Null und Eins

Von Julien Spitzlay, 19 Jahre

Ich haute auf das Lenkrad. Direkt auf die Hupe. Naja, dorthin, wo früher einmal die Hupe gewesen war. Alte Gewohnheit. Auch haute ich nicht wirklich auf ein Lenkrad, denn so etwas gab es schon lange nicht mehr! Stattdessen saß ich vor einem Armaturenbrett, das mehr Kontrolllämpchen besaß, als der LKW PS hatte. Kontrolllämpchen! Ja, Kontrolllämpchen waren es. Keine Kontrollhebel oder Schalter. Nein, nur Lämpchen. Denn ich saß hier nur zum Kontrollieren. Der einzige Knopf, den es zu drücken gab, und selbst das kam nach dem neuen Update des LKWs kaum noch vor, war ein Knopf, der mit „NOTAUS-VORSICHT!“ beschriftet war und den ich nur im äußersten Notfall, also dann wenn der Computer etwas falsch machte oder etwas übersah, drücken durfte. So die Anweisung vom Chef. Mich machte das wirklich krank und so hatte ich schon oft an Selbstmord gedacht. Einfach ausschalten. Mich und den LKW. Nicht wegen einer Depression oder sonstigen Verfärbung der Seele. Davon halte ich nichts. Generell, diese Gefühlsduselei ist nichts für mich. Nicht das ich emotionslos wäre, aber diese bis in die letzte Ecke differenzierte Gefühllage mancher Menschen ist nicht meine Welt. Warum auch? Es reicht doch komplett aus, sich gut oder schlecht zu fühlen. Mehr braucht es nicht. Straight forward. Wie mein Sohn sagen würde. Auch wenn diese Lusche alles andere als geradlinig und pragmatisch ist. Er sitzt den ganzen Tag im Keller des Krankenhauses und wertet Aufnahme aus. „Hier, diese 1,5 mm breite Stelle könnte ein Tumor sein!“ Wie albern. Generell war er immer schon so ein Klugscheißer. Ein kleiner Nerd, mit Brille und rotem Pony. Ein Junge mit Mädchenfrisur! Ich habe mich morgens so geschämt, wenn ich ihn in den Kindergarten brachte. All diese Väter und Mütter, mit normalen Kindern, mit Mädchen, die mit Puppen spielen und in der Kinderecke hinter dem Plastikherd stehen, mit Jungen, die sich aus zwei Metern Entfernung mit dem Fußball volles Rohr ins Gesicht schießen. Das sind Kinder. Aus denen wird eines Tages etwas. Mein Sohn machte dann auch noch ein 1,0er Abitur und studierte Medizin. Meine Frau und meine Freunde verstanden nicht, warum mich das so aufregte. Vielleicht verstehe ich es selber auch nicht wirklich. Es ist nur so, dass mein Sohn und ich uns auseinandergelebt haben ohne jemals ein inniges Verhältnis zueinander besessen zu haben.

„Hi, mein Name ist Sascha. Ich weiß nicht, was das hier soll. Ich habe auch kein Bock auf das hier. Pain-Diary. Was für ein Scheiß. Wer braucht das? Der Arzt hat gesagt, dass ich sterbe. Also werde ich sterben. Die sollen mich einfach allein lassen und ich will einfach zocken. Aber diese Tussi vom Pflegepersonal findet dieses Tagebuch total klasse. „Da kann man sich Gedanken machen. Über sich, seine Vergangenheit und wo man nach dem Tod hinkommt. Probier’s doch mal Sascha.“ Oh, zum Kotzen dieses Weib. Und das besonders Schlimme: Meine Eltern finden das auch noch so geil. „Du musst doch was machen, wenn wir nicht da und deine Freunde in der Schule sind. Schreib einfach alles auf, was dich bedrückt. Deine Sorgen, Ängste und Nöte. Deine Wünsche und Träume für die Zukunft.“ Was für’ne Zukunft? Ich sterbe doch in ein paar Wochen. Und ich will zocken und hab kein Bock auf dieses beschissene Tagebuch. Ich schreib sowieso einfach nur was auf, damit ich meinen Alten etwas zeigen kann und dann das Buch einfach schnell zuklappen. Jetzt habe ich alles geschrieben, was mir einfällt. Ich habe keine Lust mehr aufs Schreiben und außerdem macht mich das müde. Alles macht mich müde, letzte Woche hatte ich mich bis Level 57 hochgearbeitet und dann ist mir einfach der Controller aus der Han“

