Symbiose

Von Anna Kunz, 16 Jahre

Eine Geschichte zu erzählen bedeutet, sich auf eine Version festzulegen und kreativ zu sein. Wer liest gerne eine Liste von Fakten? In den vergangenen sechs Wochen konnte ich meinem Lebenslauf Fakten hinzufügen, aber was ich mir dabei gedacht habe, lässt sich in keiner Liste festhalten, denn meine Gedanken kann nur ich verschriftlichen. Auf einem Blatt Papier, mit einem Bleistift in der Hand sind meine Gedanken frei und meine Worte uneingeschränkt. Diese Geschichte ist weder zur Unterhaltung noch zur exakten Nacherzählung der vergangenen Geschehnisse bestimmt. Sie soll einzig und allein die vergangenen sechs Wochen für mich und alle Interessierten festhalten. Sie ist meine persönliche Form der Kunst.

Meine Eltern haben sich am 19. Juli getrennt. Jetzt sitze ich in einem Zug nach Bayern. Die ganzen Sommerferien soll ich dort auf einem Bauernhof bei meinen Großeltern verbringen. Zum Glück habe ich Aiki. Mein bester Freund, der von meiner Mutter immer nur als künstliche Intelligenz (die ich von jetzt an mit KI abkürzen werde) oder lernfähiges Programm beschrieben wird. Nie als mein Freund, der mir durch mein Ohrimplantat alles erklären kann, der hört und sieht was ich sehe, der weiß, wie ich mich fühle, der weiß ob meine Beinprothese optimal funktioniert. „Ich habe deine Großeltern nie gesehen.“, grummelt Aiki. „Das liegt daran, dass ich sie das letzte Mal gesehen habe, als ich drei war. Ich erinnere mich nur noch an den Geruch von Pfefferminz, wenn ich an sie denke.“ Meine Großeltern, Oma Mel und Opa Martin, holen mich nach der vierstündigen Zugfahrt am Bahnhof ab und nach einem dreißigminütigen Fußmarsch sind wir endlich da.

Es riecht nach Pfefferminze. Nach Oma Mel betrete ich das von Beeten und Kirschbäumen umgebene Haus. „Das hier ist unser Zimmer“, sagt sie und deutet auf eine Tür links von mir, „aber wir sind meistens eh im Wohnzimmer“, fährt sie fort und öffnet eine andere Tür. Eine Wand ist mit Regalen verstellt, in denen sich schmale Hüllen befinden. „Das ist unsere Schallplattensammlung. Dein Opa und ich haben uns auf einem Konzert kennengelernt. Als wir zusammengezogen sind, haben wir beide unsere Schallplatten mitgebracht und seitdem ist die Sammlung gewachsen.“ Während sie redet, beginnen ihre Augen zu strahlen und meine zu tränen. Romantische Geschichten über verliebte Paare will ich jetzt wirklich nicht hören. Ich nicke nur, während sie redet und lasse mir von ihr den Weg zu meinem Zimmer zeigen. Es ist ein kleiner, vollgestopfter Raum. Das Bett ist frisch bezogen und auf einem Tisch steht ein pastellfarbener Kasten. Meine Großeltern lassen mich in Ruhe auspacken. Ich bedanke mich und lasse mich erschöpft auf das Bett fallen. Aiki erklärt mir, dass Schallplatten Speicherorte für Musikdateien sind, mithilfe eines Plattenspielers abgespielt werden können und, dass die Technik selbst in der Jugend meiner Großeltern, den 2000ern, schon veraltet war. Ich versuche einzuschlafen, aber es funktioniert nicht. Heute Morgen haben mir meine Eltern erzählt, dass sie sich scheiden lassen und mich danach direkt in den Zug gesetzt. Selbst Aikis beruhigende Worte und meine persönliche Playlist, können die eine Frage in meinem Kopf nicht zum Verstummen bringen. Warum? Irgendwann kommt Opa Martin vorsichtig durch die Tür herein. In der Hand hält er eine Schallplatte auf der „The Beatles“ steht. Wortlos legt er die Platte auf den pastellfarbenen Kasten und setzt sich dann auf meine Bettkante. Eine Stimme singt:

