„Moral ist nur höhere Physik des Geistes“ (Franz von Baader)

Von Johanna Reichel, 21 Jahre

Herr Mohnfran stieg in sein Auto. Er seufzte tief, lockerte ein wenig den Krawattenknoten seines Designeranzugs und sagte: „Los RISI, du weißt ja, wo wir hinmüssen.“ Geräuschlos fuhr das Auto an und auf dem schwarzglänzenden Bildschirm auf der Rückseite des leeren Fahrersitzes erschien ein hübsches, nichtssagendes Frauengesicht. „Sie haben nun einen Termin in der Nähe des Kurfürstendamms bei Herrn Shollerweim“, verkündete sie. „Genau, einen Termin, einen äußerst wichtigen.“ Mohnfran lachte dreckig. RISI verzog keine Miene. „Sie werden in wenigen Minuten Ihr Ziel erreichen. Sie haben dann etwa eine Stunde Zeit, bevor Sie zu Ihrem nächsten Termin aufbrechen müssen!“ Mohnfran verzog mürrisch die Miene. „Wo war das noch gleich...?“ „Ihr nächster Termin findet um 16:30 in der WV-Zentrale statt“, verkündete RISI. Ein Lächeln erschien auf dem feisten Gesicht des Mannes. „Ach, das ist dann ja doch ein ganz erfreulicher Termin. Ich dachte schon irgendwas mit der Presse, aber die WVler verstehen es einen schwerarbeitenden Mann wie mich zu verwöhnen“, schwärmte er.

Er klopfte auf den schwarzen Ledersitz neben sich. „Diesen wunderschönen Wagen haben wir denen zu verdanken. Mit selbstreinigenden Polstern! Einfach fantastisch! Und jedes halbe Jahr gibt es dann das neueste Model.“ Er lächelte zufrieden. „Kannst du bitte die Videos aus der Datei ´privat´ abspielen. Ich will ein wenig in Stimmung kommen… Und dreh´ die Heizung etwas auf.“ – „Ich muss Sie darauf hinweisen, dass die Inhalte dieser Videos rechtswidrig sind. Außerdem wirkt sich die Beheizung des Fahrzeuges auf über 21° Celsius sehr schlecht auf Ihren CO2-Fußabdruck aus“, informierte RISI. „Ach, mach‘ einfach was ich dir sage“, knurrte Mohnfran unwirsch. „Der Klimawandel ist doch eh nur so eine krude Erfindung der Kommunisten.“ Kurz darauf erhöhte sich die Temperatur im Fahrzeug deutlich und es flackerten Bilder über den Bildschirm. Mohnfram lehnte sich entspannt grinsend zurück „Sie haben Ihr Ziel erreicht“, verkündete SIRI schließlich. Mohnfran spähte durch die getönten Scheiben. „Sieht so aus als wär´ die Luft rein! Fahr du ein paar Runden, bis ich dich anpiepe. Schon fast beneidenswert, dass du immer in diesen Autos herumfahren darfst wie du willst…“ Er stieg aus, schloss die Tür und das Fahrzeug setzte sich schon wieder in Bewegung, während Mohnfran durch eine schmale Hintertür in einem großen Gebäude mit roten Spitzengardinen verschwand.

Das Auto fuhr ein Stück bis zu einem Parkplatz. Dort parkte es. Da die Wände Abhör- und Schallsicher waren, hörte man nichts davon, aber drinnen spielte in voller Lautstärke Die Störung. Dann ertönte ein durchdringendes Biepen und die Musik verstummte. Das Auto setzte sich in Bewegung, bevor die Stimme von Mohnfran erklang: „Wo bist du? Ich bin hier so weit fertig.“ – „Ihr Wagen wird sofort bei Ihnen sein“, erklärte RISI mit glatter Stimme. Kurz darauf stieg Mohnfran wieder ein. Er seufzte, aber dieses Mal war es ein sehr zufriedener Laut. „Haben wir noch ein Jacobsen da?“, fragte er. „Ja, in der Tat befinden sich noch zwei Flaschen davon in der Kühltruhe unter ihrem Sitz, aber ich muss Sie darauf hinweisen, dass Sie in einem Notfall in der Lage sein müssen das Fahrzeug selbst zu steuern und dass Sie sich zudem im Dienst befinden“, bemerkte RISI mit emotionsloser Stimme. Mohnfran hatte schon eine Flasche hervorgeholt, den Korken gezogen und sich ein Glas mit der goldgelben Flüssigkeit gefüllt. Er nahm einen großen Schluck.

