Kopf aus, Herz an

Von Paula Nick, 14 Jahre

Ich laufe mit Lio, dem größten Schnösel im Umkreis von mindestens 50 Hektar über einen Feldweg in Richtung Wald. Wir sind von unserem Gruppenleiter aus dem Feriencamp losgeschickt worden, um Feuerholz zu sammeln. Für mich als echtes Dorfkind kein Problem, ich weiß, wo man hier das beste Holz bekommt und wie man sich zu verhalten hat, aber bei Lio ist das anders; Lio heißt eigentlich Lionardio und kommt von einem großen Anwesen nahe der Großstadt mit vielen Angestellten und vor allem mit viel Geld. Er ist nur im Camp, weil sein privater Psychologe der Meinung war, dass Lio zu wenig mit anderen Kindern zu tun hat, warum man ihn dann in ein Camp mit lauter Farmerskindern, statt erst mal in eine normale Schule gesteckt hat, weiß ich nicht.

Dass Lio außer einem Angestellten kaum normale Menschen kennt, merkt man. Er verhält sich seltsam und redet kein Wort. Da ich Stille nicht aushalte, beschließe ich ihn zu meinem Freund zu machen; ich gehe ein paar Meter weiter nach rechts und pflücke ein paar Himbeeren vom Strauch, die ich ihm dann freundlich lächelnd anbiete: "Möchtest du welche? Die sind total lecker." Lio sieht mich skeptisch an, schiebt seine Brille mit dem Zeigefinger auf seinem Nasenrücken nach oben und schüttelt den Kopf. "Glaubst du, die sind giftig?" Ich lege den Kopf schief. "Das sind sie nicht und da ist auch keine Tollwut dran, die sind nämlich mehr als einen halben Meter über dem Boden gewachsen und dann kommen da keine Füchse dran." Lio denkt einen Moment darüber nach und greift dann aber doch zu und nimmt sich zwei der Beeren von meiner Hand. Ich grinse und stecke mir die restlichen Beeren in den Mund. Geht doch.

Aber bevor mein, aus meiner Sicht, neu gewonnener Freund eine der köstlichen Früchte probieren kann, erklingt plötzlich eine monotone, männliche Stimme: "Das ist eine Waldhimbeere, wie man sie in vielen deutschen Wäldern finden kann, eine davon hat etwa 43 Kcal. Wenn du 14 davon isst, darfst du ansonsten heute keine Kalorien mehr zu dir nehmen, ich würde dir also davon abraten, mehr als drei davon zu essen, sonst muss ich deine Frau Mama darüber informieren." Verwirrt sehe ich Lio an, der die Himbeere sinken lässt. "Darf ich vorstellen," er zieht den Saum seines Rollkragenpullovers nach oben, da erscheint ein kleiner Kasten, etwa so groß wie ein Hühnerei, der um seine Hüfte geschnallt ist und von dem einige Kabel ausgehen. "Das ist Scit, Scit ist die dritte Person Singular von dem lateinischen Wort Scire und bedeutet wörtlich übersetzt 'er weiß'. Scit weiß nämlich alles und nimmt mir alle Entscheidungen ab, eine Erfindung meines Onkels, der Bruder meiner Mutter." "Aha,". Ich nicke skeptisch und schiebe eine weitere Hand Beeren in meinen Mund. "Und nur weil der Kasten sagt, dass du keine Beeren essen darfst, machst du das nicht, oder wie?" "So in etwa. Ich kann mich jetzt entscheiden zwischen meinem Proteinriegel heute Abend und diesen Himbeeren, ich wähle den Riegel, da ich davon im Allgemeinen einen größeren Nutzen habe.", erklärt Lio mit einem überlegenen Gesichtsausdruck. Ich schüttele den Kopf. "Stadtkind! Traust dich doch nur nicht...". Wobei, was sollte er sich nicht trauen? Es geht hier um zwei harmlose Himbeeren. "Selbstverständlich traue ich mich, aber unter meiner Haut an meinem linken Handgelenk ist ein Plättchen platziert, dass meine Blutwerte genauestens beobachtet. Sollte etwas nicht stimmen, werden umgehend sowohl meine Eltern und ich als auch mein Arzt verständigt, das ganze dient meiner Gesundheit. Wenn ich jetzt von diesen Beeren koste, besteht das Risiko, dass bestimmte Werte in meinem Blut nicht stimmen und somit der Alarm ausgelöst wird, das würde alle nur unnötig aufregen." "Dann schalt den Kasten doch einfach ab." "Erstens, der Kasten hat einen Namen, wie ich bereits erwähnt habe: Scit, und zweitens funktioniert das nur mit einem komplizierten Code, den ich nicht weiß."