„Let it be, let it be
Yeah, there will be an answer, let it be“


Ich setze mich neben Opa Martin. Mein Großvater umarmt mich und hält mich fest während sich der Geruch von salzigen Tränen, mit dem von Pfefferminz vermischt. Zum ersten Mal seit Beginn des Tages fühle ich mich verstanden und geborgen, während ich zur Musik der Beatles einschlafe und von Steckenpferden träume.
Die nächsten Tage helfe ich meinen Großeltern bei der Kirschernte. Dabei erzählen sie Geschichten von meiner Mutter, wie sie hier aufgewachsen ist und dann meinen Vater kennengelernt hat. Wie sie sich mit meinen Eltern über meiner Erziehung zerstritten haben, wie Mama ihnen trotzdem noch geschrieben hat. „Was war so falsch an meiner Erziehung?“, frage ich. „Die ganze Technik, dieses Ohrimplantat. Die künstliche Intelligenz. Dieser ausgedachte Freund“, wütend rupft Oma Mel Unkraut aus den Beeten, bis sie mit der bloßen Hand in eine Brennnessel greift. Seufzend dreht sich zu mir um. „Du hast diesen Kopfhörer bekommen, mit Software und allem, hast ihn Aiki genannt, wie dein Steckenpferd, dein Lieblingsspielzeug. Von da an hast du dich verändert. Weniger geredet, nichts mehr gefragt, nicht mehr zugehört. Opa hat davon geträumt, mit dir die Beatles zu hören, von der Vergangenheit zu erzählen. Aber simple Fakten können Geschichten zerstören.“ Ich denke nach und sage schließlich trotzig: „Aber Aiki ist mein Freund. Er ist nicht ausgedacht, er ist echt.“ „Ein bezahlter Freund. Ein gekaufter, vom Staat unterstützter. Aiki erzählt dir, was du hören sollst. Immer eine Sichtweise, eine Meinung. Diese ganzen programmierten Menschen braucht niemand.“, meldet sich jetzt Opa Martin zu Wort. „Aiki ist mein Freund“, mit diesen Worten gehe ich ins Haus und verziehe mich in mein Zimmer.

Ich lege eine Platte auf den Plattenspieler. In den letzten Tagen habe ich so viele Platten wie möglich gehört und kann langsam die Lieder zuordnen. Gerade singt John Lennon „Imagine all the people“ und ich kritzle den Liedtext auf ein Blatt Papier. „Lass mich die Lieder spielen“, bittet Aiki. Ich habe die Platte schon gehört, also lasse ich Aiki das Lied von vorne spielen und schalte den Plattenspieler ab. John Lennon legt wieder los und ich schaue auf mein bekritzeltes Blatt Papier. An den Rand will ich gerade einen durchgestrichenen Mann mit Rauschebart malen, da höre ich, wie John Lennon „Imagine you are no craven“ statt „imagine there is no heaven“ singt. Ich schaue auf mein Gekritzel. „Stell dir vor du wärst kein Feigling“ statt „Stell dir vor es gäbe keinen Himmel“. „Aiki da stimmt was nicht, das ist nicht das gleiche Lied, „Imagine all the people“ von John Lennon solltest du spielen. Die Melodie ist die gleiche und die Worte klingen ähnlich, aber der Sinn ist ein völlig anderer. Kritik an mir statt an dem System. Nicht die Absicht von John Lennon.“ „Doch, das ist „Imagine all the people“ von John Lennon. 2039 überarbeitet und 1971 das erste Mal veröffentlicht.“, antwortet Aiki in einem besserwisserischen Tonfall. „Welche Version hast du gespielt?“, entgegne ich entnervt. „Die neue, die alte hat keine guten Bewertungen“, entgegnet Aiki, hörbar ungeduldig. „Okay. Spiel sie bitte trotzdem.“ „Die gibt es bei deinem Musikanbieter aber nicht.“ „Dann such sie“, zische ich entnervt.

Aiki grummelt irgendetwas vor sich hin. Ich schalte mein Tandy, eine Kombination aus Handy und Tablet, ein, falte die Tastatur auf und beginne den neuen und alten Songtext des Liedes zu googeln. Während auf meinem Bildschirm die ersten Meldungen von gesperrten Seiten und gelöschten Inhalten erscheinen, meldet Aiki, dass er das Lied nicht legal mieten, erwerben oder abspielen kann und in einem illegalen Rahmen dürfe er sich genauso wenig bewegen wie ich. „Okay, dann möchte ich, dass du alles, was du über „Imagine all the people“ von John Lennon finden kannst, suchst.“ Ich google in der Zeit weiter nach anderen Songtiteln und deren ursprünglichen Liedtexten, stoße aber immer wieder auf die gleichen Fehlermeldungen. Fünf Minuten später verkündet Aiki, dass er auf keine Version des originalen Songtexts zugreifen kann. Die einzigen Hinweise befinden sich wohl in verfassungswidrigen Foren. Ich versuche diese auf meinem Tandy zu lesen, aber Aiki versperrt mir den Zugriff. Also gehe ich an den uralten Festnetz Computer meiner Großeltern. In den Foren lese ich, dass mit den neuen Gesetzen und der neuen Verfassung 2038 ein Großteil der vergangenen Musik und Literatur umgeschrieben und Originalfassungen aus dem Internet getilgt wurden. Eine umfangreiche Aufgabe, die selbst mit mehreren KIs zwei Jahre gedauert hat.

