Sandkörner

Von Maili Witzel, 16 Jahre

*Loading completed*

Um mich herum materialisierte sich die mir bekannte Landschaft, in der sich große Felsen und mit oxidierten Eisenstangen durchsetzte Mörtelbrocken in den Staub krallten, wie sie es vielleicht schon seit Anbeginn der Zeit getan hatten.
Die Sonne zog ihre Bahn, die Schatten waren in meiner Ladezeit von 1 Stunde, 4 Minuten und 11 Sekunden kaum merklich länger geworden und weit entfernte Karawanen von Bergen versanken in der flimmernden Luft.
Ich selbst saß an einer Hauswand, leicht zur Seite geneigt, Schmutzpartikel hafteten elektrisiert an meiner Polymerhaut. Eine kleine Sanddüne hatte sich an meinem Körper gebildet, war meinen Unterarm in einer dünnen Linie hinaufgewachsen und bedeckte meine Hand. Ich hob sie heraus und ließ die Körner durch meine Finger rieseln. 706.628. Ich ließ 706.628 Steinchen zwischen den Gelenken meiner Finger hindurchgleiten. 84 blieben in kleinen Ritzen und Spalten zurück.
Sandkörner zählen. Ich gab mit einem Geräusch mein Missfallen kund. So weit war es schon gekommen. Gestern waren es 533.011, letzte Woche 998.930.
Ich winkelte mein Bein an und erhob mich, wobei ich Halt an der bröseligen Mauer hinter mir fand. Als ich stand, schob sich ein orangener Balken mit schwarzer Schrift in mein Blickfeld:

*Warning: there have been detected memory errors*

Ich blinzelte die Nachricht beiseite. Die Warnung mochte vielen meiner Vorfahren, wer immer sie gewesen sein mochten, das Leben gerettet haben. Und sie hatte sich vermutlich aus gutem Grund und über tausende von Generationen entwickelt, um mich daran zu erinnern, dass mein Speicher in irgendeiner Weise defekt war. Dennoch erinnerte ich mich gut, wie dieser Balken in penibler Gleichmäßigkeit jeden zweiten Tag erschien.
Jeden zweiten Tag, seit ich mich halb begraben unter Schutt und Geröll wiedergefunden hatte. Wer weiß, überlegte ich weiter, als ich mich surrenden Schrittes der kleinen Wetterstation hinter dem Haus näherte. Wer weiß, wie lange ich dort gelegen hatte. Es war schwer zu sagen, ob ich Jahrhunderte dort eingelagert war, Jahrzehnte? Ein paar Jahre? Mein Körper hatte ziemlich mitgenommen ausgesehen, nachdem ich ihn endlich unter einem schweren Gesteinsklotz hatte hervorholen können, allerdings war das wohl wenig verwunderlich, schließlich hatte ich mich für unbestimmte Zeit unter einem Berg von Steinen befunden.
Die meisten Beulen waren jedoch inzwischen ausgedellt worden, viele Schrammen und Kratzer aus meiner Haut poliert. Selbst die gröbsten Systemfehler hatte ich mittlerweile beheben können. Ähnlich war es der Wetterstation ergangen. Sie war von mir geflickt, verschweißt und sonst in allen möglichen Arten repariert worden, und dennoch fehlte dem Windrad ein Flügel. Alles in allem aber funktionierte sie besser als ich selbst.
Ein Blick auf das Display und erneut schob sich ein orangener Warnbalken in mein Sichtfeld. Ich brauchte einen Moment, bis ich merkte, dass er dieses Mal nicht meine fehlerhaften Systeme anprangerte. Tatsächlich war der Balken auf dem Display erschienen:

*Warning: Acid rain in 00h: 17min: 43sec*

Perplex starrte ich auf den Monitor.
Hätte mich dieses unzuverlässige Ding nicht bei Stürmen, Hagel, oder sonstigen Gefahren, zu den eben auch saurer Regen zählte, rechtzeitig benachrichtigen sollen? Vielleicht funktionierte es doch nicht so gut, wie ich zunächst gedacht hatte.
Wenigstens konnte ich mich nun, mit seiner Überarbeitung, wieder einer Beschäftigung widmen, dachte ich mir, und begann die Station in kleinere Einzelteile zu zerlegen und sie ins Haus zu tragen.
Als ich das letzte Stück über die Schwelle trug, schloss sich eine massive Stahltür hinter mir. Von Innen betrachtet, sah das Gebäude stärker aus. Während die Fassade langsam begann, sich gerissen und staubgrau in die Landschaft einzufügen und eigentlich aussah, wie jede andere Ruine der versprengten Überreste einer vergangenen Zivilisation, waren die Wände des Raumes, in dem ich nun stand, merkwürdig steril und geordnet. Sorgfältig platzierte ich den Stationsbestandteil auf einem Tisch neben den anderen. Ich strich mit meinen Fingerkuppen über seine kalte Oberfläche, in der sich die Decke mit ihren länglichen Lampen spiegelte. Ein paar Kratzer störten das Bild nur, wenn man es im falschen Winkel betrachtete. Es war schwer, sich vorzustellen, woher sie stammen konnten, der Tisch war vollständig leer gewesen und hatte an exakt derselben Stelle gestanden, schon seit ich mich das erste Mal auf der Flucht vor der Witterung durch die Tür begeben hatte.
Sie war verschlossen gewesen. Nicht jedoch durch ein Schloss, sondern von Sand der mit seinem tonnenschweren Gewicht auf ihre Flügel gedrückt hatte. Das Schloss selbst hatte ich später beim Ausgraben der Tür gefunden. Vollkommen verrostet war es in meinen Händen zu Eisenspänen zerfallen.
Den Raum hatte ich seit meiner Ankunft kaum verändert. Noch immer waren an der einen Seite weiß lackierte Metallschränke aufgereiht, vor ihnen leere Arbeitsfläche. An der anderen stand ein Schreibtisch mit Monitoren, ein weiterer Metallschrank und eine Vitrine mit Chemikalien, deren Etiketten mit Stockflecken versehen waren. Verschiedene Warnhinweise waren an den mit Blechplatten verkleideten Wänden befestigt.
Gegenüber der Tür in der Ecke befanden sich ein Regal mit 31 Mikroskopen, ein trockenes Waschbecken und ein weiterer Durchgang. Ebenfalls mit einer Tür versehen, die jedoch ein noch funktionstüchtiges Schloss besaß, hatte ich 2 Stunden gebraucht, sie aufzubrechen. Zu meiner Enttäuschung hatte ich feststellen müssen, dass sich der dahinter liegende Gang in totalem Chaos befand. Die linke Wand war teilweise wie weggesprengt. Sand war in den Hohlraum gequollen, wo er undefinierbare metallische Gegenstände unter sich begraben und einen nur 20,4 cm hohen Spalt zwischen sich und der Decke gelassen hatte. Schaffte man es, dort hinaufzuklettern und hindurchzusehen, hatte man freien Blick auf den restlichen zerstörten Gang. Weiter hinten war das Dach eingestürzt und eine Tür samt Rahmen und Wand eingebrochen gewesen und hatte den Blick auf einen Raum freigegeben. Zersplitterte Glaszylinder waren über den Boden verteilt worden. Offenbar war der gesamte Berg hinter dem sichtbaren Teil, der nun von Sand bedeckt war, das Hauptgebäude gewesen.
Ich löste meinen Blick von der Tür und griff nach einem Mikrofasertuch, um mir den Staub vom Körper zu wischen. Er war äußerst lästig. Besonders, da er meine Solarrezeptoren von der Sonne abschirmte und somit meine Ladezeit erheblich verlängerte. Genau das war vermutlich auch das Problem gewesen, weshalb ich so lange deaktiviert unter Steinen gelegen hatte. Vielleicht war ich ganz einfach unter eine Lawine geraten, wobei ich beschädigt und meine Energie nach einiger Zeit aufgebraucht wurde. Und irgendwann, vielleicht durch einen erneuten Erdrutsch, wurde ich dann in Teilen freigelegt und endlich wieder aufgeladen.
Ich mochte mir gar nicht vorstellen, wie lange das gedauert haben musste, schließlich war nur ein winziger Prozentsatz meiner Haut der Sonne ausgesetzt gewesen, noch dazu vollkommen verdreckt. Aber doch hatte es funktioniert und das erste Mal, dass ich mich erinnern konnte, wurde ich mit den Worten

