Mehr Mathe erhöht MINT-Interesse von Mädchen nicht

Wissenschaftler_innen der Universität Tübingen: Schulreformen können auch unerwünschte Nebenwirkungen haben

Mädchen zeigt auf Matheformeln

Immer noch wählen hierzulande zu wenig Mädchen und junge Frauen Berufe in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, also im MINT-Bereich. Es wird ausführlich darüber geforscht, was das Interesse von Mädchen an diesen Berufen steigern könnte. Einer der Zwischenerkenntnisse lautet jetzt: Mehr Matheunterricht ist es offenbar nicht! Das fanden nun Wissenschaftler_innen der Graduiertenschule und des Forschungsnetzwerkes LEAD an der Universität Tübingen in einer Studie über die Gender-Effekte der Oberstufenreform heraus. Auslöser für ihre Untersuchung war die Tatsache, dass seit der Oberstufenreform 2002 in Baden-Württemberg das Kernkompetenzfach Mathematik von allen Schüler_innen vierstündig in den letzten beiden Jahrgangsstufen vor dem Abitur belegt werden musste. Damit sollte eine hohe Qualität an Mathematikkenntnissen gewährleistet werden. Da gute Mathematikkenntnisse in Zusammenhang mit der Wahl von Studienfächern aus dem MINT-Bereich stehen, lag die Vermutung nahe, dass sich nach der Reform mehr Mädchen für ein MINT-Studium entscheiden würden.

Aber nun kommt die ernüchternde Einsicht: Eine Erhöhung der Pflichtstunden für Mathematik in der Oberstufe führt leider nicht automatisch dazu, dass sich mehr Frauen für MINT-Berufe entscheiden. Das Gegenteil ist sogar der Fall: Die Reform der gymnasialen Oberstufe, nach der alle Schüler_innen Mathematik auf Leistungskursniveau belegen müssen, hat die Geschlechtsunterschiede in Bezug auf die Interessen im MINT-Bereich sogar noch verstärkt. Schülerinnen hatten außerdem nach der Reform weniger Selbstvertrauen in ihre eigene Mathematikkompetenz als vorher.

Die Wissenschaftler_innen wollten wissen, ob sich die Reform auf die spätere Studienfachwahl auswirkte, welche Effekte sie auf die Mathematikleistung von Mädchen und Jungen hatte, wie Schüler_innen ihre eigene Leistung vorher und nachher einschätzten und schließlich auch, ob sich ihr Interesse im MINT-Bereich veränderte. Dazu verglichen die Forschenden im Rahmen einer Langzeitstudie Daten von rund 4.700 Schüler_innen vor der Oberstufenreform mit Daten von ebenso vielen Schüler_innen nach der Reform.

*Eine Frage des Selbstvertrauens*
Das Ergebnis: Die Leistungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen in Mathematik haben sich nach der Reform verringert, auch wenn nach wie vor die Jungen besser abschnitten. Aber obwohl die Schülerinnen eine höhere Leistung erzielten, schätzten sie ihre mathematischen Fähigkeiten nach der Reform schlechter ein als zuvor. „Dies könnte daran liegen, dass sie vor der Reform häufiger Grundkurse mit weniger Mathematikunterricht gewählt hatten und das gestiegene Leistungsniveau nach der Reform dazu geführt hat, dass die eigene Leistung geringer eingeschätzt wird“, vermutet Nicolas Hübner, Erstautor der Studie. Das Selbstvertrauen der Jungen in ihre Mathematikkompetenzen hatte sich dagegen nicht verändert.

*Interesse der Mädchen an MINT kaum gestiegen*
Außerdem zeigt sich, dass das Interesse der Mädchen für Tätigkeiten in MINT-Bereichen kaum gestiegen war, während Jungen nach der Reform noch stärker an technisch-praktischen oder forschend-intellektuellen Tätigkeiten interessiert waren. „Dies deutet darauf hin, dass mit Hilfe von Schulreformen auch Interessen beeinflusst werden können“, erklärt Eike Wille, ebenfalls Erstautorin der Studie. Allerdings sei der Zusammenhang noch wenig erforscht und müsse genauer untersucht werden. Die Geschlechtsunterschiede bei der Studienfachwahl im MINT-Bereich haben sich durch die Reform nicht verändert. Hier entscheiden sich immer noch deutlich mehr Männer als Frauen für diese Studiengänge.

Laut den Autor_innen lassen sich die Ergebnisse in eine Reihe von Studien einordnen, die zeigen, dass Bildungsreformen oft zu deutlich geringeren Effekten führen als ursprünglich erwartet. Darüber hinaus werden sie in vielen Fällen auch von unerwarteten Nebenwirkungen begleitet. „Reformen im Bildungssystem gleichen bislang viel zu oft Blindflügen“, resümiert Ulrich Trautwein, Direktor der Graduiertenschule und des Forschungsnetzwerkes LEAD. „Die Ergebnisse unserer Studie unterstreichen die Bedeutung von systematischer Begleitforschung vor, während und nach der Durchführung von Bildungsreformen“.

Die Ergebnisse wurden im Journal of Educational Psychology veröffentlicht.

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Autorin / Autor: Redaktion/ Pressemitteilung