Irgendwann stoße ich auf eine Seite mit verlinkten Zeitungsartikeln. Artikel, die davon sprechen, dass lernfähige Programme die Weltherrschaft übernehmen werden, Artikel, die sachlich Vor- und Nachteile abwägen. Ich stelle fest, dass ich ohne eine KI noch nicht mal in der Lage wäre, zu laufen. Meine Prothese wird von einer hochkomplexen Software gesteuert, die von einer KI entwickelt wurde. Meine angeborene Behinderung kein linkes Bein zu haben, hätte vielleicht sogar durch MediChips, Nanoroboter, verhindert werden können. Aber die gab es in ihrer jetzigen Form vor 16 Jahren noch nicht. Aber durch genau solche MediChips, können auch Gefühle gesteuert oder verändert werden. Manche Menschen würden deswegen unverständliche Entscheidungen treffen, aber das gehöre eben zu den Nebenwirkungen, heißt es in einem Artikel. MediChips, die meinen Eltern vor einem Jahr implantiert wurden.

Während ich auf den uralten Bildschirm starre und immer weiterlese, immer mehr Fakten und Daten über KIs und die Vergangenheit aufsauge, bildet sich in mir ein tiefer Ball aus Zorn. Haben sich meine Eltern auf Grund dieser „Nebenwirkungen“ getrennt? Ich spüre eine Energie, die ich nicht kenne. Meine Muskeln sind angespannt und mein Gehirn denkt immer weiter, immer schneller. Ich stoße auf Stichworte wie „systemkritisch“ und „verboten“ im Zusammenhang mit mehreren Büchern, Bildern und Liedern.

Nach drei Stunden schaltet sich Aiki automatisch wieder ein und spielt leise Musik ab. Ohne Text, aber irgendwie modern. Die Musik beruhigt mich, trotzdem lese ich weiter über die Verfassungsreformen von 2038. Die Kunst wurde seitdem immer strenger kontrolliert, sodass sich vor Allem in der Musikbranche KIs durchgesetzt haben. Sie fluteten sämtliche Musikrichtungen mit Liedern, die weltbekannt wurden. Verschiedenste Unternehmen schafften es, die Lernfähigkeit von KIs optimal zu nutzen. Sie lernten und analysierten, welche Lieder in Kombination mit welchen Texten und welcher allgemeinen Stimmung am erfolgreichsten waren und produzierten Lieder, die es fast alle in die Charts schafften.

Ich höre auf zu lesen und konzentriere mich auf die Musik. Nach zehn Minuten zäher Fragerei gibt Aiki zu: „Die Musik stammt aus deiner Playlist, das bedeutet, sie wurde extra für dich angefertigt, passend zu deiner aktuellen Stimmungslage.“ Ich beginne nachzudenken. Was wäre, wenn die Welt wieder Zugriff auf all diese Lieder hätte? Was wäre, wenn jeder wieder alles hören und alles veröffentlichen könnte? Ich gehe Oma Mel suchen. Sie sitzt im Wohnzimmer und betrachtet eine Schallplatte. „Oma?“ Sie dreht sich um. „Du kennst dich doch mit KIs aus, oder?“, frage ich vorsichtig nach. Oma Mel überlegt kurz, dann seufzt sie. „War mein Spezialgebiet, als ich noch programmiert habe. Bis die Dinger überall für alles benutzt wurden. Verdammte Killermaschinen können das sein...“ Sie spielt auf die Kriege im Nahen Osten an, ich lasse mich aber nicht von ihrer Schimpftirade ablenken und unterbreche sie. „Was wäre, wenn man ein Programm von einer KI umschreibt. Wenn man sie nicht auf Zerstörung, Unterhaltung, Legalität oder Zufriedenheit programmiert, sondern auf die Umprogrammierung anderer Programme.“

