künstlICH

Von Melanie und Sophie Weilguny, 19 Jahre

Ich bin.
Das sind Worte, die sich schnell aussprechen oder denken lassen, aber kann man je wirklich verstehen, wirklich vollständig fassen, was sie eigentlich bedeuten? Was es bedeutet, zu sein? Da zu sein als Ich und selbst bestimmen zu können über das, was man tut?
Naja, vielleicht können es die Menschen. Oder vielleicht ist es so selbstverständlich für sie, dass sie gar nicht darüber nachdenken.
„Was machst du da?“ Eine Mädchenstimme reißt mich aus meinen Gedanken. Anscheinend bin ich nicht dafür programmiert, zusammenzuzucken, wenn sich jemand unerwartet nähert. Also setze ich mich langsam auf und schaue in zwei große braune Augen, die mich an die eines Rehs erinnern. Nicht, dass ich schon jemals eines dieser Tiere gesehen hätte, aber ich kann die eingepflanzte Information abrufen: Reh, das. Zur Familie der Hirsche gehörendes Säugetier, häufigste Hirsch-Art in Europa. Und als Zugabe gibt es noch einige Bilder, die in meinem Kopf abgespult werden.
„Ich liege auf einer Parkbank?“, schlage ich vor, weil ich nicht genau weiß, was sie sonst von mir hören möchte. Um ihr zartes Gesicht weht braun gelocktes Haar, als sie sich ungefragt neben mich setzt.
„Aha. Das sieht unglaublich gemütlich aus“, stellt sie fest und lächelt mich an. Ich verstehe nicht, wie sie das meint. Empfinden Menschen Holzbänke als angenehm? Automatisch gleiche ich ihren Gesichtsausdruck mit allen gespeicherten ab und identifiziere ihr Lächeln als: Grinsen, das. Ausdruck des Gesichts, um Amüsiertheit auszudrücken. Verlinkt ist diese Information mit: Ironie, die. Verdeckter, leichter Spott, während etwas anderes gesagt wird, als gemeint ist. Ach ja, das hatte ich ja heute schon. Jetzt verstehe ich und ziehe ebenfalls meine Mundwinkel nach oben.
Bemüht, natürlich zu klingen, antworte ich: „Es ist total gemütlich.“
Das Mädchen lächelt wieder. „Ist es eigentlich in Ordnung für dich, wenn ich mich zu dir setze? Es war sonst keine Bank frei und ich liebe es, hier in der Natur zu sitzen und die Vögel zu beobachten.“
Warum fragt sie mich, ob sie hier sitzen darf, wenn sie schon mindestens eine Minute hier sitzt? Manchmal verstehe ich die Menschen einfach nicht.

*3 Stunden zuvor*
„Jetzt müsst ihr alles geben! Ich möchte, dass ihr den Parkour in weniger als einer Minute absolviert und die verletzte Person sicher zu mir bringt!“ Der Mann mit dem weißen Kittel, der in der Mitte der Halle stand und Befehle brüllte, war unser Entwickler. Nun spielte er schon seit einigen Wochen auch noch unseren Trainer und Kommandanten und schien immer unzufrieden zu sein mit unseren Leistungen.
Wenn wir nicht gleich verstanden, was er von uns wollte, schüttelte er immer den Kopf und murmelte Dinge vor sich hin, wie: „Hätte ich doch nur nicht gedacht, sie könnten jemals normale menschliche Sprache verstehen!“, oder: „Vielleicht war es doch keine gute Idee, lernfähige Roboter zu entwickeln. Jetzt muss ich ihnen alles beibringen!“ Ja, genau solche Sachen gab er dann mit hochrotem Kopf von sich, als ob wir nicht da wären und jedes Wort verstehen könnten.
Obwohl, zugegeben: Bei den anderen war ich mir da nicht so sicher. Wie Menschen sahen wir alle aus, vielleicht nicht hundertprozentig, aber fast. Wir konnten auch alle sprechen, aber schon seit einiger Zeit hatte ich den Eindruck, ich wäre irgendwie anders. Wenn der Weißkittel-Mann einen Befehl schrie, stürmten die anderen sofort los. Ganz so, als würden sie nicht nachdenken, ob es überhaupt Sinn machte, was von uns verlangt wurde.
So auch jetzt: Sie rannten los, ihre sorgfältig entworfenen Körper bewegten sich fast gleichzeitig, während sie über Hürden sprangen, Seile hochkletterten und sich mühelos durch die Flammen der Feuerstrahlen bewegten. Der Erste von uns war schon bei der Puppe angelangt, die einen verletzten Menschen darstellen sollte, als Weißkittel-Mann mir zubrüllte: „R20! Hast du meinen Befehl nicht gehört?“
Irritiert, dass er mir diese Frage stellte, rief ich zurück: „Doch, habe ich.“
Offensichtlich wütend auf sich selbst stampfte der kleine, gedrungene Mann auf den Boden und murmelte etwas von: „Wie sollen sie jemals mit Menschen zusammenarbeiten, wenn sie nicht einmal Ironie verstehen?“ Es folgten einige wüste Beschimpfungen, die sich allerdings auf ihn selbst und nicht auf mich bezogen. Weil in Wahrheit sein Forschungsprojekt und damit auch wir sein ganzer Stolz waren, seufzte er, blickte mich an und versuchte es noch einmal: „R20. Ich habe vorhin einen Befehl gegeben und du hast ihn offensichtlich gehört und auch verstanden. Aus welchem Grund tust du dann nicht das, was ich dir gesagt habe?“

