Memorandum

Von Isabella Hesse, 21 Jahre

Irgendwo in diesem Raum kann er finden, was ihm fehlt. Miko dreht sich auf der Stelle, legt den Kopf in den Nacken und späht hinauf zur Decke. Wo soll er beginnen zu suchen?

Vorher sitzen sie zu dritt zusammen, so wie immer.
„Ich hoffe, ich habe heute mehr Erfolg. Ich habe mich gestern an Matheunterricht erinnert“, spottet Zira und schneidet eine Grimasse. Zira kann Stimmlagen, Mimik und Gestik aufstülpen wie eine Sonnenbrille. Sie lachen alle, weil sie wissen, was sie von Mathe halten sollen. Keiner von ihnen war gut darin. Jetzt haben sie natürlich keine Schwierigkeiten mehr mit Berechnungen.
„Vermisst ihr die Schule?“, fragt Will. Er stellt oft Fragen, auf die er keine Antwort möchte. Miko hat den Verdacht, dass Will es einmal beherrscht hat, zu plaudern, ohne dabei etwas zu sagen. Jedermanns Freund, ein Wesen ohne Ecken und Kanten. Zira verdreht die Augen, so gut sie es kann, und wuschelt ihm durchs Haar. „Keine Ahnung, Kleiner.“
„Miko.“
Alle drei blicken gemeinsam zur Gestalt, die in der Tür steht.
„Du bist dran.“

Es war der einzige Weg, sagen sie, um ihn zu retten. Vor dem Tod. Davor, dass alles zu Ende ist. Sie sagen Miko nicht, was mit ihm passiert ist. Nur dass ihm etwas zugestoßen ist, und um ihn zu retten, um ihn zu behalten, haben sie ihn gespeichert. Alles was er weiß, alles was er je erlebt hat, gespeichert. Dann haben sie ihn zurückgebracht, in den neuen Körper, den sie ihm gebaut haben. Es ist normal, dass manche Dinge nachher anders sind. Es gibt immer ein Restrisiko. Aber die Erinnerungen sind nicht fort. Er muss sie bloß finden. Sonnenlicht fällt durch die Fenster, zerteilt den Raum in dicke Scheiben von bläulichem Schatten und gelben Staubwirbeln. Trotzdem ist in jedem Winkel gleich gut zu sehen, wie auf einem Filmset, wo selbst bei nächtlichen Szenen der Raum gut ausgeleuchtet ist. Miko erwartet fast, hinter einem Bücherregal die Rückseite einer bemalten Sperrholzplatte zu sehen. Doch dieser Raum ist mehr als Kulisse. Jede Erinnerung hat Bedeutung, von den halbmondförmigen Fingernagelnarben im weichlichen Holz einer Armlehne, bis zum hellen Haar, das von einem Buchrücken fällt, als er es mit dem Finger berührt, und im Teppich verschwindet. Miko schaut nach links und rechts. Er wünscht sich die Augenpaare seiner Freunde, und plötzlich sieht er die beiden. Wills helle Locken sind rostig verfärbt, sein kleiner Körper verbogen. Rote Flecken trocknen maskenartig auf Ziras hübschem Gesicht und verkleben ihre schwarzen Cornrows. Ihr Mund hängt offen, schief und dunkel. Miko friert eine Zeit lang ein. Unfähig zu verarbeiten was er sieht.
Nein. Das ist vorbei, ermahnt er sich, Du musst ruhig bleiben. Du musst weiter suchen. Er beginnt an der ihm gegenüberliegenden Wand, geht in die Hocke, fährt die Fuge zwischen verputztem Backstein und Parkettboden mit dem Finger ab und sammelt nur Staub, aber keine Hinweise. Sucht das unterste Regalbrett ab, greift nach einer Schneekugel, dreht, schüttelt sie. Als er ein Buch aufschlägt, übertölpelt ihn ein süßlicher Vanilleduft, gewürzt mit kitzligem Staub, der ihn an die Plüschmöbel bei Großeltern erinnert. Miko steht, klopft die Wand ab. Er schafft es von einem Ende des Raums zum anderen, bevor er merkt, dass der raue Putz die Haut von seinen Knöcheln schält. Spüren tut er natürlich nichts. Ein Blinken fällt ihm ins Auge, er folgt ihm zur gerundeten Oberfläche eines bauchigen Einmachglases. Er kann nicht entziffern, was auf dem vergilbten Etikett steht, dessen Ecken sich kräuseln. Der Inhalt ist matschig, orangegelb, wie –

