zu schluchzen und reibt sich mit der Hand im Ärmel über die Augen.
„Du hast den ganzen Nachmittag hier im Garten gewartet und geschaut, wann es kommt, stimmt's?“
Gerda nickt, immer noch zu Boden blickend. Nun seufzt auch Annelie.
„Na gut spring rein, ich hole noch schnell den Kindersitz aus der Garage. Ich muss ohnehin noch etwas für das Abendessen besorgen.“
„Wie ungewohnt, ein Auto ohne Lenkrad“, sagt Annelie und macht sich am Navigationssystem zu schaffen. „So, dann wollen wir mal. Wäre doch gelacht, wenn wir zwei Hübschen das nicht hinkriegen würden!“

„Ihre voraussichtliche Fahrtzeit beträgt 14 Minuten“, verkündet eine elegante Frauenstimme.
Gerda quiekt und klatscht freudig in die Hände.
Souverän hält der schimmernde Wagen auf der buckligen Straße seine Bahn und auch den engen Kreisel am Ortsausgang passiert er mühelos.
„Jetzt können wir wieder alle zusammen an die Mosel fahren, wie damals als Opa noch lebte! Und du kannst deine Schwester in Paderborn besuchen!“, resümiert Gerda das Gesehene freudig.
„Immer langsam mit den jungen Pferden. Jetzt fahren wir erst einmal Einkaufen“, versucht sie ihre aufgeweckte Enkelin zu beruhigen. Doch da hat diese bereits die Musikanlage entdeckt.
„Oma, kannst du mal Musik anmachen? Vielleicht etwas, dass du früher gehört hast als du noch jung warst.“
Kinder sind einschneidend ehrlich. Als sie noch jung war, tja, das ist tatsächlich schon einige Jährchen her.
„Also damals in der Pferdekutsche habe ich gerne Peggy March oder The Drifters gehört.“ Annelie bahnt sich ihren Weg auf dem Touchscreen des Autoradios. „Dieses Lied ist schön...“

You can smile – every smile for the man
who held your hand neath the pale moon ligth
But don't forget who's takin' you home
And in whose arms you're gonna be
So darlin' save the last dance for me


„Oh, das mag ich auch. Das klingt so schön alt.“, sagt Gerda zustimmend.
„Bei diesem Lied habe ich das erste Mal mit deinem Opa getanzt. Und dieses haben wir auf unserer Hochzeit gespielt...“, sagt Annelie und wechselt zum nächsten Song.

When the night has come
And the land is dark
And the moon is the only light we'll see


„Auch schön. Sag mal Oma was sind das denn für Lichter dahinten?“, fragt Gerda verwundert.
„Lichter?!“

No I won't be afraid
Oh I won't be afraid
Just as long as you stand, stand by me


Plötzlich bremst das Auto schlagartig und Annelie und Gerda werden mit aller Wucht gegen die sich unmittelbar öffnenden Airbags gedruckt. Dann werden ihre Körper ein zweites Mal durch eine enorme Kraft erschüttert. Ein schwarzer SUV prallt frontal in Annelies Wagen, sodass die Frontscheiben beider Wagen zerbersten. Für einige Sekunden ist es gespenstisch still, dann ertönt die Alarmanlage des SUV. Als Gerda für einen kurzen Augenblick zu Bewusstsein kommt, tut ihr alles weh und sie schmeckt Blut an ihrer Lippe.

„Oma, ich will nach Hause. Ich habe Angst!“, weint das junge Mädchen und rüttelt mit der blutverschmierten Hand an Annelies Schulter. Doch die fällt wie ein nasser Sack einfach zur Seite. Erschrocken zieht Gerda scharf Luft ein, dann wird ihr heiß und es klingelt in ihren Ohren bis sie wieder das Bewusstsein verliert.


