Sozial ausgehungert

Sozialkontakte sind eine Art Grundbedürfnis - wie Essen. Zumindest reagiert das Gehirn auf Entzug von menschlichen Kontakten ähnlich wie auf Nahrungsentzug

Fehlender sozialer Kontakt ist DAS Corona-Thema schlechthin, unser Hunger nach menschlicher Gesellschaft das größte Problem bei der Bekämpfung der Pandemie. Wie man es auch dreht und wendet, es fällt den meisten Menschen extrem schwer, sich sozial zu isolieren. Wissenschaftler_innen um Livia Tomova vom MIT Cambridge haben herausgefunden, dass das Gehirn auf längere Isolation ähnlich reagiert wie auf Hunger. In den Augen der Forscher_innen passen die Ergebnisse ihrer Studie sehr gut zu der intuitiven Annahme, dass soziale Kontakte ein menschliches Grundbedürfnis sind und das Gehirn bei anhaltender Einsamkeit Alarm schlägt wie beim Hunger.

Die aktuell nun im Fachjournal Nature Neuroscience veröffentlichte Forschungsarbeit entstand in den Jahren 2018 -2019, also lange vor Corona. Sie war Teil eines größeren Forschungsvorhabens, in dem es um sozialen Stress und seine Auswirkungen auf das Verhalten und die Motivation von Menschen ging.

Für die Experimente der Forscher_innen mussten sich Freiwillige 10 Stunden lang in einen fensterlosen Raum aufhalten – ohne Handys. Es wurde strikt dafür gesorgt, dass sie keinerlei menschlichen Kontakt hatten, Essen wurde vor die Tür gestellt und per Textnachricht angekündigt.

Nach der zehnstündigen Einsamkeit wurde die Hirnaktivitäten mit Hilfe eines MRT gemessen, auch das mussten die Testpersonen so weit möglich allein erledigen und sich eigenständig in das Testgerät legen. Während der MRT-Aufzeichnung wurden ihnen Bilder von Menschen gezeigt, die zusammen Spaß haben.

Alle 40 Testpersonen durchliefen diese Prozedur und mussten zusätzlich an einem anderen Tag 10 Stunden lang fasten. Nach dem Fastentag wurden ihnen dann Fotos von fettigen Käsenudeln und anderen Leckereien präsentiert oder auch neutrale Bilder wie Blumen. Dabei wurden ebenfalls ihre Gehirnaktivitäten aufgezeichnet. Die Forscher_innen konzentrierten sich dabei auf eine kleine Region im Mittelhirn, die Substantia nigra. Von ihr weiß man seit kurzem, dass sie bei Hungerfühlen und der Gier nach Drogen eine Rolle spielt.

Die Forscher_innen vermuteten, dass sozial isolierte Menschen auf Bilder von Menschen in sozialer Interaktion reagieren wie Hungrige auf Bilder von Nahrungsmitteln, und genau das geschah in den Experimenten. Besonders Menschen, die in ihrem normalen Leben viele soziale Kontakte haben, litten unter dieser Abstinenzphase und zeigten beim Anblick von Fotos mit Menschen in geselligen Situationen Reaktionen in der Substantia nigra wie sie Hungrige beim Anblick von Essen haben. Die Reaktion fiel schwächer aus, wenn die Testpersonen an soziale Isolation gewöhnt waren.

Jetzt, wo die Forscher_innen die Effekte von sozialer Isolation am Gehirn ablesen können, könnten sie sich der Beantwortung vieler weiterer Fragen widmen. Etwa, wie soziale Isolation das Verhalten beeinflusst, ob virtuelle Treffen dagegen helfen und welche Altersgruppen am stärksten betroffen sind. 

Wir wünschen den Forscher_innen, dass sie bald Antworten auf diese spannenden Fragen finden. Nach Corona dürfte es vermutlich wenige Menschen geben, die sich freiwillig zu Forschungszwecken in soziale Isolation begeben.

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Autorin / Autor: Redaktion / Pressemitteilung - Stand: 27. November 2020