„Aprikosen.“
Das Wort fällt stockend, ungeschickt von seinen Lippen, aber er versucht es weiter. „Früchte, klein, rund, orange, ein bisschen wie Pfirsiche.“
„Weiter, was noch?“, fragt eine helle Stimme.
„Bücher lesen, Sofa bei Großeltern, altmodische Möbel. Teppich, kurze Borsten, weich, blass vor Staub.“
„Gut, und sonst?“
Er gräbt die Fäuste in die Augenhöhlen. Miko kennt nichts, was schlüpfriger ist als Erinnerungen, aber wenn er die Dinge laut aufsagt, ist es als schlage er einen Nagel hinein.
„Regale, Holzbretter, weiches Holz, Holz mit Macken, Kerben, Kratzern … “
Aus der ruhigen Bibliothek wird ein Labyrinth aus Dornengestrüpp und Spinnweben. Er spürt eine Hand auf seiner Schulter. Leicht und klein.
„Verdammt…“
Ausgefranste Erinnerungsfäden baumeln in seinem Kopf, aber er bekommt sie nicht durch das Nadelöhr. In Sekunden lösen sie sich vollends auf.
„Komm, Miko“, sagt die helle Stimme. Sie klingt wie Dunst, der von Badewasser aufsteigt. Mit einem „Klick“ wird er ausgesteckt. Die kleine Hand berührt seinen Ellenbogen. Er steht, lässt sich von ihr hinaussteuern. Ein Mädchen streift an ihm vorbei in den stillen Raum, ein paar Zentimeter größer als er, mit schwarzen Cornrows, die sie auf ihrem Kopf zu einem Knoten hochgesteckt hat. Braune Augen zwinkern ihm zu, als sie sich auf den Stuhl schwingt, zurücklehnt, die schlanken, braunen Arme an ihre Seiten legt und die schimmernd geschminkten Augenlider schließt. „Klick“, hört er, als sie eingesteckt wird. Draußen lässt Miko seinen Körper, der nie müde wird, gegen die Wand des Korridors sacken.
„War es schlimm?“, fragt Will leise. Miko wirft einem Arm um Wills Genick und zieht den kleineren Jungen in eine tollpatschige Umarmung. Seine Locken streifen Miko am Ohr.
„Ich hab euch zwei schon wieder gesehen. Was damals mit euch passiert ist.“ Miko kneift die Augen zu.

„Ich frag mich, warum du an der Erinnerung festhängst. Ich weiß gar nichts mehr davon“, sagt Will. Wenn er spricht, bohrt sich sein spitzes Kinn in Mikos Schulter.
„Ich mach‘s nicht mit Absicht“, murmelt Miko. Wills Hand berührt die Faust, die Miko noch immer geballt hält. Er biegt einen nach dem anderen die Finger auf, wie Büroklammern, wie Blütenblätter. Will lässt seine eigenen Finger dazwischen gleiten und verschränkt ihre beiden Hände.
„Erzähl mir was Schönes“, flüstert er. Miko überlegt.
„Es gibt etwas Süßes, das heißt „Vanille“. Im Sommer haben wir Eis gegessen, es ist schnell geschmolzen und hat überall getropft. Das hat nach Vanille geschmeckt.“
„Hmm. Vanille kenn ich.“

