Mit Fingerspitzengefühl zur Gewissheit
Wenn der Kontext nicht eindeutig ist, vertrauen wir offenbar mehr auf unseren Tastsinn als auf unsere Augen
Den Impuls kennt ihr bestimmt: Da, vor einem, sind die Kunstwerke, ganz nah und real, deutlich sichtbar. Und doch zuckt es in den Fingern, man will sie berühren, mit der Hand über die glatten Formen der Plastik streichen, die verwirrende Installation befingern oder die pastöse Farbe auf der Leinwand betupfen. Aber warum meinen Menschen, Objekte berühren zu müssen, die sie deutlich vor sich sehen? Was gibt ihnen das Berühren, was das Anschauen nicht hat?
In der Philosophie schließt sich an diese Frage eine lange Denktradition an: Berührungen vermitteln in besonderer Weise einen Sinn für die Wirklichkeit und das Gefühl, mit der Welt verbunden zu sein. Im Gegensatz dazu gehen Psycholog_innen in der Regel von der Annahme aus, dass der Tastsinn keinen Vorrang vor den anderen Sinnen hat.
Im Alltag ist der Hang, etwas durch das Anfassen noch einmal zu checken, weitverbreitet. Beispiel Handy-Nutzung: Offenbar drücken viele doch immer noch lieber Tasten oder Knöpfe und finden diesen Rest von Haptik befriedigender, als etwas auf dem Touchscreen auszuwählen. Ladengeschäfte setzen darauf, dass die Kund_innen die Waren in die Hand nehmen und nicht nur in der Vitrine anschauen wollen. Auch in der Medizin gibt es Beispiele: In entsprechenden klinischen Studien etwa prüfen Patient_innen mit Zwangsstörungen
Wasserhähne oder Schlösser noch einmal mit den Händen, auch wenn sie wissen, dass sie zu sind.
Ein interdisziplinäre Forscherteam der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) und der School of Advanced Study (SAS) der Universität London hat das Phänomen nun genauer untersucht. In Nature Scientific Reports zeigen sie, dass wir bei unklarer Informationslage sozusagen mehr auf unsere Fingerspitzen vertrauen als auf unsere Augen.
*Der Streichholztest*
Ausgangspunkt der Experimente war eine einfache optische Täuschung, bei der zwei Streichhölzer in Form eines umgedrehten T angeordnet waren. Wenn beide Hölzchen die gleiche Länge hatten, erschien stets das vertikale länger als das horizontale; darin lag die Illusion. Die Proband_innen sollten nun ihre Wahrnehmung testen – bei unterschiedlichen Längen der Hölzchen, mal waren diese fast gleich lang, mal ließ sich der Unterschied klar erkennen. Der Versuchsaufbau war so gewählt, dass die Versuchspersonen die Längen sehen, aber auch ertasten konnten. Bei jedem Vergleich sollten sie zusätzlich auch angeben, wie sicher sie sich mit ihrem Urteil waren. Das Ergebnis war frappierend: Es gelang ihnen zwar besser, die Längenunterschiede zu sehen, als sie zu ertasten, und erwartungsgemäß waren sie sich dabei auch ziemlich sicher. Je kleiner aber der Längenunterschied zwischen den Hölzern war und die Testpersonen ihn eigentlich nicht mehr erkennen konnten, sondern erraten mussten, desto mehr vertrauten sie dabei ihrem Tastsinn. „Wenn der Kontext nicht eindeutig ist, gibt uns unser Tastsinn offenbar mehr als nur verlässliche Informationen. Er vermittelt uns ein Gefühl der Gewissheit – einen festeren Zugriff auf die Wirklichkeit“, sagt Merle Fairhurst, Assistant Professor am Lehrstuhl für Theory of Mind der LMU und Hauptautorin der Arbeit.
„Der Tastsinn ist, wie wir jetzt zeigen können, nicht besser oder genauer als die anderen Sinne, er gibt uns nur ein sichereres Gefühl, dass wir richtig liegen“, sagt Professor Ophelia Deroy, Inhaberin des Lehrstuhls für Theory of Mind an der LMU und Ko-Autorin der Studie. Die Ergebnisse zeigten nicht nur, wie schwierig es ist, seine eigene Wahrnehmung zu reflektieren, schreiben die Autoren. Sie ließen auch erkennen, wie spezifisch und wichtig das Berühren, das Ertasten, ist, um sich der Welt zu vergewissern.
Autorin / Autor: Redaktion/ Pressemitteilung - Stand: 25. Oktober 2018