Muschelseide - Textil-Innovation aus dem Meer

Aurelia hat mit Charline Prod’homme, einer angehenden Textilingenieurin gesprochen, die uns Einblicke in die Produktion einer neuen nachwachsenden Textil-Faser gibt

Hanf, Bambus, Ananas, recyceltes Plastik – Auf der Suche nach nachhaltigen Rohstoffen für die Textilindustrie der Zukunft haben Entwickler:innen in den letzten Jahren große Kreativität bewiesen.

Die Herausforderungen, vor denen sie stehen, sind aber auch gewaltig. Obwohl Ressourcen wie Erdöl knapper werden und die Auswirkungen für die Umwelt, das Klima und unsere Gesundheit sich immer deutlicher zeigen, wachsen unser Bedarf und damit die Produktion stetig. Ein Wundermittel ist dabei bisher noch nicht gefunden worden, neue Materialien können die klassischen Polymere bei Weitem nicht komplett ersetzen, und sie sind selbst auch nicht immer perfekt nachhaltig – Naturfasern wie Hanf zum Beispiel erfordern eine chemische Behandlung, bevor sie zu Kleidung verarbeitet werden können.

Die Faser, um die es hier geht, wird genauso wenig alle Probleme der Textilindustrie lösen können, aktuell besetzt sie nur eine kleine Nische. Aber sie ist trotzdem interessant, weil sie zeigt, dass alternative Fasern herkömmlichen Materialien in einigen Gebieten überlegen sein können, nicht nur in der Mode. Und weil ihr Ursprung so ungewöhnlich ist: Sie kommt aus dem Meer.

Die Rede ist von Byssus, auch Muschelseide genannt. Es handelt sich um eine Faser, die von verschiedenen Muscheln mithilfe von Sekreten aus ihren Fußdrüsen produziert wird, um sich damit an Felsen festzuhalten. Charline Prod’homme glaubt an das Potential dieser feinen Fäden. Sie studiert dual an einer Textilingenieurschule in Roubaix in Nordfrankreich, ihre Praxisphasen absolviert sie bei einem Startup namens Bysco. Dass der Name des Unternehmens dem der Muschelseide ähnelt, ist kein Zufall: Robin Maquet und Florence Baron haben es im August 2021 mit dem Ziel gegründet, diesen natürlichen Rohstoff zu recyceln. Das machte das Startup zu einem interessanten Arbeitgeber für Charline Prod’homme, der Nachhaltigkeit sehr wichtig ist.

Byssus - Ein Abfallprodukt mit vielen Talenten

Während sie ihren Arbeitgeber vorstellt, erscheinen auf ihrer Präsentation Bilder von Feuerwehrleuten, Wohnwägen und Booten. Die Verwendungsmöglichkeiten von Byssus, erklärt sie, sind sehr vielfältig. Neben der Innenausstattung von Booten, Wohnwägen und Flugzeugen kann es zum Beispiel auch bei der Herstellung von Akustikpaneelen in Konzertsälen zum Einsatz kommen, für die die Entwicklungsabteilung des Startups gerade Prototypen erstellt. Dabei ersetzt es Polyester oder Glasfasern und besticht durch seine besonderen Eigenschaften: Die Faser ist nicht nur leicht, sondern isoliert auch erfolgreich gegen Wärme und Lärm. Außerdem benötigt sie für diese Verwendung keine chemische Behandlung.

Nachhaltig ist die Prozedur vor allem aus einem anderen Grund: Es handelt sich um ein Abfallprodukt, das Bysco direkt von Miesmuschelzüchtern aus der Bretagne und der Normandie erhält. Aus einem Kilo Muscheln kann man drei Gramm Byssus gewinnen. An einem Standort des Unternehmens in Cancale, im Norden der Bretagne, werden die Fäden dafür zunächst gesäubert, die Produktentwicklung ist am zweiten Standort weiter südlich, in der Stadt Nantes im Pays de la Loire, angesiedelt. Dort ist Charline Prod’homme als Auszubildende für den Bereich Textilien verantwortlich, und sie hat große Ziele für die Zukunft: Sie möchte, dass aus Muschelseide bald auch Kleidung hergestellt wird, zum Beispiel für Sportler:innen oder auch für Feuerwehrleute. Denn feuerfest ist die Superfaser noch dazu.

Um auch in diesem Bereich den Einsatz von Chemikalien möglichst zu vermeiden, arbeitet sie gerade an der Entwicklung natürlicher Behandlungsmethoden. Und auch der Blick auf traditionelles Handwerk könnte sich lohnen: Für nächsten Sommer ist ein Treffen mit einer alten Frau auf Sardinien geplant. Da die dortigen Muscheln größer sind und längere Fasern bilden, eignen sie sich besser für die Herstellung von Textilien. Deshalb ist diese auf der italienischen Insel schon seit langer Zeit verbreitet. Das französische Startup Bysco erhofft sich daher, vom lokalen Know-How zu profitieren. Auch das macht die Geschichte vom Byssus so interessant: Dass Entwickler:innen Innovation mit Tradition verknüpfen müssen, um die Textilindustrie nachhaltiger zu gestalten.

Von links nach rechts: Paul Ayoun, Alicia Borde, Charline Prod'homme, Florence Baron, Robin Maquet

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Autorin / Autor: Aurelia Scheuring; Bildquelle "BYSCO" - Stand: 26. Januar 2023