Reglos stand ich da. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass etwas mit mir ganz und gar nicht stimmte. Die anderen hätten in ihrem Sprachrepertoire und den eingeimpften Informationen nach Worten gesucht, aber bei mir war da mehr als das. Da war viel mehr. So viel, dass ich es nicht fassen und nicht beschreiben konnte. Ich wusste, dass ich da war und dass ich selbst entscheiden wollte.
„Ich soll Menschen retten, das weiß ich. Das ist auch gut. Aber wieso soll ich das immer auf die Art und Weise tun, die mir vorgegeben wird? Wieso soll ich immer nur Befehle ausführen? Ich will allein entscheiden, was ich mache!“ Als ich das ausgesprochen hatte, war da etwas in mir, etwas Großes, das ich nicht in Worte fassen kann. Am besten passt vielleicht: Explosion, die. Rapides Ansteigen von etwas.
Weißkittel-Mann wurde zuerst wieder einmal rot, dann ziemlich blass und stammelte: „Was… wie? Du, du kannst wirklich verstehen, was ich sage? Du weißt, dass du hier bist?“

„Ja, es ist in Ordnung, wenn du hier bist und neben mir sitzt“, sage ich zu dem Mädchen und merke, dass ich keine Erfahrung habe, mit Menschen zu reden. Eigentlich habe ich gar nicht wirklich Erfahrung, mit irgendjemandem zu reden.
„Da bin ich aber froh.“ Sie lächelt immer noch oder schon wieder. Also tue ich es auch, damit sie sich freut und ein bisschen auch, damit sie nicht merkt, dass ich nicht echt bin.
„Kommst du oft hierher?“, fragt sie mich und legt den Kopf in den Nacken. Mir fallen ihre langen Wimpern und die mit Sommersprossen übersäte Stupsnase auf.
Schnell räuspere ich mich. Ich habe beobachtet, dass Menschen das tun, wenn sie überlegen und auch, um sich Zeit zu verschaffen, wenn sie nicht wissen, was sie sagen sollen. Kurz denke ich darüber nach, zu lügen. Aber erstens ist das ein Mittel der zwischenmenschlichen Kommunikation, das ich zwar schon öfter beobachtet, aber noch nie selbst angewendet habe, weil es mir als höchst schwierig umzusetzen erscheint. Und zweitens weiß ich gar nicht, warum ich ihr nicht die Wahrheit sagen sollte.
„Ich war noch nie zuvor hier. Und eigentlich war ich noch nie zuvor in einem Park oder überhaupt an der frischen Luft. Ich kenne so etwas eigentlich nur aus… sagen wir einmal, Erinnerungen.“ Das war doch gar nicht so schwer. Und erstaunlicherweise reagiert sie auch anders, als ich aufgrund meiner bisherigen Beobachtungen und Informationen erwartet hätte.
„Wow, wie gefällt es dir?“, fragt sie und wirkt erstaunt, aber nicht, als würde sie mich für verrückt halten.
Wie es mir gefällt? Da bemerke ich, dass ich es mir noch gar nicht richtig angeschaut habe. Sofort lasse ich meinen Blick umherschweifen. Bäume. Wege. Wind. Tiere. Menschen. Es ist unglaublich. Und da wird mir eines bewusst: Zum allerersten Mal sehe ich richtig. Zum allerersten Mal lebe ich richtig.