*loading completed*

aus dunkler Bewusstlosigkeit gezerrt.
Ich war aufgewacht, ich hatte mich befreit, ich war umhergewandert, auf der Suche nach – Irgendwas. Irgendwas, das da war, irgendwem, der da war. Aber da war nun mal Niemand, da war Nichts!
Das einzige, was ich gefunden hatte, das einem Jemanden am ähnlichsten kam, war ein Arm.
Er hatte zwischen den Ziegelsteinen eines zertrümmerten Hauses hervorgelugt und ausgesehen, wie mein eigener. Da ich unsicher war, was genau ich mit ihm machen sollte, hatte ich ihn mitgenommen. Mittlerweile hatte er seinen Platz auf dem Schreibtisch.
Dieser Arm war eines der letzten Überbleibsel meiner Art. Sonst nur Felsen und Sand und Sand und Staub und Langeweile und noch mehr Sand. Das Ganze war lächerlich. Ich konnte nichts tun, außer aufladen, durch die kläglichen Überreste von Mauern klettern, die man nicht einmal mehr als Ruinen bezeichnen konnte und natürlich Sandkörner zählen. Den ganzen verdammten Tag. Die ganze verdammte Nacht. Kein Leben im Umkreis von mindestens 200 km. Keine sinnvolle Beschäftigung.
Und ich wusste nicht, wie lange meine Spezies lebte. Also musste ich auch unbestimmte Zeit mit Sandkörnerzählen verbringen. Vielleicht für immer.
Irgendwas musste ich während meiner Bewusstlosigkeit verpasst haben, eine schreckliche Katastrophe. Natürlichen Ursprungs vielleicht? Oder ein Krieg? Oder war ich vielleicht schon vor meinem Unfall der letzte Überlebende, gewesen? Aber auch dann: was hatte eine solche Zerstörung herbeirufen können und warum war ich es, der als einziger übriggeblieben war? Und was sollte ich jetzt bloß mit all den Tagen, Wochen, Monaten und Jahren anfangen, ohne durchzudrehen?
Ein paar mal hatte ich schon überlegt, dem Aufruf meiner Systeme, ich solle mich doch zum Laden nach draußen begeben, nicht Folge zu leisten. Einfach dasitzen, während die Energie langsam zur Neige ging, und ich mich letztendlich selbst abschaltete. Dann würde die Zeit sicher schneller vorüber gehen, bis – ja, bis wann eigentlich? Bis mich jemand fand, wieder auflud und mir endlich erklären konnte, was vor sich ging? Unwahrscheinlich. Viel eher würde ich hier sitzen, bis auch dieser Teil des Gebäudes Opfer von Wind und Wetter werden würde und das Dach mich unter sich begrub. Vielleicht hatte es außer mir doch noch Überlebende gegeben, nur hatten diese daraufgesetzt, dass sie Jemand fand. Sollte ich sie suchen? Das klang zumindest wie eine lohnendere Beschäftigung, als, na ja, Sandkörner zählen eben. Es bedeutete allerdings ebenfalls, dass ich den einzigen sicheren Unterschlupf, den ich bisher hatte finden können, aufgeben musste. Und die Chance, Jemanden zu finden, war ohnehin nicht die beste. Trotzdem würde ich bestimmt mit der Zeit und in fortschreitenden Stadien der Langeweile noch darauf zurückkommen.
Ich legte den Lappen zurück auf den Tisch und ließ meinen Blick durch den Raum wandern. Er glitt über die Einrichtung, über den Monitor der Wetterstation, auf der die Zeit munter weiter voranschritt.