Mann, der Junge regt mich auf! Was macht so einer auf dem Land? Er passt genau so wenig hierher wie ein Bauer mit seinen Tieren in die Großstadt. Genervt wende ich mich von Lio ab und gehe weiter in Richtung Wald. Ich glaube, ich will doch nicht mehr, dass er mein Freund ist.

"Chris hat gesagt, wir sollen uns nördlich halten, weil wir dort gutes Brennholz finden können." Mein neuer doch- nicht- Freund kommt neben mir zum Stehen. "Als ob du hier wissen würdest, wo Norden ist?!" Ich sehe ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Ich nicht, aber Scit weiß das, Scit weiß alles!" Ich verdrehe die Augen. "Scit?", fragt Lio eifrig, "Wo ist Norden?" Es kommt keine Reaktion. "Scit?" Nach kurzer Stille ertönt eine Glocke und die Stimme von eben: "Fehlermeldung; Lionardio, du befindest dich in einem Funkloch, bitte begib dich auf dem Weg zurück, auf dem du gekommen bist, ohne mich kommst du nicht zurecht. Ich gebe dir Bescheid, sobald ich einen Netzwerkzugang gefunden habe." "Oh!" Entsetzt geht Lio einige Schritte nach hinten. "Internetzugang wurde gefunden, das hast du super gemacht, vielen Dank. Bitte stelle deine Frage erneut, sodass ich dir helfen kann.", ertönt wieder die Stimme des Kastens. "Ok, lass gut sein, ich gehe das Holz alleine holen. Lauf zurück zu den anderen, am Ende wirst du noch als vermisst gemeldet.", seufze ich. Das wird unserem Gruppenleiter zwar nicht gefallen, dass wir uns getrennt haben, aber so komme ich hier nicht weiter. Ich wende mich wieder von dem seltsamen Jungen ab und laufe in Richtung Wald. "Aber wir dürfen nicht alleine unterwegs sein und außerdem weißt du ohne mich doch gar nicht, wo Norden ist." Jetzt fühlt er sich auch noch wichtig... "Oh, mach dir um mich mal keine Gedanken, ich komme zurecht und wo Norden ist, erkenne ich am Moos, das an den Bäumen wächst. Moos wächst nämlich meistens auf der Nordseite."

* Lio *
Na super, jetzt ist er weg. Wenn ich ihm jetzt aber hinterherrenne, fühlt er sich belästigt, das möchte ich nicht. Besser ich gehe zurück ins Camp, ich wollte ja sowieso nicht mitgehen. "Du solltest ein Glas Wasser trinken, du strengst dich zu sehr an!", ertönt die Stimme meines Freundes Scit. "Das ist im Moment leider nicht möglich", antworte ich. "Dann werde ich wohl deine Frau Mama informieren müssen." "Ist ja schon gut, sobald ich im Wagen bin, werde ich etwas trinken." "Ich gebe dir fünf Minuten." Ich seufze und gehe einen Schritt schneller. In meinem Wohnwagen - den Vater mir extra für diese Woche gekauft hat - trinke ich ein Glas Wasser, zweimal gefiltert und abgekocht, so wie Mama es gesagt hat.

