Ohne Bilder keine Angst

Forschung: Menschen, die keine inneren Bilder erzeugen können, empfinden beim Lesen von Gruselgeschichten keine Angst

Wenn ihr eine gruselige Geschichte hört, dann entstehen in eurem Kopf Bilder: finstere Schatten, haarige Spinnenbeine, die scharfen Zähne eines Haifischs. Und euch beschleicht dieses typische Gruselgefühl.
Tatsächlich gibt es aber auch Menschen, bei denen solche Bilder nicht entstehen und die sich darum auch kaum gruseln. Dieser Zustand wird als Aphantasie bezeichnet und ist nicht unbedingt krankhaft, denn die Betroffenen leiden nicht besonders darunter. Zumindest haben sie den Vorteil, dass gruselige Geschichten sie nicht wirklich schrecken können, denn hierbei spielen die mentalen Bilder offenbar eine entscheidende Rolle und bewirken, was Sprache allein offenbar nicht schafft.

Forscher_innen um Prof. Joel Pearson von der UNSW Science untersuchten in einer experimentellen Studie, was Gruselgeschichten bei Menschen mit Aphantasie (22 Testpersonen) und Menschen mit Vorstellungskraft (24 Testpersonen) bewirken. Sie maßen dabei die Angstreaktionen der Testpersonen, während sie Schreckensszenarien lasen, die etwa davon handelten, in einem Flugzeug zu sitzen, das gleich abstürzt oder von einem Hai gejagt zu werden. Gemessen wurde die Leitfähigkeit der Haut, ein übliches Messverfahren für emotionale Reaktionen. Es ist bekannt, dass die Haut die Elektrizität besser leitet, wenn eine Person starke Emotionen, wie z.B. Angst, empfindet.

Die Testpersonen saßen in einem verdunkelten Raum, während auf einem Bildschirm vor ihnen eine Geschichte zu erscheinen begann. Zunächst starteten die Geschichten harmlos - zum Beispiel: "Sie sind am Strand, im Wasser" oder "Sie sind in einem Flugzeug, am Fenster". Aber als die Geschichten weitergingen, baute sich die Spannung langsam auf, sei es ein dunkler Blitz in den fernen Wellen und Menschen am Strand, die darauf zeigen, oder das Dimmen der Kabinenbeleuchtung, wenn das Flugzeug zu wackeln beginnt.
"Die Leitfähigkeit der Haut begann bei den Menschen, die sich die Geschichten vorstellen konnten, schnell zu steigen", sagt Prof. Pearson. "Je länger die Geschichten dauerten, desto mehr reagierte ihre Haut. "Aber bei Menschen mit Aphantasie stagnierten die Hautleitfähigkeitswerte ziemlich stark."

*Emotionaler "Boom" kommt durch Bilder*
Um zu überprüfen, ob nicht Unterschiede in der Angstschwelle die Ursache für die Reaktion waren, wurde das Experiment mit einer Reihe von gruseligen Bildern anstelle von Text wiederholt, z. B. mit dem Foto einer Leiche oder einer Schlange, die ihre Reißzähne zeigt. Doch diesmal verursachten die Bilder bei beiden Gruppen von Menschen gleichermaßen eine Gänsehaut.

"Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Aphantasie nicht mit reduzierten Emotionen im Allgemeinen zusammenhängt, sondern spezifisch für Teilnehmer ist, die gruselige Geschichten lesen", sagt Prof. Pearson. "Die emotionale Angstreaktion war vorhanden, wenn die Teilnehmer das gruselige Material tatsächlich vor sich abspielen sahen. Die Ergebnisse legen nahe, dass Bilder ein emotionaler Gedankenverstärker sind. Wir können alles Mögliche denken, aber ohne Bildersprache haben die Gedanken nicht diesen emotionalen 'Boom'."

*Aphantasie noch wenig erforscht*
Aphantasie betrifft 2 bis 5 Prozent der Bevölkerung, aber es ist immer noch sehr wenig über den Zustand bekannt. Die Idee zu diesem Experiment entstand, nachdem das Forschungsteam in Aphantasie-Diskussionsforen die immer wiederkehrende Meinung bemerkte, dass viele Menschen mit dieser Erkrankung keine Freude am Lesen von Belletristik haben. Tatsächlich sind Ausprägungen von Aphantasie sehr unterschiedlich und wenn die Ergebnisse dieser Studie darauf hindeuten, dass beim Lesen weniger Angst empfunden wird, so bedeutet dies nicht, dass Menschen mit Aphantasie grundsätzlich ein weniger emotionales Leseerlebnis haben.
Für die Forscher_innen ist Aphantasie vor allem ein faszinierendes Beispiel für neuronale Vielfalt und dafür, wie vielfältig und variantenreich das menschliche Gehirn ist.

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Autorin / Autor: Redaktion / Pressemitteilung