Stilles Leid

Neue UNICEF-Studie zur Situation von abgeschobenen und rückgeführten Kindern und Jugendlichen

„Sie kamen nachts um 1 oder 2 Uhr und klopften an die Tür. Das war die ständige Angst, die ich immer im Schlaf hatte! (…) Ich wusste nicht, wo ich hingehen werde. Ich kannte den Ort, an dem ich ankommen würde, nicht. Ich hatte das Wort ‚Kosovo‘ schon gehört, wusste aber nicht, was für ein Ort das war.“

"Kopfschmerzen, Schwindelgefühle und Magenschmerzen. Ich zittere und werde ohnmächtig. Wenn das passiert, sehe ich gar nichts mehr, da ist nur noch diese schwarze Wand vor mir. Das passiert, wenn ich an die Abschiebung denke und es dauert ungefähr eine halbe Stunde."

"Immer, wenn ich an meine Rückkehr erinnert werde, fange ich an zu zittern, zu schwitzen und einfach zu schreien. Ich gehe raus, um nur nicht zu Hause zu bleiben, und um mich irgendwo abzuregen. (…) Ich laufe in die Stadt, weil ich zu viel Angst habe, um zu Hause zu bleiben….“

Das sind einige der traumatischen Erlebnisse von Mädchen und Jungen, die 2010 aus Deutschland und Österreich – meist gegen ihren Willen – in den Kosovo abgeschoben worden sind. Jedes zweite Kind und jeder zweite Jugendliche beschrieb seine Rückkehr als das schlimmste Erlebnis seines Lebens, ein weiteres Viertel beschrieb sie als „sehr schlimm“. Vor allem jene, die zwangsweise zurückgeführt worden waren (65,4 Prozent der Kinder und Erwachsenen), erlebten dies als den schlimmsten Augenblick ihres Lebens.

Ein internationales Team aus PsychologInnen, ÄrztInnen und SozialwissenschaftlerInnen hat 164 von ihnen sowie 131 Eltern für die UNICEF-Studie „Stilles Leid“ befragt, wie es ihnen nun - nach fast 2 Jahren - geht. Die systematische Untersuchung der Jugendlichen und ihrer Familien zeigt: Viele haben schwere psychosoziale und gesundheitliche Probleme. Fast die Hälfte aller Jugendlichen leidet an Depressionen, ein Viertel berichtet von Gefühlen der Hoffnungslosigkeit und ein Fünftel empfindet das Leben als nicht lebenswert. Über 25 Prozent der Befragten haben sogar Selbstmordgedanken, was in einer Region mit traditionell niedrigen Selbstmordraten außerordentlich hoch ist. Laut UNICEF brauchen sie dringend psychiatrische Hilfe. Auf soziale und psychologische Unterstützung im Kosovo können sie aber nicht zählen. Hinzu kommt noch erschwerend, dass ein Drittel der befragten Kinder einer ethnischen Minderheit angehört und deshalb unter Diskriminierung und Sprachbarrieren leiden muss.

„Bei allen Entscheidungen über Abschiebungen, von denen Kinder betroffen sind, müssen das Wohl jedes einzelnen Kindes und seine Gesundheit im Mittelpunkt stehen“, sagte Tom Koenigs, UNICEF-Vorstand und Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestages, bei der Vorstellung der Studie in Berlin. „Kein Kind darf zurückgeführt werden, wenn seine gute körperliche und seelische Entwicklung nicht sichergestellt sind.“

*„Rückführungen“ ins Abseits*
Aus den Staaten der Europäischen Union wurden allein in 2010 mehr als 220.000 MigrantInnen und Asylsuchende in ihre Herkunftsländer zurückgeführt – über 600 am Tag. Eine Vielzahl von Richtlinien soll dabei das Wohl betroffener Kinder, die Achtung familiärer Bindungen und der Gesundheit sicherstellen. Doch in der Praxis spielen laut UNICEF die besonderen Gefährdungen und Bedürfnisse der betroffenen Kinder und Jugendlichen oftmals kaum eine Rolle. Als Beispiel führt das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen das Rückführungsabkommen an, das die deutsche Bundesregierung im Jahr 2009 mit dem Kosovo abgeschlossen hat. Danach sollen insgesamt 12.000 Roma, Ashkali und „Ägypter“, die im Schnitt bereits 14 Jahre (!) in Deutschland leben, zurückgeführt werden. Darunter sind etwa 5.000 bis 6.000 Kinder und Jugendliche. Die meisten von ihnen sind in Deutschland geboren und gehen hier zur Schule.

Für die meisten von ihnen bedeute die „Rückführung“ in den Kosovo eine Abschiebung ins Abseits. Viele gingen dort nicht zur Schule und lebten am Rand der Gesellschaft. Gleichzeitig leiden die Kinder und Jugendlichen – so die aktuelle UNICEF-Studie – im Stillen unter erheblichen psychologischen Beschwerden und gesundheitlichen Problemen. 

UNICEF ruft angesichts dieser Ergebnisse dazu auf, die Rechte der Kinder und ihre besonderen Schutzbedürfnisse bei Abschiebungen und Rückführungen jederzeit sicher zu stellen. Wann immer es um Kinder geht, sollten sich Politiker, Behörden und Gerichte in ihren Entscheidungen vom Grundsatz des „Kindeswohls“ leiten lassen. Dies hätten praktisch alle Staaten der Welt mit ihrer Unterschrift unter die UN-Konvention über die Rechte des Kindes garantiert. "Doch wenn es um Migrantenkinder geht, wird dieser Grundsatz in den Ländern Europas gegenwärtig nicht umfassend berücksichtigt. Im Umgang mit Migranten und Flüchtlingen schwankt die öffentliche Debatte zwischen Ängsten, Kriminalisierung und Abwehr. Um illegale Zuwanderung zu stoppen, haben die Regierungen ihre Einwanderungsgesetze verschärft, den Zugang zur Sozialhilfe für MigrantInnen erschwert und setzen Abschiebungen, offiziell „Rückführungen“, intensiv durch, "schreiben die AutorInnen in der Zusammenfassung der Studie. Eine Vielzahl von Richtlinien sollen dabei zwar das „Kindeswohl“, die Achtung familiärer Bindungen und des Gesundheitszustandes von Rückkehrern sicherstellen, doch tatsächlich spielten die besonderen Gefährdungen und Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen bei Rückführungen und Abschiebungen kaum eine Rolle, kritisiert UNICEF.