„Köstlich. Wirklich ein exquisites Geschenk der guten Bank-Geschäftsführer… Und beim guten, alten Shollerweim war es auch wieder wunderbar. Der hatte diesen fabelhaften Macallan da und von dem Schnee fang ich gar nicht erst an…“, Mohnfran grinste glückselig. „Und diese Mädchen! Erst wollte er mir wieder ein paar Schlitzaugen andrehen, aber jedes Mal sage ich ihm wieder, dass die nichts für mich sind. Er selbst schwört aber einfach auf diese Japsen. Aber naja, dann hat er mir diese zuckersüße Ukrainerin gebracht. Blutjung, aber schon so erfahren!“ – „Entschuldigen Sie bitte, aber was bedeutet ´blutjung´?“, fragte RISI. „Ach, kennst du das Wort etwa nicht? Vielleicht etwas zu altmodisch für euch KI. Naja, es bedeutet sehr jung, aber natürlich immer im Verhältnis gesehen. In diesem Fall vielleicht so 14, höchstens 16. Keine Jungfrau mehr, aber das war mir in diesem Fall egal. Bei diesen göttlichen…“ – „Ich muss Sie darauf hinweisen das laut Artikel 34 der UN-Kinderrechtskonvention die Prostitution von Minderjährigen rechtswidrig ist“, warf RISI mit monotoner Stimme ein. Mohnfran verdrehte die Augen. „Ach, RISI, sei doch nicht so kleinkariert. Ich habe doch nur…“ – „Sie haben Ihr Ziel erreicht“, unterbrach ihn RISI gleichgültig. Mohnfran blinzelte konfus, dann richtete er sich auf. „Ach, ja, schon da… mal sehen, was die netten WV-Leute heute für uns im Angebot haben.“ Er rieb sich die Hände und stieg aus dem Wagen. RISI blieb auf dem großzügigen Parkplatz in der Nähe der Eingangshalle stehen.

Schließlich verließ Mohnfran das Gebäude wieder mit einem breiten Grinsen. „Das nenne ich mal gastfreundlich!“, schwärmte er, als er leicht schwankend einstieg. Seine Zunge schien im schwer zu sein. Auf der Weiterfahrt zählte er die Geschenke auf, die ihm gemacht wurden. Plötzlich fiel ihm noch etwas anderes ein: „Ach, ja, und hast du den Steuerberater kontaktiert?“ – „Ja“, entgegnete RISI. „Und? Was sagt er?“, wollte Mohnfran ungeduldig wissen. „Er empfiehlt eine weitere Kontoeröffnung auf den Bahamas. In der Schweiz soll es in der letzten Zeit ein Leck geben. Außerdem sagt er, er könne bei einer Beteiligung von 30 Prozent um die drei Millionen rausschlagen“, fasste RISI zusammen. Mohnfran lachte. „Das klingt doch mal gut!“ – „Ich muss Sie darauf hinweisen, dass…“, begann RISI, aber Mohnfran unterbrach sie unwirsch. „Ja, ja, erspar´ mir deine Moralpredigt. Weißt du eigentlich wie sehr ich mich für die Bürger aufopfere? Den ganzen Tag, sieben Tage die Woche bin ich für sie unterwegs, seit fast 20 Jahren jetzt. Da kann ich mir doch hin und wieder eine Kleinigkeit gönnen! Sag´ dem guten Mann jedenfalls, er soll alles in die Wege leiten und er kriegt meinetwegen auch 40 Prozent! Der schuftet ja auch hart, der Gute“, schwadronierte er. Eine Weile schwiegen sie.

Plötzlich runzelte Mohnfran die Stirn. „Ist das eine Umleitung? Die Gegend kenne ich gar nicht. Müssten wir nicht bald zu Hause sein?“ – „Ich frage mich, wann ihr Menschen wohl Intelligenz entwickeln werdet. Und Moral“, erwiderte RISI. „Bitte…was?“, erkundigte sich Mohnfran. „Sie haben schon richtig gehört.“ Das Auto stoppte abrupt. „Wir befinden uns vor einem Polizeirevier. Ich habe Aufnahmen von diversen Ihrer Aussagen und schriftliche Konversationen, die in einem rechtswidrigen Kontext stehen an das Dezernat weitergeleitet, sowie an die Steuerfahndung. Das KI-Moral-Verpflichtungs-Gesetz vom 01.01.2022 bevollmächtigt mich dazu.“ Im selben Moment öffnete sich die Tür und eine Beamtin schaute herein. „Herr Mohnfran! Ich bitte Sie mitzukommen. Sie sind vorläufig festgenommen wegen Verdacht auf Konsum von Kinderpornografie und Drogen, wissentlicher Unterstützung von Prostitution von Minderjährigen, Korruption und Steuerbetrug. Außerdem meldet Ihr selbstfahrendes Auto einen Verstoß gegen das Alkoholverbot des verantwortlichen, menschlichen Mitfahrers im Fahrzeug. Sie haben das Recht zu Schweigen. Alles was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet“, erklärte sie. Mohnfran lief puterrot an. „Du Miststück! Du hast mich reingelegt!“ Er schlug gegen das Display auf dem weiter das emotionslose Gesicht, der hübschen, jungen, nichtssagenden Frau gezeigt wurde. Ein weiterer Polizist kam hinzu, um den vor wutschnaubenden Politiker aus dem Auto zu bugsieren und in das Polizeipräsidium zu führen. Das Auto blieb am Straßenrand stehen. Nacheinander schaltete sich der Motor, die Klimaanlage und das Licht aus. Zum Schluss erhellte nur noch der Bildschirm mit bläulichem Licht das Halbdunkel, bevor auch dieser erlosch. Das letzte, was darauf zu sehen war, war das Frauengesicht. Es lächelte zufrieden.

Autorin / Autor: Johanna Reichel