Ich dachte zurück. Zurück an die Zeit, in welcher der Computer nur aufpasste und eingriff, wenn der Fahrer einen Fehler machte oder hinter dem Steuer eingeschlafen war. Heute war es genau umgekehrt. Die Fahrer waren die Aufpasser der Computer und Systeme, die auf Anhieb einen 20 Meter langen Gliederzug in eine winzige Parklücke manövrieren, gleichzeitig die morgige Route planen und die nötige Kraftstoffmenge berechnen konnten. „Eine technisch höchst komplexe Meisterleistung, der klügsten Köpfe unseres Landes, die es absolut verdient hat, in einem solch innovativen, up-to-daten Unternehmen, wie wir es nun einmal sind, benutzt zu werden.“ So hatte der Chef diese neue Generation von LKWs angepriesen.
Das war jetzt zwei Jahre her. Natürlich hatten die LKW-Produzenten sich ein halbes Jahr nach dem Erscheinen der „New Generation“, wie die neuen LKWs aller Marken einheitlich genannt wurden, geweigert, ältere Modelle zu warten, geschweige denn zu reparieren. So waren mit der Zeit alle Speditionen und Logistik-Unternehmen auf der ganzen Welt gezwungen worden, auf die neuen LKWs umzusatteln. Auch meine Spedition …
„Hey“, schrie ich erbost einem anderen LKW-Fahrer zu und zeigte ihm den Mittelfinger. Doch dieser war vor seinem blinkenden Armaturenbrett eingeschlafen und selbst wenn er nicht pennen würde, es hätte nichts an der Situation geändert! Denn die LKWs kommunizierten automatisch miteinander und regelten so selbstständig den Verkehr. Wir Fahrer konnten keine Vorfahrt geben und auch nicht nehmen. Nicht einmal die Geschwindigkeit oder das Licht konnten wir selbst variieren. Gerade noch den Radiosender ließ man uns selbst wählen. Einmal. Am Anfang. Und dann stand er bis zur Rente fest. Was für ein Scheiß!

„Hi, hier bin ich wieder. Tschuldigung, dass ich einfach eingepennt bin. Ich weiß nicht, was das ist. Also was die Krankheit ist. Aber der Arzt weiß das auch nicht. Ist übrigens voll der Freak. Mit Nickelbrille und Mädchenfrisur. Gleich kommen meine Eltern, die werden dann hoffentlich Ruhe geben, wegen diesem bekackten Tagebuch. Die wurden irgendwie eingeladen von diesem Arzt, dass sie schnell kommen sollen und so, dabei sterbe ich gerade gar nicht. Hätte lieber noch ein bisschen gezockt, als mit meinen Eltern labern zu müssen. Ich glaube ich penn noch ein bisschen.“

Ich hasse alles. Mich. Meinen Sohn. Meinen Chef. Meinen LKW. Alles. Ich hasse meine neue Arbeit. Der Babysitter eines ausgewachsenen, bald fehlerfrei laufenden Programms zu sein, war nicht die Ambition gewesen, mit der ich vor fast 40 Jahren LKW-Fahrer wurde. Ich will selber fahren und mein eigener Chef sein! Jetzt bin ich nur noch Kontrolleur und mache Pause, wenn der LKW getankt werden muss. Der Stau, in dem ich seit zwei Stunden stehe, löst sich langsam auf und die Fahrzeugkolonne setzt sich wieder in Bewegung. Trotzdem verfliegt meine schlechte Laune nicht. Ich habe schon den ganzen Tag an Marthe gedacht. Überhaupt fielen mir in den letzten Wochen einige Gespräche mit ihr wieder ein und ich träumte fast jede Nacht von ihr. Sie ist jetzt genau vier Jahre und sieben Wochen tot. Da habe ich auch das letzte Mal Marius gesehen. Diese Lusche. Ist Arzt, aber vom Tod so schockiert, dass er nicht mal zur Beerdigung kommt. Was für eine Heulsuse Marthe aus ihm gemacht hat. Und ich? Ich sitze hier mit meinen 59 Jahren, habe meine ursprünglich dunkelblonden Haare gegen graue eintauschen müssen, erschrecke mich jeden Morgen vor meinem Spiegelbild, wenn mich dieses hagere, kränklich dreinblickende Frankensteinwesen anglotzt. Ich warte auf den Tag, dass ich eines Morgens entweder vor Schreck oder vor Wut den Rasierapparat in den Spiegel pfeffere. Den ganzen Tag sitze ich hinter meinem Notaus-Schalter, warte auf einen Fehler des LKWs und grießgräme über meine Zukunft. Zukunft? Was für ein Wort! Die LKW-Produzenten sind optimistisch in einem halben Jahr die ersten vollautomatischen, selbstfahrenden LKWs verkaufen zu können. Ohne Fahrer. Dass hat der Chef schon angekündigt. Seit diesem Gespräch habe ich kaum noch gegessen, kaum noch getrunken, kaum noch gesprochen. Mit wem auch? Nur über den Verkehr schimpfe ich. Meine einzige mir gebliebene Freude. Mein Lebenselixier. Ich befürchte, meine Laune wird von Tag zu Tag immer schlechter werden. Immer schlechter bis zu dem Tag, an dem mir der Chef erklären wird, dass eine Maschine, ein Computer, ab jetzt meine Arbeit machen wird. Alleine. An dem Tag häng ich mich auf. Dass steht fest, seit ich diese Horrormaschine das erste Mal gefahren bin. Die Digitalisierung hat mich überrollt und mir den Arbeitsplatz geklaut. Und sie wird mich an meine Garagendecke bugsieren. Die ist stabil. Habe ich schon ausprobiert.

