Tausend Jahre Einsamkeit

Von Christina Adamaski, 20 Jahre

Ich strecke eine Hand aus und beobachte die langsam dahinschmelzende Schneeflocke. In kurzen Stiefeln stapfe ich durch den dichten hohen Schnee, eingepackt in eine rote Steppjacke, die mir viel zu groß ist. Die Wolken hängen bis zum Boden, und ich sehe nichts als Weiß. Fast so, als seien Himmel und Erde miteinander verschmolzen. Ich drehe mich zum Häuschen um und merke, dass ich noch gar nicht so weit gekommen gedacht. Ich zögere, und überlege kurz zurückzugehen.
Aber was soll es das bringen?
Wenn sie nicht da ist.
Ich stapfe weiter.


Als der Professor und ich sie zum ersten Mal sahen, dachten wir, sie sei bereits verloren. Was machte sie hier auch? An diesem Ort war seit einer Ewigkeit niemand mehr gewesen. Doch der Professor, sturköpfig wie er war, wollte nicht so einfach aufgeben. Er war sich sicher, dass zumindest die darauf gespeicherten Informationen noch vorhanden sind.   

Vom Dach des großen Backsteingebäudes beobachte ich, wie die Sonne langsam hinter der Skyline verschwindet. Jeden Abend. Und doch, werde ich niemals  aufhören können. Ich setze mich neben ihn, und lasse die Beine durchs Geländer baumeln. Die letzten Sonnenstrahlen sind die wärmsten. Wir reden und lachen, lachen und reden. Über was, weiß ich längst nicht mehr. Geh nicht, will ich sagen, tue es aber nicht. Er weiß es. Ich werde dich anrufen, verspricht er mir, und hält dieses Versprechen auch. Trotzdem wird es nie wieder dasselbe sein. Reue steigt in mir auf. Reue, ohne etwas bereuen zu können. Und ich hatte niemanden, dem ich die Fäuste ins Gesicht hätte schlagen können.
Gib auf. Gib auf.
   

Der Professor war dermaßen fasziniert von seiner Entdeckung, dass es bereits an Obsession grenzte, und er sich daraufhin tagelang im Labor einschloss. Zugegeben, bis zu einem bestimmten Umfang teilte ich seine Neugier, und doch zweifelte ich stets daran, ob es möglich war, die verlorenen Daten wiederherzustellen. Nach der Explosion eines naheliegenden Sterns innerhalb dieses Sonnensystems, wurde hier nahezu die gesamte Bevölkerung ausgelöscht. Unseren Forschungen zu Folge, war es den verbliebenen Lebewesen nach dem Verschwinden der Atmosphäre seines Planeten, nie wieder möglich, eine Zivilisation aufzubauen. 

Weiter, immer weiter. Sie Schreien, sie weinen, aber niemand bleib stehen. Unsere Beine sind schwer wie Blei und unsere Füße bluten, aber niemand bleibt stehen.
Es kam ganz plötzlich.
Eines Mittags in den Nachrichten.
Sie haben vor, uns mit einer neuartigen Massenvernichtungswaffe anzugreifen und zu vernichten. 
Aber ich weiß, dass das stimmt nicht.
Und trotzdem wird das unser Ende sein. Ich streiche über die Narbe an meiner Schläfe, und denke an den Chip den sie mir eingepflanzt hatten. Glauben sie tatsächlich, dass du es schaffen wirst?
Wirst du den Stern überstehen?


Den Professor habe ich seit fast einer Woche nicht mehr zu Gesicht bekommen. Jedoch konnte die Entdeckung des Chips auch mir nicht aus dem Kopf gehen. Wo kam dieser Chip her? Vielleicht gehörte er zu einer der früheren Expeditionen? Wobei dies eher unwahrscheinlich ist. Wenn wir Glück haben, war er womöglich ein Überbleibsel einer ehemaligen Fabrik? Aber dann hätten wir noch weitere Reste finden müssen. Jedoch, als der letzte Keim meiner Hoffnung abzusterben drohte, bat mich der Professor in sein Labor. Sein Haar war durcheinander und matt, er hatte sichtlich abgenommen, aber seine kleinen grauen Augen leuchteten auf eine unbeschreibliche Weise. Er hatte etwas herausgefunden:

Vor ungefähr tausend Jahren war Nahe des Planeten Erde ein Stern namens V645 Centauri oder Alpha Centauri C explodiert. Die Erdatmosphäre wurde zu großen Teilen der Erdanziehungskraft entrissen, wodurch die tödliche UV-Strahlung der Sonne bis zur Troposphäre vordrang und nahezu alles Leben vernichtete.
So lautet auf jeden Fall unsere Theorie.
Bei dem gefundenen Speichermedium handelt es sich jedoch um etwas Außergewöhnliches. Bis dahin war die Technologie der Erdbevölkerung weit davon entfernt gewesen, so etwas zu schaffen:
Dem separaten Speichern eines Bewusstseins.
Doch auch dies ist nur die stark vereinfachte Geschichte unseres Fundes, denn unser Fund war schätzungsweise mehrere Jahrhunderte dort unten und stark beschädigt. Das begründet, wieso der Professor so lange gebraucht hatte, um die noch vorhandenen Daten zu lesen, welche er mir wie folgt erklärte:

Insgesamt sind lediglich drei Zeitabschnitte vorhanden. Jede von ihnen betrugen umgerechnet nicht mehr als einige Stunden. So war es dem Professor möglich zu sehen, was der Träger des Chips einst sah und einst hörte. Durch die Vernichtung seines Trägers, konnten keine weiteren Daten mehr gespeichert werden. Jedoch bedeutete das nicht, dass er aufhörte zu funktionieren. Seine schützende Hülle, in Form von Fleisch und Blut, existiert schon lange nicht mehr, aber das Bewusstsein hatte nie aufgehört zu existieren. Die drei noch vorhandenen Zeitabschnitte waren das einzige, was dem Bewusstsein bekannt war. Dem Professor zufolge sei es wie ein unendlicher Film, indem sich dieselben Sequenzen für immer wiederholen.
Dann müssen dies wohl extrem wichtige Informationen gewesen sein?
Aber der Professor winkt ab: Es seien zum Großteil bloße Banalitäten zusehen gewesen. Zeigen, will er sie mir jedoch nicht.
Bloße Banalitäten die man für hunderte von Jahren immer wieder durchleben muss. Gefangen in einer Art Zeitschlaufe in welcher man nie etwas ändern kann.

Gut, dass das jetzt zu Ende ist. 

Autorin / Autor: Christina Adamski