Miko saugt die Luft tief ein, aber er riecht nichts, weder Staub, noch Vanille, noch Blut.
„Denkst du, dass die schönen Dinge die Wichtigen sind?“, fragt Miko und öffnet die Augen. Will bewegt den Kopf, sodass eine hellblonde Haarsträhne Miko an der Nase streift. Es sollte kitzeln, aber das tut es nicht.
„Ich weiß nicht. Aber vielleicht kommen sie uns schön vor, weil sie wichtig sind?“
Miko denkt daran, was er gefühlt hat, als er die Leichen seiner Freunde gesehen hat. Es war ein großes Etwas, dass sich in ihm aufgebäumt hat, sich von seinem Bauch bis in seinen Mund hochgekrallt und seine Kehle blockiert hat. Es hat sich wichtig angefühlt, aber kein bisschen schön. Er kann es kaum erwarten, es wieder zu spüren. Gegen die Enge im Hals zu schlucken, während seine Augen brennen und heißes, nasses Wasser über seine Wangen läuft. Und die ganze Zeit hat er dieses Gefühl in der Brust, als würde er zerbersten. Es ist so ein leuchtendes Gefühl.

Er nennt sie seine Freunde, die zwei, die so sind wie er. Freundschaft war eines der ersten Dinge, die sie kennenlernten, aber ganz verstanden hat Miko es noch immer nicht, denn er denkt manchmal, es würde ihm nichts ausmachen, einen von ihnen mit einem anderen Menschen auszutauschen, und das kommt ihm nicht richtig vor. Er denkt an Zira und denkt an Straßenkünstler, Wunderkerzen, Schattentheater. Bei Will denkt er an purpurne Dämmerungswolken und Glühwürmchen. Graue Strände und schäumende Gischt auf Türkisfarbenem Wasser. Straßenlaternen, die orangefarbene Lichtkegel aus dunklen Straßen höhlen. Er kennt seine Freunde, aber er versteht sie nicht. Wieso sehnen sie sich nach Süßigkeiten, die sie nicht schmecken können? Warum schminkt Zira sich die Augen? Warum hält Will seine Hand? Warum sucht Miko diese schlichten Berührungen, frisst sich daran voll, ohne Hunger zu haben, ohne satt zu werden?

„Schneekugeln halten nicht ewig, wusstest du?“, sagt Miko.
„Nicht?“
„Nein. Man würde meinen, im Glas bleibt alles gleich. Aber irgendwann verdampft die Flüssigkeit und dann fällt der Schnee nicht mehr richtig.“
Will ist eine Weile still. Dann stellt er wieder eine seiner Fragen: „Also sind Schneekugeln sterblich?“
Miko ahnt, dass es jemanden gibt, der auf ihn wartet, der nicht wollte, dass er verloren geht. Er hat eine Vorstellung, fast wie ein Traum, obwohl er nicht mehr schläft. In dieser Vorstellung öffnet ihm jemand die Türe und sagt erstaunt seinen Namen und schließt ihn in die Arme, so wie Will jetzt. Dann tritt die Person, die kein Gesicht trägt, an das er sich erinnern kann, einen Schritt zurück. Er hört sie sagen: „Nein, du kannst es nicht sein.“
Man hat es ihnen oft gesagt: Es fehlt nicht mehr viel, dann dürfen sie nachhause gehen. Aber erst wenn sie dieses Etwas gefunden haben, das ihnen noch fehlt. Er schließt die Augen und sieht die Leichen seiner Freunde, aber diesmal so wie sie jetzt sind.

Will, den Schädel eingeschlagen. Unter seinen blonden Locken liegt Gehirnmasse in Kunststoff verschweißt. Dünne Kabel und Schläuche laufen wie Spinnenbeine aus Lakritze, versorgen ihn mit Strom und schwarzem Öl, das aus seinem Augenwinkel tropft. Seine zierlichen Gliedmaßen verbogen, ein Unterarm hängt nur noch an einem dünnen Streifen Gummi. Zira, die fleischige Maske ihres Gesichts halb abgezogen und zerknautscht, dahinter bläulicher Stahl. Funken sprühen aus der Pumpe hinter ihren Rippen. Kleine Lämpchen blinken hinter der Glasfront ihrer Augen. Glitzernder Lidschatten rieselt durch die Ritzen, verklebt die Zahnräder, die ihren Mund auf und zu machen, auf und zu, auf und zu.
Nein, so können sie nicht nachhause gehen.

Irgendwo in diesem Raum kann er finden was ihm fehlt.
Er muss sich nur erinnern.
Er beginnt von neuem zu suchen.

Autorin / Autor: Isabella Hesse