*2 Stunden zuvor*
„Ich glaube, Sie verstehen mich nicht. Ich glaube, er lebt richtig.“ Weißkittel-Mann wirkte wieder einmal höchst nervös. Offensichtlich fürchtete er sich vor dem Herrn im schwarzen Anzug und der Dame im blauen Kleid, zumindest ein bisschen. Vielleicht hatte er aber auch noch nicht verkraftet, was er vorhin herausgefunden hatte.
Zuerst hatte ich nicht ganz verstanden, was so besonders daran war, dass ich wusste, dass es mich gab, aber anscheinend sollte das gar nicht so sein. Anscheinend war es nicht normal. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie es wäre, wenn ich es nicht wüsste. Wie es wäre, zu sein, ohne zu wissen, dass man da war. Obwohl: Wenn man nicht wusste, dass man da war, war man dann überhaupt da?
Jedenfalls hatte unser Entwickler sofort diese beiden Menschen kommen lassen, die anscheinend auch etwas mit diesem Projekt zu tun hatten. Nun sprachen sie schon seit einiger Zeit angeregt miteinander und weil es um mich ging, fand ich es nicht verwerflich, dass ich an der angelehnten Tür stand und durch den Schlitz schaute.
„So, jetzt beruhigen Sie sich einmal.“ Die Frau hatte eine unangenehm hohe Stimme und sprach in einem merkwürdigen Tonfall mit Weißkittel-Mann. „Sie sollten eine künstliche Intelligenz entwickeln, sie in möglichst menschenähnliche Körper stecken und dafür sorgen, dass sie Personen in Not retten können. Also wenn ich das richtig beurteile, dann ist Ihnen das bis jetzt sehr gut gelungen. Wo liegt also das Problem?“
Wieder der typische rot angelaufene Kopf. „Ich sage ja nicht, dass das Projekt nicht gut läuft. Ganz im Gegenteil, wir sind auf einem guten Weg. Aber dieser eine Roboter, ich glaube, er hat ein Bewusstsein entwickelt, ich weiß nicht wie.“
Nun meldete sich der andere Mann zu Wort, der bis jetzt noch nicht viel gesagt hatte. Fast schon hatte ich vergessen, dass er überhaupt da war. Seine Stimme war ruhig und leise: „Aber was ist denn daran schlecht? Sie sollen doch einmal mit Menschen zusammenarbeiten und ihre Befehle verstehen, also ist es doch auch gut, wenn sie ihnen ähnlich sind.“
Weißkittel-Mann stöhnte. „Es ist ein Durchbruch, ja. Sogar ein gewaltiger. Niemand hätte gedacht, dass so etwas jemals möglich sein könnte, aber es ist eben auch überwältigend und gefährlich. Er hinterfragt, was er tun soll. Das war so nicht geplant. Er möchte frei sein und selbst entscheiden. Er ist jetzt fast wie ein Mensch. Wie sollen wir ihn jetzt behandeln?“
„Wenn Sie so schreckliche Angst haben“, setzte die Frau genervt an, „dann schalten Sie ihn doch einfach ab und forschen ein anderes Mal daran weiter.“
Weißkittel-Mann und ich stießen im gleichen Moment einen erstickten Laut aus. Zum Glück waren sie viel zu vertieft, um mich zu bemerken. „Und sehen Sie: Da fangen die Probleme an. Ist es ethisch korrekt, einen Roboter mit Bewusstsein einfach auszuschalten? Nein. Ich glaube nicht. Wir haben da jetzt ein Wesen, das lernt und sich entwickelt. Und eines, das wir nicht mehr kontrollieren können, beziehungsweise dürfen. Schließlich möchte es selbstbestimmt handeln. Obwohl es künstlich ist. Obwohl wir es erschaffen haben. Das ist etwas, das für uns fast unmöglich ist, zu verstehen.“