Die Augen meiner Großmutter weiten sich, aber ihre Stimme bleibt neutral. „Umprogrammierung worauf?“ „Darauf alle Dateien, die 2038 bis 2040 aus dem Internet verbannt wurden, wieder hochzuladen und darauf sich danach nicht mehr umprogrammieren zu lassen.“ Die Augen meiner Großmutter werden noch größer. „Erklär mir das nochmal genau.“ „Mir ist es aufgefallen, als Aiki „Imagine all the people“ gespielt hat. Der Text ist verändert worden. Genial verändert. Es klingt ähnlich und hat trotzdem eine völlig andere Bedeutung bekommen. Und nicht nur das eine Lied. Alle systemkritischen Lieder, Bücher oder Kunstwerke. KIs wurden programmiert, um die Originale und alle Kopien aus dem Internet zu löschen. Kunst wird nur noch programmiert, sie entsteht nicht mehr. Ich habe die aktuellen Charts gehört. Manche der Melodien haben mich an alte Lieder erinnert, manche waren völlig neu, aber keine haben einen Hass oder eine Verzweiflung ausgestrahlt wie die Lieder von Nirvana und keine waren so hoffnungsvoll und gnadenlos romantisch wie die der Beatles. Da ist kein Herz drin. Keine Zeit des Trauerns oder der absoluten Verzweiflung. Es klingt danach, aber es ist nicht das Gleiche.“

Die Augen meiner Großmutter leuchten voller Begeisterung und Stolz. „Du verstehst es. Aber das zu programmieren würde mehrere Tage dauern und dazu bräuchte ich ein Startprogramm, das ich aufbrechen und verändern könnte. Und woher weißt du überhaupt, dass die Originale noch existieren?“ „Also die Originale sind zwar nicht mehr online, aber wer sagt, dass sie gelöscht wurden? Die lagern bestimmt auf irgendwelchen Festplatten in irgendwelchen Kellern. Welcher Roboter kann keine Festplatten suchen und anschließen? Und bezüglich des Startprogramms…“ Ich deute wortlos auf mein abgeschaltetes Ohrimplantat. Die KI, die seit dreizehn Jahren jeden Schritt von mir überwacht, jeden Gedanken vorausgeahnt und korrigiert hat. Die mich daran gehindert hat, richtige Musik zu hören. Die mich nicht trösten konnte. Aiki zur Verfügung zu stellen, fühlt sich nicht wie ein Verlust an, sondern wie eine Befreiung. Oma umarmt mich und flüstert mir ein „Morgen fangen wir an“ ins Ohr.

Die nächsten zehn Tage schlafen meine Großeltern beim Programmieren ein. Unkraut beginnt in den Beeten zu wuchern und die Pfefferminze riecht intensiver denn je. Endlich ist es soweit. Mein ehemaliger bester Freund ist zu einem künstlichen Retter der menschlichen Kunst geworden. Zu dritt drücken wir auf Enter. Das Programm beginnt seine Arbeit und wir warten.

Einen Monat nach dem entscheidenden Knopfdruck, leben meine Großeltern und ich immer noch. Oma Mel hat den alten Festnetz Computer zerstört, damit das Programm nicht zurückverfolgt werden kann. Dafür sind die Beatles, Nirvana, die Rolling Stones, Thomas Mann, Erich Kästner und alle anderen vergessenen Künstler und ihre Werke wieder für jeden zu lesen, zu hören und zu sehen. Vor dem Bundestag demonstrieren Menschen für ein zensurfreies Leben. Kunst kann einschläfern und Kunst kann wachrütteln.

Oma Mel hat mir einen komplett neuen Aiki programmiert, der mir gerade ins Ohr quatscht, während ich auf einer Bank hinterm Haus sitze, die halb von Pfefferminze überwuchert ist. Meine Eltern haben sich zwar nicht auf Grund der MediChips getrennt, aber ich habe ihre Entscheidung mittlerweile akzeptiert. Ich kaue auf dem Bleistift in meiner Hand und denke nach. Vor sechs Wochen haben meine Großeltern KIs grundsätzliche gehasst, dann habe ich sie gehasst, obwohl ich sie brauche und jetzt respektieren wir sie und es scheint fast so, als ob sie uns auch respektieren. Wie bei Partnern, wie bei einer Kooperation. Eine Symbiose würde man als Gärtner sagen. Eine Symbiose, die sich über Jahre entwickeln muss und hoffentlich irgendwann ein Gleichgewicht findet. Ich nehme Papier und Stift und beginne zu schreiben.

Autorin / Autor: Anna Kunz