"Wo hast du denn Maze gelassen?" Chris, unser Gruppenleiter, steht hinter mir in der Tür. "Mattias ist alleine weiter gegangen, er wollte mich nicht mehr dabeihaben. Ich habe aber vollstes Vertrauen in ihn, es schien, als kenne er sich hier aus und als wüsste er, was er tun muss." Ich stelle mein Glas neben die Spüle und drehe mich zu Chris. "Wir hatten doch ausgemacht, dass niemand alleine gehen darf, vor allem nicht in den Wald." Er sieht mich vorwurfsvoll an. "Los, geh die anderen aus Zelt 4 holen, ich habe ein ungutes Gefühl, ihr solltet ihn suchen gehen." Chris sieht besorgt in die Richtung des Waldes. Innerlich aufseufzend mache ich mich auf zu den Jungen.

"Maze!" "Maze!" "Maze, wo bist du?" Schreiend laufen die Jungen durch den immer dichter werdenden Wald. Ich habe keine Lust mehr, wir sind schon lange an den Himbeersträuchern vorbei, Scit hat schon vor Minuten meine Eltern informiert, dass ich mich in einem Funkloch befinde, woran ich auch ständig erinnert werde, die Jungen werfen mir ständig seltsame Blicke zu. Mit Daumen und Zeigefinger entferne ich einen von Dornen übersäten Ast aus meinem Weg, wobei es eher ein Trampelpfad als ein Weg ist. Der ganze Boden ist überwuchert von mir unbekannten Pflanzen, die Bäume und Sträucher stehen links und rechts von mir so nah beieinander, dass man dahinter kaum etwas erkennen kann, die Luft ist stickig und der Geruch, der mir durch die Nase zieht, erinnert mich sehr stark an die Gerüche aus den Geruchspads, die zuhause überall verteilt sind, nur weniger chemisch.

"So wird das nix!", reißt Lukas mich auf einmal aus meinen Gedanken. "Stimmt, wenn er hier wäre, hätte er längst geantwortet.", sage ich, erleichtert, die Aktion abbrechen zu können. "Nein, im Gegenteil," unterbricht Lukas mich. "Er ist hier irgendwo, aber so finden wir ihn nicht." "Wir bräuchten einen Suchhund, oder eine Infrarotkamera!" Schlägt der jüngere der Jungen mit leuchtenden Augen vor. "Tja, das haben wir nur leider gerade heute nicht dabei." Lukas verdreht die Augen. "Doch, klar!", platzt es aus mir heraus. Die Jungen sehen mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, als würden sie an meinem Verstand zweifeln. "In meiner Brille ist eine Infrarotkamera eingebaut, die per Bluetooth Livebilder auf mein Handy sendet." "So was gibt's doch gar nicht!“, ruft der Kleine, wobei er die 'Gs' seltsam stark betont, eine Angewohnheit, die mir schon zu Beginn der Woche aufgefallen ist. "Doch, hier!" Ich reiche ihm mein Handy, nehme meine Brille von der Nase und aktiviere die Kamera, sofort erscheint ein blau, grün, rot und gelbes Bild auf dem Bildschirm. Ich setze mir die Brille wieder auf, die Jungen sehen mich verblüfft mit offenen Mündern an. Langsam fange ich an meinen Kopf nach links zu drehen, bis Lukas mich auf einmal aufgeregt stoppt, "Warte mal, da ist was Rotes!" "Das ist ein Reh, du Holzkopf!", lacht der Kleine, ich sollte ihn mal fragen wie er heißt... Ich drehe meinen Kopf weiter, bis Lukas mich wieder stoppt, "Da sitzt er!" Und tatsächlich kann man zwischen den Bäumen eine Person erkennen, deren Statur der von Mattias sehr ähnlich ist. Die Jungs sehen mich an und sofort laufen wir los, geradewegs auf die Gestalt im Gebüsch zu. Wir kämpfen uns durch Dornensträucher und an Bäumen vorbei, ein dorniger Ast reist ein Stück Stoff aus meinem Hosenbein. Ich möchte stehen bleiben und fluchen, aber ich habe eine Mission, ich muss Maze finden und ihm helfen, gemeinsam mit den beiden anderen. So etwas habe ich noch nie gemacht, überhaupt habe ich nie etwas mit Freunden gemacht, ich besitze gar keine.

