Minimale Überschneidung, maximale Anziehung

Studie: Wer sich selbst ein unveränderliches "Wesen" zuschreibt, überschätzt oberflächliche Gemeinsamkeiten mit anderen

Du fühlst dich von einer Person angezogen, weil sie die gleiche Musik liebt wie du? Fühlst dich schon fast seelenverwandt, wenn jemand deine Liebe für eine bestimmte Autorin, einen Künstler oder ein Filmgenre teilt?

Dann bist du möglicherweise dem Essenzialismus anheim gefallen. Essenzialismus beschreibt die Vorstellung, dass jedem Wesen eine gewisse Essenz innewohnt, die mit unveränderlichen Eigenschaften einhergeht. Dieses Wesen äußert sich in unserem Verhalten und in unseren Vorlieben. Finden wir nun jemanden, der ähnliche Vorlieben hat, sind wir überzeugt, er würde uns auch im Wesen ähneln. Für solche Trugschlüsse ist eine Art psychologischer Essenzialismus verantwortlich, sagen Forscher Charles Chu von der Boston University und seine Kolleg:innen, die die Auswirkungen dieser Denkweise in einer Studie mit drei verschiedenen Experimenten und rund 1000 Testpersonen untersucht haben.

Der Wolf bleibt ein Wolf

Den Forscher:innen zufolge essentialisieren Menschen ständig: andere Menschen, Tiere, Dinge, aber auch sich selbst. Sie gehen - mal mehr, mal weniger - davon aus, dass uns bestimmte Eigenschaften innewohnen, die unveränderlich sind. Als Beispiel für Essentialisierung führt Chu den Wolf an: Er wird "durch eine Wolfswesenheit definiert, die in allen Wölfen wohnt und von der Eigenschaften wie ihre spitzen Nasen, scharfen Zähne und flauschigen Schwänze sowie ihr Rudelwesen und ihre Aggressivität abstammen. Das ist unveränderlich, ein Wolf, der von Schafen aufgezogen wird, ist immer noch ein Wolf und wird schließlich wolfsähnliche Eigenschaften entwickeln."

Wer sich nun selbst essenzialisiert, der definiert sich durch eine bestimmte Reihe von vermeintlich unveränderlichen Eigenschaften. Er glaubt, was andere an ihm beobachten können, ist Ausdruck dieses inneren Wesens. Und das überträgt sich offenbar auch darauf, wie andere Menschen betrachtet werden und wie anziehend sie gefunden werden.

Gleicher Kunstgeschmack, gleiche Weltsicht?

Hierfür führten die Forschenden Experimente mit Freiwilligen durch. Dabei sollten die Testpersonen anhand verschiedener Beschreibungen - etwa zu Kunstvorlieben einer Person oder zu politischen Einstellungen - einschätzen, wie anziehend sie eine fiktive Person finden und wie sehr deren Weltsicht wohl mit der eigenen übereinstimmte. In einem Experiment war die einzige Gemeinsamkeit mit einer anderen fiktiven Person, dass sie die Anzahl von farbigen Punkten auf einem Bildschirm ähnlich einschätzte.

Dabei zeigte sich deutlich, dass Menschen, die stärker zu essentialistischem Denken neigen, Menschen schnell anziehender fanden, wenn sie eine noch so banale Gemeinsamkeit mit ihnen hatten - das konnte eine bestimmte politische Ansicht sein oder einfach nur die Vorliebe für einen bestimmten Künstler (aus einer Auswahl von zweien, hier Paul Klee oder Wassily Kandinsky).

Die Forscher:innen waren überrascht, dass bereits minimale Übereinstimmungen - etwa den gleichen Maler zu bevorzugen -  dazu führten, dass manche Testpersonen gleich eine halbe Seelenverwandtschaft witterten. Selbst-essentialistisches Denken sei darum ein zweischneidiges Schwert, warnen die Wissenschaftler:innen. Wer auf Basis minimaler Informationen schnell Urteile fälle oder einen ersten Eindruck habe, der lasse sich von selbst-essentialistischem Denken beeinflussen. Menschen seien jedoch so viel komplexer. Die Annahme, dass diese gemeinsamen Interessen eine tiefere und grundlegendere Ähnlichkeit widerspiegeln, sei möglicherweise sehr irreführend.

Bevor ihr euch also für eine:n Seelenverwandt:en begeistert, nur weil sie oder er die gleiche Eis Sorte oder dasselbe Lieblingslied hat, schaut genauer hin.

Die Ergebnisse der Studie sind im Fachmagazin Journal of Personality and Social Psychology erschienen.

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Autorin / Autor: Redaktion / Pressemitteilungen - Stand: 21. April 2023