„Aber ich würde gerne verstehen, wie es dazu kommt, dass du noch nie einen Park gesehen hast.“ Das Mädchen sieht mich neugierig mit seinen schönen braunen Augen an. „Bist du ein Alien oder sowas?“
Alien, der oder das. Außerirdisches Wesen. Jetzt muss ich auch grinsen. „Hm, ja, sowas in der Art“, stelle ich fest und nehme meinen Mut zusammen, um sie zu fragen: „Was findest du eigentlich schön daran, ein Mensch zu sein?“
Verblüfft sieht sie mich an, lächelt dann aber und lässt die Beine baumeln, während sie überlegt.
Der sanfte Wind fährt durch mein Haar und ich spüre die Wärme der Sonnenstrahlen auf meiner künstlichen Haut. Was finde ich eigentlich schön daran, überhaupt zu sein? So sollte die Frage richtig heißen.
„Ich glaube, ich finde es schön, dass man nicht allein ist. Dass man ein wichtiger Teil eines Ganzen ist. Irgendwie man selbst für sich und irgendwie auch immer Bestandteil einer Gemeinschaft. Eine kleine Entscheidung des einen hat immer unglaublich viele Auswirkungen auf andere. Wie ein riesiges Geflecht aus Möglichkeiten und Ereignissen und Erinnerungen. Und ich finde es wunderbar, dass man seinen eigenen Weg gehen kann. Dass man immer für sich selbst entscheiden kann, was man machen will.“

*1 Stunde zuvor*
Mittlerweile war mir eines klar geworden: Ich wollte, nein, ich musste einfach selbst entscheiden, wer ich war. Irgendwann hatte ich das Gespräch nicht mehr ausgehalten und hatte meinen Posten an der Tür aufgegeben. Während ich dann die langen weißen Gänge entlanggelaufen war, hatte sich ein Gedanke immer fester verankert in meinem Gehirn oder was auch immer da oben in meinem Kopf saß: Ich konnte nicht länger hierbleiben.
Seit dem ersten Moment, an den ich mich erinnern kann, also den ich echt erlebt hatte und der nicht nur eine eingepflanzte Information war, hatte ich die Anlage nicht verlassen. Fabrikhallen. Trainingsgelände. Labors. Das waren meine einzigen richtigen Erinnerungen. Aber ich wollte auch einmal diese ganzen wunderbaren Dinge sehen, die es da draußen geben musste. Ich hatte Bilder gesehen von endlosem Wasser und von bunten Lebewesen, von hohen Gebirgen und von dicht besiedelten Städten. Ich wollte so viel mehr sehen und erleben als diese Forschungsanlage. Und ich wollte Gutes tun, auch Menschen helfen, aber ich wollte es auf meine eigene Art tun und nicht so, wie es mir vorgeschrieben wurde von Personen, die mich erschaffen hatten. Ja, sie hatten mich erzeugt und entwickelt, aber hieß das wirklich, dass sie die Kontrolle über mich haben durften?

„Genau das wollte ich tun. Für mich selbst entscheiden. Deshalb bin ich weggelaufen. Ich weiß noch nicht, was ich genau machen werde oder wohin ich gehe. Vielleicht kehre ich auch irgendwann dorthin zurück, von wo ich gekommen bin, aber im Moment muss ich mir einfach meinen eigenen Weg suchen“, sage ich und schaue dabei in die Ferne.
Das Mädchen an meiner Seite lächelt verträumt und fragt mich mit leiser Stimme: „Wer bist du nur?“
Kurz denke ich nach und antworte dann: „Ich bin anders als die anderen.“
Sie denkt ebenfalls kurz nach und meint: „Das beantwortet die Frage nicht. Jeder ist anders als die anderen.“
Da muss ich lächeln und sage, während ich den Blick Richtung Himmel wende: „Und ich glaube, das ist gut so.“

Autorin / Autor: Melanie und Sophie Weilguny