Licht in der Dunkelheit

Von Julia Krause, 24 Jahre

Die Tränen liefen die Wange des Mannes hinunter und tropften bedächtig auf seine verkrampfte Hand. Als ob er die sanfte Berührung spüren würde, zuckte er leicht im Schlaf zusammen. Der Traum entwischte ihm, aber die Traurigkeit blieb. Unfähig, weiter zu schlafen, öffnete er die Augen und starrte orientierungslos in die Dunkelheit. Sein Kopf war wie leergefegt, er wusste weder, wo er war, noch, was er soeben geträumt hatte. Langsam strich er mit seinen unbeweglichen Fingern über den Untergrund, auf dem er lag. Es fühlte sich wie ein Bett an. Mühsam setzte er sich auf, als plötzlich neben ihm ein rotes Licht zu leuchten begann. Erschrocken drehte der Mann den Kopf nach rechts und versuchte zu erkennen, wo die Helligkeit auf einmal herkam. Seine schwachen Augen waren dabei keine große Hilfe und so machte er lediglich einen menschlichen Umriss aus, der sich wenige Meter von ihm entfernt im Raum befand. Da er seine momentane Lage nicht einschätzen konnte und sein Körper ihm ungewohnt schwerfällig vorkam, fiel ihm keine andere Möglichkeit ein, als die andere Person anzusprechen. Er erinnerte sich wieder an die gute Erziehung in seiner Kindheit. Sich leise räuspernd, fragte er unsicher, aber höflich in die Stille hinein:
„Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wo ich mich befinde?“
Als ob die Person nur auf seine Worte gewartet hätte, bewegte sie sich mit einem Ruck in seine Richtung und blieb etwa einen Meter vor ihm stehen. Der Mann kniff die Augen weiter zusammen, aber es war zwecklos. Er konnte auch jetzt noch nicht erkennen, wer da vor ihm stand. Ihm wurde auf einmal klar, dass das Licht von der Person ausging. Die roten Strahlen wurden immer intensiver und blendeten in der Dunkelheit. Angestrengt blinzelte der Mann, aber er sah keine natürliche Lichtquelle. Mit der Hoffnung, dass ihm derjenige helfen konnte, wartete er auf eine Antwort.
„Dies ist Ihr Zimmer im Seniorenheim. Sie wohnen hier seit 5 Jahren“, sprach eine monotone Stimme zu ihm, die er weder einem Mann noch einer Frau zuordnen konnte.
Der Mann war verwirrt. Warum sollte er in einem Heim für alte Menschen leben, wenn er doch jung war. Er erinnerte sich noch gut an die Feier von Großmutters sechzigstem Geburtstag, das war gar nicht so lange her. An diesem Abend hatte er dieses hübsche Mädchen kennengelernt, Marie hieß sie. Er freute sich schon darauf, sie wiederzusehen. In seinen Gedanken versinkend, vergaß er kurz, dass die andere Person noch anwesend war. Er hoffte, dass sie ihn nicht für unhöflich hielt, weil er sie ein paar Minuten ignoriert hatte. Dennoch musste er ihr verständlich machen, dass sie völlig falsch lag.
„Das kann unmöglich sein. Ich bin erst fünfundzwanzig Jahre alt und wohne noch bei meinen Eltern. Sie müssen sich irren!“
Mit der Absicht, schnell von dem Bett zu steigen, um den Lichtschalter zu suchen und die Situation zu erhellen, bewegte sich der Mann ruckartig nach vorn. Ein stechender Schmerz schoss ihm in seine Beine. Er lehnte sich fluchend wieder nach hinten, seine Atmung ging schwer. Im gleichen Moment hatte die Person ihren Arm ausgestreckt und ihn sanft festgehalten.
„Bitte bleiben Sie liegen, Sie können Ihre Beine nicht belasten. Wenn Sie etwas trinken möchten, kann ich Ihnen ein Wasser bringen.“ Die Person sprach weiterhin sehr monoton, wirkte geradezu emotionslos. Trotzdem war der Mann froh, dass er in seiner hilflosen Lage mit jemanden sprechen konnte. Aber wenn er sich nicht täuschte, war die Person plötzlich geschrumpft. Wie konnte das sein? Spielten ihm seine Augen einen Streich, oder hatte sie sich vielleicht hingesetzt? „Falls Sie die Toilette aufsuchen müssen, kann ich Ihnen aufhelfen und Sie dorthin fahren.“
Verwundert betrachtete der Mann die Person näher, er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie stark genug wäre, ihn zu tragen. Außerdem ging es ihm ja gut, mit seinen Beinen war alles in Ordnung. Oder etwa nicht?
„Nein, danke... ich... ich verstehe das nicht! Warum habe ich solche Schmerzen in den Beinen? Ich bin doch kerngesund. Bitte helfen Sie mir, hier stimmt doch etwas nicht! Wo sind meine Eltern?“ Die Verzweiflung in der Stimme des Mannes nahm zu. In seinem Inneren breitete sich langsam Panik aus.
„Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber Ihre Eltern sind bereits vor vielen Jahren verstorben. Doch Ihre Frau Marie wird Sie wie jeden Tag in ein paar Stunden besuchen kommen. Sie sollten versuchen, noch etwas zu schlafen. Ihnen kann hier nichts passieren, ich passe auf Sie auf.“
Völlig vor den Kopf gestoßen, schüttelte der Mann den Kopf. Diese Geschichte überzeugte ihn nicht. Allerdings hatte er auch keine andere Erklärung für seine Situation, er wurde einfach nicht schlau daraus. Träumte er etwa noch? Wenn es so sein sollte, war das wahrlich kein schöner Traum. Resigniert ließ er den Kopf auf das Kissen unter ihm sinken, faltete seine Hände auf seinem Bauch und begann zu grübeln. Nach ein paar Minuten Stille, in denen er sich nicht rührte, bemerkte er aus dem Augenwinkel, wie sich die Person in einer fließenden Bewegung von ihm entfernte. Ohne ein Wort zu sagen, nahm sie ihren Platz an der gegenüberliegenden Wand ein und das rote Leuchten, das von ihrem Körper auszugehen schien, erlosch mit einem Schlag. Der Mann schloss die Augen, in der festen Absicht, diesen seltsamen Traum hinter sich zu lassen und in der Realität aufzuwachen. Was würde Marie lachen, wenn er ihr davon erzählen würde. Er überlegte schon seit einiger Zeit, wie er ihr am besten einen Heiratsantrag machen konnte. Das Lächeln, das sich bei diesem schönen Gedanken auf seine Lippen schlich, blieb ihm erhalten, bis er einschlief.
Der Pflegeroboter scannte nachts regelmäßig das Gesicht des schlafenden Mannes auf Emotionen. So war er schneller gewappnet, falls dieser erwachen sollte und konnte ihn leichter beruhigen. Nach ein paar Stunden schreckte der alte Mann erneut hoch und schaute sich verwirrt um. Der Roboter leuchtete sofort rot, um seine Bereitschaft zu signalisieren. Er lenkte die Aufmerksamkeit des alten Mannes auf sich, um dessen Panik zu verhindern. Mit den Jahren hatte er sich ein Repertoire an Standardsätzen angeeignet, die die häufigsten Fragen beantworteten. Er wartete auf die gewohnten Worte, die ihr nächtliches Gespräch beginnen würden.
„Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wo ich mich befinde?“

Autorin / Autor: Julia Krause