„Guten Abend, Oberkommissar Martin Sauer“
„Ludwig Neuner vom Münsterländer Tagesanzeiger. Was gibt es?“
„Ich habe einen Unfall in der Kurve der Felix-Wankel-Straße in Unna-Mühlhausen zu melden. Ein 34-Jähriger Fahrer stieß gegen 18:30 Uhr mit einem autonomen PKW zusammen, indem eine 72-Jährige Frau und ihre Neunjährige Enkelin saßen. Die ältere Dame starb noch an der Unfallstelle, der 34-Jährige ist schwer verletzt aber stabil, während das Mädchen weiterhin in Lebensgefahr schwebt. Es entstand ein Sachschaden von etwa 70.000 Euro, aber der ist in dieser Situation wohl mehr als nebensächlich.“, sagt der Oberkommissar und reibt sich über die Augen.
„Das ist ja wirklich schrecklich. Weiß man bereits, wer den Unfall verursacht hat?“
„Nein, zum jetzigen Zeitpunkt ist der Unfallhergang noch unklar.“
„Meinst du es war der selbstfahrende Wagen?“
„Möglich. Jedoch ebenso möglich, dass der andere Fahrer schuld ist“.
„Alles klar, ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend... soweit dies noch möglich ist.“
„Ja, machen Sie's gut.“, sagt dieser und blickt in den dunklen Nachthimmel.

„Wo sind sie, wo ist meine Tochter? Wo ist meine Mutter?!“ Ein völlig aufgelöster Mann kommt auf Martin zu. Er wirkt gereizt, die Grenzen zwischen Trauer über Verzweiflung bis hin zur Aggression sind fließend. Martin weiß, dass er behutsam vorgehen muss.
„Wer sind Sie?“, fragt er ruhig, aber mit fester Stimme.
„Franz Fischer, der Vater von Gerda und der Sohn von Annelie!“, schreit er dem kühlen Beamten entgegen. Wie kann dieser Polizist nur so ruhig bleiben, während Franz Welt gerade zusammenbricht. „Wo sind Sie?!“
„Setzen Sie sich bitte in das Polizeiauto, ich bringe Sie zu... ihrer Tochter“, sagt Martin, der Mitleid mit diesem Mann hat und sich gleichzeitig vor ihm fürchtet.
Franz schreit, nein, er heult laut auf, begibt sich dann jedoch in Richtung Polizeiwagen, der einige Meter vor den Unfallwagen abgestellt ist. Auf Höhe des schwarzen SUV kickt Franz gedankenverloren gegen eine zerbrochene Glasflasche, die im feuchten Gras landet und steigt dann in das blaue Auto. Das goldene Etikett schimmert im Mondschein, Rotwein, 15% Volumenprozent Alkohol.


Es ist drei Uhr nachts, als sein Telefon plötzlich klingelt. Franz hatte sich erst vor etwa einer halben Stunde zu Bett gelegt, zugedröhnt mit Schlaftabletten. Seit dem Tod seiner Mutter vor acht Monaten und seiner Tochter vor fünf Monaten hatte er keine Stunde mehr ohne Hilfsmittel schlafen können. Die Dosis bestimmt er aus dem Gefühl heraus und sein Gefühl zieht ihn nach seiner Tochter und seiner Mutter. „Franz Fischer“, murmelt er ins Kissen.
„Franz hast du getrunken?!“, fragt ihn seine ehemalige Kollegin Raffaela Junda erschrocken.
„Raffa? Vielleicht ein bisschen... was möchtest du?“
„Franz du musst kommen, wir brauchen deine Hilfe!“, Raffas Stimme klingt angespannt.
„Seit Oktober arbeite ich nicht mehr für das Institut.“, verkündet dieser trocken.
„Franz, es war nicht der Wagen deiner Mutter und das weißt du auch!“
„Das Verfahren wurde eingestellt. Ich weiß gar nichts. Nur das mir gerade kotzübel ist.“
„In Tihange hat eine Explosion stattgefunden. Es ist wohl ziemlich schlimm. Sie überlegen das Militär einzusetzen.“
„Na und?“, fragt Franz gespielt ruhig.
„Franz, dass überleben die Soldatinnen und Soldaten nicht. Du kennst doch das Schicksal der Liquidatoren von Tschernobyl...“
„Raffa, warum tust du mir das an?! Ich kann auch nicht helfen.“, sagt Franz erschöpft.
„Wir brauchen dich hier, bitte komm. Dein letztes Projekt könnte uns vielleicht helfen, wir haben keine Zeit. Bitte.“
„Okay.“, Franz wirft sich zurück ins Kissen, während sein Kopf anfängt zu schmerzen.
„Das Taxi ist in zehn Minuten bei dir“.