Endlich gelangen wir auf einen kleinen Trampelpfad, über den Maze gekommen sein muss. Er sitzt auf der anderen Seite des Pfades auf einem großen Stein, neben ihm liegt ein Stapel Äste, beide Knie und sein linker Ellenbogen sind aufgekratzt, durch die dünnen Kratzspuren drücken sich dünne Bluttröpfchen. Als er uns kommen sieht, ändert sich sein schmerzverzerrter Gesichtsausdruck zu einem erleichterten. "Maze!", ruft Lukas, der neben mir zum Stehen kommt. "Was is' passiert?" "Ich bin umgeknickt, als ich zurück ins Camp wollte." Er sieht uns mit schmerzverzogenem Gesicht an. "Kannst du auftreten?", frage ich besorgt. Maze schüttelt den Kopf. "Dann müssen wir dich eben stützen!" Der Kleine, dessen Namen ich immer noch nicht kenne, scheint das Ganze als ein großes Abenteuer zu betrachten, er ist die ganze Zeit schon total aufgeregt. "Du halbe Portion kannst doch niemanden stützen, lauf den Pfad hier zurück ins Lager und hol jemanden, der uns helfen kann!", befiehlt Lukas und deutet in die Richtung, in die wir wohl jetzt müssen. Ich habe die Orientierung komplett verloren, normaler Weise würde ich jetzt Scit um Hilfe fragen, um hier wieder raus zu kommen, aber mein Freund erinnert mich alle paar Minuten daran, dass ich mich in einem Funkloch befinde und meine Eltern bereits darüber informiert wurden. "Ok, du rechts, ich links und dann gehen wir langsam wieder zurück, oder hast du Angst, dich dreckig zu machen?" Lukas sieht mich herausfordernd an. Ich schüttele den Kopf. "Das ist schon in Ordnung, ich helfe gerne." Gemeinsam helfen wir Maze aufzustehen und er legt jedem von uns einen Arm um die Schultern. Die Finger meiner rechten Hand schließe ich um sein Handgelenk und mit der linken stütze ich seinen Rücken. Langsam gehen wir los, Schritt für Schritt, einen Humpelschritt nach dem anderen. Alle paar Minuten müssen wir anhalten, weil Mazes Fuß scheinbar sehr weh tut und seine Kratzer brennen. Ich kenne solche Schmerzen nicht, mir war es nie erlaubt zu laufen, weder draußen, im hauseigenen Park, noch im Haus selbst und woanders bin ich in meinem Leben fast nie gewesen. Aber egal wo, es wurde immer darauf geachtet, dass ich nichts spiele, wobei ich mich möglicherweise verletzen könnte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichen wir endlich wieder die Himbeersträucher und ich atme erleichtert aus, ab hier kenne ich mich auch wieder ein wenig aus. Aber kaum haben wir das Funkloch verlassen, meldet sich Scit wieder, diesmal aber nicht, um mir mitzuteilen, dass ich mich abseits der Zivilisation befinde. "Hallo Lionardio, du hast eine neue Nachricht von Mama erhalten: Hallo Lionardio, hiermit möchte ich dir mitteilen, dass wir, da dein Freund Scit uns darüber informiert hat, dass du dich zu weit abseits aufhältst und zudem auch noch zu wenig Flüssigkeit zu dir nimmst, bereits im Camp auf dich warten. Aufgrund dessen bitten wir dich, dich umgehend wieder im Camp einzufinden. Mit freundlichsten Grüßen, deine Eltern." Ich seufze, Scit ist eigentlich ja mein bester Freund, aber er kann auch so eine große Petze sein...

Es gibt Situationen, in denen ich mir wünsche, nicht so sehr mit modernster und neuster Technik ausgestattet zu sein, auch wenn sie oft sehr vorteilhaft ist. Heute habe ich aber gelernt, dass es auch durchaus möglich ist, sich auf ungeschütztem Gelände ohne jegliche Hilfsmittel, nur mit dem eigenen Verstand und Wissen zu bewegen, außerdem weiß ich jetzt, was es heißt, mit Gleichaltrigen zusammen zu sein, sich zu helfen und gemeinsam Abenteuer zu erleben.

Es ist ein sehr schönes Gefühl.

Autorin / Autor: Paula Nick