Leben im Ohr

Von Rebecca Zöller, 21 Jahre

„Er trägt ein blau-rot kariertes Hemd. Ich weiß, du stehst nicht auf diese Holzfäller Hemden, aber du wirst sehen, dass es ihm echt gut steht. Dunkle Jeans. Und ein Ohrring rechts am Ohr. Die Haare hat er heute nach rechts gekämmt, denn er kommt grade von einem Meeting mit seinem Boss. In 15 Minuten wird er sich sein Schnitzelbrötchen bei Backwerk kaufen.”

Ich saß im Bus und war aufgeregt. Heute war es so weit. Endlich. 23 Jahre hatte ich nun damit verbracht, immer wieder den Radar zu checken. Und seit vier Wochen bereitete ich mich nun vor. „Lio, einmal nochmal bitte die wichtigsten Daten.”

„Daniel Johann Weidemann. Geboren 2075. Abschluss in Computer Science an der Internationalen Universität der Vereinten Nationen im Jahr 2096 nach zwei Jahren Blitzstudium. Aktuell beschäftigt bei Huaweii in der Entwicklungsbranche, hat durch sein Gespräch gerade gute Chancen auf den Posten des stellvertretenden Abteilungsleiters. Dienstags um 19 Uhr beim Gesprächskreis der VVECA, der Verein der Verunsicherten ehemaligen CDU-Anhänger, Mittwochs 20-22 Uhr Abendkurs in Mandarin, Montags, Donnerstags und Freitags von 20.05 Uhr bis 22.13 Uhr im Fitx-Studio am Trainieren. Lieblingsspeise: Schnitzelbrötchen, das er sich jeden Wochentag bei Backwerk um 14.32 Uhr holt”. „Danke Lio, das reicht erst einmal”, sagte ich und berührte mein Ohr.

Weidemann. Elizabeth Weidemann. Ja, der Name hört sich schön an. Der würde auch meiner Großmutter gefallen. Oft musste ich an sie denken. Sie ist vor 7 Jahren gestorben. Ich trug immer noch ihr Tagebuch mit mir herum. Aus der Schule wusste ich, dass früher jeder Bücher besaß und auch Tagebücher geschrieben hat. Heute waren alle Bücher in den großen Landesbibliotheken aufbewahrt und der Zutritt war nur aus akademischen Gründen gestattet. Einmal hatten wir einen Schulausflug gemacht. Millionen von Büchern stehen in der großen Bibliothek in Berlin. Ich liebte das Tagebuch meiner Oma, vor allem die Geschichte, wie sie dreimal die Theorieprüfung der Fahrschule wiederholen musste, weil sie sich die Fragen nicht merken konnte.

„Hättest du mal deine eigene Lio gehabt”, hatte ich früher immer gesagt. Meine Lieblingsgeschichte in dem Tagebuch spielte am 24.05.2015. Da hatte sie nämlich das erste Mal Kontakt zu meinem Großvater. „Ich kann es immer noch nicht glauben, dass ich jetzt so verzweifelt bin”, schrieb sie in ihrer schrägen Schreibschrift: „Aber ich bin es leid. Und vielleicht hab‘ ich ja Glück. Ja, ich habe jetzt auch Tinder installiert. Und ich muss sagen, was vielleicht noch unglaublicher ist: Es macht Spaß. Und mir hat schon ein netter Typ geschrieben. Mark ist zwei Jahre älter als ich und laut Tinder nur 6km entfernt.” Eine Woche später haben sie sich zum ersten Mal getroffen. Und das ganz ohne jegliche Unterstützung. Erst gestern hatte ich noch mit Lio darüber gesprochen, wie das Leben ohne die künstliche Intelligenz ablaufen würde. Gerade auch der Prozess, die große Liebe zu treffen. Es gab diese Technik zwar erst seit 27 Jahren und ich gehörte zu der ersten Generation, die damit ausgewachsen ist.

Als meine Mutter mich mit vier Jahren implementieren ließ, sagte sie mir, dass Lio mich ab nun unterstützen wurde. Erst Jahre später, erfuhr ich, dass sie diesen Namen erfunden hatte, um mir meine Angst zu nehmen.  “Leben im Ohr” wurde dann zu der Abkürzung Lio und diese Lio begleitete mich nun seit 19 Jahren. „Du musst raus.” Erst als sie es mir sagte, bemerkte ich, dass der Bus in meine Zielstraße einbog. „Anhalten bitte”, dachte ich und wusste, dass Lio die Ansage dem Busfahrer übermitteln würde. Der Bus hielt an und ich stieg aus. Mein Herz klopfte stark.
„Alles, worauf die Liebe wartet, ist die Gelegenheit, sagt Miguel de Cervantes. Und das ist deine Gelegenheit”, hörte ich Lio noch. Dann sah ich ihn aus Backwerk rauskommen. Lio hatte Recht, ihm stand das Karo-Hemd.

Autorin / Autor: Rebecca Zöller