Franz blickt durch die Scheiben des Taxis in die schwarze Nacht. Ihn durchfährt ein schreckliches Deja-Vu, eine ähnliche Situation hatte er das letzte Mal vor etwa acht Monaten erlebt. Vor dem Institut kommt ihm Raffa aufgeregt entgegen.
„Danke, ich weiß, dass du das nicht für dich machst.“, haucht sie in die kühle Nacht und lotst ihn anschließend zum Labor.
„Mein letztes Projekt war noch nicht erprobt worden, was wenn es die Situation verschlimmert?“, fragt Franz trocken, während in ihm das Blut pulsiert.
„Das Risiko müssen wir eingehen. Deine Roboter halten eine gewisse Strahlenbelastung aus, oder?“, fragt Raffa konzentriert.
„Ja, aber die Konzentration dürfte jetzt noch schwer einzuschätzen sein. Allerdings sind sie nicht ganz unintelligent. Sie können die Situation vor Ort autonom analysieren und reagieren. Allerdings sollten sie allein zur Überwachung dienen, von einem Ausnahmeeinsatz war nie die Rede. Es könnte sie, wie gesagt, überfordern...“
„Zu den Aufgaben zählt das Beseitigen von stark strahlendem Schutt und Graphitblöcken... es bleibt uns keine Wahl, wir müssen es versuchen oder hunderte von Eltern werden ihre Kinder verlieren.“, sagt Raffa und beißt sich auf die Lippe. „Tut mir Leid.“
„Schon okay.“ Franz ist zügig aufgestanden und bewegt sich auf den Ausgang zu. „Ich packe die Maschinen in den Transporter und setze sie zwei km vom Unfallort entfernt ab.“
„Das ist viel zu nah!“
„Noch nicht nah genug. Ich ziehe Schutzkleidung an, mach dir kein Sorgen.“
„Ich komme mit. Du kennst dich dort nicht aus. Ich war schon häufiger beruflich dort.“
Franz dreht sich um und schaut sie besorgt an, muss ihr jedoch zustimmen.


Etwa 15 Kilometer vom Atomkraftwerk entfernt, sehen sie Fahrzeuge des Militärs parken. Raffa steigt aus und führt eine hitzige Debatte mit dem leitenden Offizier.
„Warten Sie hier. Nur ein Versuch. Sonst wird die Presse Ihnen zu Recht die Schuld geben“, ruft Raffa ihm im Weggehen zu und springt zurück in den Wagen. Sie setzen die Maschinen vorsichtig auf den Boden. Es ist neblig und die Luft riecht anders als sonst, aber vielleicht bildet sich Franz dies auch nur ein. Zügig setzt sich das Team zurück in das Auto. Sie steuern die Roboter so gut sie können, den Rest müssen sie ihnen selbst überlassen. Die Verbindung ist teilweise unterbrochen und beschert den beiden in Sekundenabständen eine Gänsehaut.

Zwei Tage später heißt es in der Münsterländer Tageszeitung: „Strahlung in Tihange unter Kontrolle - Gestern haben Maschinen aus dem Institut für Mechatronik und Robotik Münster den atomaren Abfall eindämmen können und bewahrten die Bevölkerung so vor weiteren Todesopfern. Weiterhin schweben hunderte von Menschen in Lebensgefahr. Jodtabletten sind in allen Apotheken ausverkauft. Das Institut gibt bekannt, dass mit verstärktem Team an weiteren Sicherungsmaßnahmen geforscht wird.“

Autorin / Autor: Coco