„Wir haben den Tumor gefunden“, erklärte ich und rückte meine Brille zurecht, „schon mal was von Deep Learning gehört?“ Ich schaute in die Runde. Dämliches Kind, hockt den ganzen Tag vor der Konsole, aber noch dämlichere Eltern. Nee, haben sie natürlich noch nie von gehört. „Künstliche Intelligenz funktioniert mit einem sogenannten Neuronalen Netz. Das heißt wir geben dem Computer ein Bild, zum Beispiel eine Abbildung vom Gehirn. Und dann lassen wir das Neuronale Netz einfach mal machen. Und am Ende gibt es aus, was es sieht. Das ist am Anfang eigentlich immer falsch, also statt einem Gehirn mit Tumor in dem und dem Areal erkennt die KI ein Katzenbaby am Strand.“ Ich werde von dem Schnarchen meines Patienten unterbrochen, aber seine Eltern hören erstaunlich aufmerksam zu. Also fahre ich fort: „Nun schauen wir, welche Knotenpunkte des Neuronalen Netzes ein Gehirn mit Tumor in dem und dem Areal erkannt haben, aber fälschlicher Weise von den Knotenpunkten, die ein Katzenbaby am Strand erkannt haben, überstimmt wurden. Nun sagen wir der KI, dass diese Kontenpunkte, das nächste Mal stärker gewichtet werden sollen, dafür die anderen etwas weniger. Dieses Prozedere führen wir tausendfach durch. Wir trainieren das Neuronale Netz. Inzwischen ist dieses Programm so gut, dass es uns Ärzte im Auswerten übertrifft und so konnten wir einen Tumor bei Ihrem Sohn finden, der selbst für einen ausgebildeten Arzt unmöglich zu finden war. Wir operieren Ihren Sohn noch heute Nacht, wenn Sie zustimmen.“

„Heute war ich das erste Mal seit sieben Monaten wieder beim Fußballtraining. Es war so cool wieder die Leute zu sehen und so. Aber meine Performance beim Zocken ist, seit ich das Krankenhaus verlassen habe, deutlich runter gegangen. Trotzdem bin ich froh wieder zu Hause zu sein. Ich bin auch nicht mehr so müde. Dieser Freak-Arzt konnte alles aus meinem Kopf entfernen, haben meine Eltern gesagt. Hab zwar nicht so genau verstanden warum er jetzt doch was gefunden hat. Aber mega geil wieder zu Hause zu sein. Ist aber glaube ich das letzte Mal, dass ich was ins Pain Diary reinschreibe. Außer dieser Computer findet bei irgend so ner Nachuntersuchung wieder was. Dann geht der Scheiß wieder von vorne los.“

Pressemitteilung der Polizei: Am vergangenen Freitagabend wurde von der Feuerwehr ein Garagentor geöffnet, nachdem die Nachbarn sich bei der Stadt und dem Ordnungsamt über den Gestank mehrfach beschwert hatten und den Besitzer persönlich nicht antreffen konnten. Die Einsatzkräfte fanden die Leiche des Besitzers der Garage aufgehängt vor. Die Staatsanwaltschaft geht von Suizid aus, da keine Fremdeinwirkung festgestellt werden konnte.

Autorin / Autor: Julien Spitzlay