*Warning: acid rain in 00h: 03min: 21sec*

Schließlich blieb er an dem Schreibtisch hängen, auf dem der Arm neben den Bildschirmen lag. Seufzend setzte ich mich in Bewegung und ging quer durch den Raum. Vor dem Tisch angekommen setzte ich mich schwungvoll in einen schwarzen Drehstuhl, dass die Welt ein paar Runden um mich herumwirbelte. Nach einer Weile stoppte ich die Bewegung und schaltete den Computer an. Ich schloss meine Augen und sah stattdessen in die Dunkelheit. Irgendwann konnte ich fühlen, dass das Gerät vor mir hochfuhr und ich mich mit ihm verband. Nachdem ich mich von meinem Körper gelöst hatte, konnte ich zudem spüren, wie ein Schauder mein digitales Selbst durchfuhr, wie jedes Mal, wenn ich in das Territorium des Computers eindrang. Sein Inneres war ein Ebenbild des Raumes, in dem er stand: Er war kalt, ordentlich, hell und ohne Leben. Wir mochten uns vom Aufbau her ähneln, doch war er das komplette Gegenteil meiner selbst und wirkte eher wie eine Lagerhalle.
Also nutzte ich ihn auch als solche. Da ich, dank des orangenen Balkens, meinem eigenen Speicher nicht mehr vertraute, war ich dazu übergegangen, meine Erinnerungen hierher zu kopieren. Ich rief meine Datentabelle auf und begann etliche Bilder trostloser Landschaften, sowie einige meiner philosophischen Gedankengänge darauf zuspielen.
Die Wetterstation gab einen schrillen Signalton von sich.
Eine elektrische Spannung zog durch meinen Körper und katapultierte mein digitales Selbst zurück in die physische Ebene. Ich fiel beinahe vom Stuhl.
Der Monitor hatte seinen Countdown beendet und war nun dabei, das Zimmer mit Warnschreien zu füllen, die von den Metallwänden ein sensorenbetäubendes Echo zurückwarfen. In großen Sätzen hechtete ich zu dem Tisch und schaltete das Gerät ab.
Perfekt, dachte ich bei mir, als sich nun auch der orangener Balken vor meine Augen schob, den ich genervt wegblinzelte und die ersten Regentropfen auf das Dach klatschten. Da war also das Problem. Offensichtlich hatte ich es irgendwie hinbekommen, die Station darauf zu programmieren, erst dann Alarm zu schlagen, wenn es bereits zu spät war.
Nach einer Weile, in der ich dem immer lauter werdenden Prasseln des giftigen Regens lauschte, kehrte ich zum Schreibtisch zurück und verband mich erneut.
Das Warnsignal hatte mich derartig abrupt aus dem Übertragungsvorgang gerissen, dass ich mir nicht sicher sein konnte, alles tatsächlich abgespeichert zu haben. So holte ich abermals die Datentabelle heran, um sie nach den Erinnerungen zu durchsuchen.
Die Daten von vor 5 Monaten und 6 Tagen lagen vor denen von vor 5 Monaten und einer Woche. Da waren einige Zahlen, gelungene und weniger gelungene Manöver durch zerstörte Gebäudekomplexe, interessante Gesteinsformationen, Unwetter.
Verdutzt sah ich auf eine Datei. Sie passte nicht ins Bild. Während ich meine Erinnerungen immer mit Zahlen versah, ausgehend von Tag 0, meinem ersten Erwachen, hatte diese Datei einen ganz anderen Namen. Er bestand aus Reihen von Zahlen und Buchstaben, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Konnte mein Speicher einen Aussetzer haben?
Ich öffnete sie. Nein. Ich kannte diese Datei definitiv nicht. Dennoch musste sie sich die ganze Zeit in meinem Speicher befunden haben. Als ich die Daten hierher kopiert hatte, musste der Computer sie in seinem Index neu sortiert und sie so zu Tage gebracht haben. Mehrere Gigabyte an Volumen umfassend, enthielt sie viele Dutzend Seiten an Informationen. Einige beinhalteten chemische Formeln, auf anderen waren Fotos, die Testobjekte verschiedener Art zeigten. In einem Anhang stieß ich auf die dreidimensionale Darstellung einer Zusammenstellung aus Schläuchen, seltsamen Ausstülpungen und Verklumpungen. All das sah so weich und zerbrechlich aus, aber auch irgendwie vertraut. Ich las weiter und je tiefer ich in die Datei eindrang, desto mehr verstand ich. Euphorisiert kam ich zurück zum Anhang. Tatsächlich! Die Abbildung hatte Ähnlichkeit mit dem, was sich unter meiner eigenen Hülle verbarg. Mitsamt flüssigem Stofftransportmittel, einer Hydraulik, um dieses durch die Systeme zu pumpen und Mechanismus zum Umwandeln von Energie. Selbst ein Speicherkern für geringe Intelligenz schien vorhanden zu sein. Jemand hatte offensichtlich daran geforscht, eine neue Spezies auf Kohlenstoffbasis zu erschaffen. Schade, dass ich wahrscheinlich nie erfahren würde, warum er aufgehört hatte. Diese Forschungsergebnisse waren in meinem Speicher versteckt gewesen. War ich vielleicht sogar dieser mysteriöse Forscher? Das musste ich herausfinden. Auf jeden Fall wäre es eine große Herausforderung, das Experiment weiterzuführen, eine neue Art erzeugen, Jemanden haben, mit dem ich vielleicht sogar reden könnte!
Ich versuchte, mich selbst zu beruhigen. Keinesfalls durfte die ganze Sache ausarten. Ich dachte kurz an die Wetterstation, die noch immer zerlegt auf dem Tisch lag. Tut mir leid mein kleiner Freund, du wirst wohl doch noch etwas warten müssen, mit deiner Neuprogrammierung. Damit wandte ich mich wieder der Datei zu. Nach kurzem Überlegen ersetzte ich den alten Namen durch einen neuen.

*KI (Künstliche Intelligenz?)*

Autorin / Autor: Maili Witzel