Pop-Musik wird trauriger

Studie: Hits von heute sind melancholischer, aber auch vielschichtiger

"Ach Mensch, musst du denn wieder diese schreckliche Depri-Musik hören? Kein Wunder, dass du so schlecht drauf bist!" Wenn eure Eltern euch mit diesem Spruch auf die Nerven gehen, kann es möglicherweise daran liegen, dass sie selbst früher noch mit fröhlicheren Songs beschallt wurden als die "Jugend von heute". Das zumindest ist die Interpretation von Christian von Scheve. Er ist Wissenschaftler an der TU Berlin und hat zusammen mit seinem Kollegen E. Glenn Schellenberg untersucht, inwieweit sich Popmusik in den letzten fünf Jahrzehnten verändert hat. Dafür nahmen sie 1.000 amerikanische Top 40-Musikstücke unter die Lupe und stellten fest, dass die Musik im Laufe der Jahre trauriger, aber auch vielschichtiger geworden ist. Zu erkennen ist das zum Beispiel daran, dass in Musikstücken neueren Datums öfter Moll-Tonlagen und langsamere Rhythmen verwendet werden als in Hits von vor 20-30 Jahren. Der Anteil der Moll-Tonarten an den Songs habe sich zwischen den 1960er Jahren und heute sogar verdoppelt: In den 1960er Jahren seien 85 Prozent der Titel in einer Dur-Tonart geschrieben gewesen - etwa die Hits "Help" oder "She loves you" der Beatles - heute sind es nur noch 42 Prozent. Die meisten MusikhörerInnen assoziieren mit langsamen Tempo und Moll-Tonarten Traurigkeit und mit schnellem Tempo und Dur-Tonarten Fröhlichkeit.

So wie die Texte von Popsongs in den letzten Jahrzehnten selbstbezüglicher und negativer geworden seien, habe sich auch die Musik verändert: Sie klingt trauriger und emotional ambivalenter, erklären Schellenberg und von Scheve in der Studie und folgern: Popmusik-HörerInnen gefallen heute emotional komplexere Stücke. Die Popgeschichte der letzten 50 Jahre weise so erstaunliche Parallelen zur musikalischen Entwicklung vom 17. zum 19. Jahrhundert auf. Während in den im 17. und 18. Jahrhundert eindeutig fröhlich oder traurig klingende Musik dominierte, gibt es spätestens in der Romantik die Tendenz zu verschiedenen emotionalen Färbungen innerhalb einer Komposition. Eine größere Skala von Emotionen könne so in einem einzigen Musikstück ausgedrückt werden.

Dass die Musik zunehmend trauriger wird, liegt vor allem an den kulturellen Entwicklungen, die dazu geführt haben, dass wir insgesamt aufmerksamer gegenüber Emotionen geworden seien und Gefühle zunehmend in den Mittelpunkt unseres Selbstverständnisses rückten, so die Wissenschaftler. Ambivalenz (also das gleichzeitige Vorhandensein von Gegensätzen) sei eine wichtige Facette der Modernisierung. Diese Faktoren führen offenbar dazu, dass wir mit unseren Gefühlen reklektierter umgehen als die jungen Generationen von früher, und das spiegele sich in der Populärmusik wider, vermutet der Soziologe von Scheve. Falsch wäre für ihn der Schluss, dass alle immer trauriger werden, weil sie solche Musik hören oder trauriger sind, weil sie solche Musik komponieren. Die Botschaft ist vielleicht eher: Auch Traurigkeit kann genossen werden, sagt der Wissenschaftler.

Aber nicht nur der Inhalt, auch die Länge der Stücke hat laut den Wissenschaftlern zugenommen und auch die Anzahl der weiblichen Künstler ist gestiegen. Wenn also eure Eltern sich wieder mal über euren Musikgeschmack beschweren, könnt ihr ihnen demnächst entgegen halten, dass ihr eben anspruchsvollere Musik hört - mit "mehrdimensionalen emotionalen Reizen", wie es die Wissenschaftler so schön ausdücken.

Autorin / Autor: Redaktion/ Pressemitteilung - Stand: 6. Juni 2012