K-T-20, geboren um zu sterben

Von Shanti M. C. Lunau, 25 Jahre

Ich habe mich immer gefragt, was mein Leben für einen Sinn hat. Denn ich bin überzeugt davon, dass jeder Mensch aus irgendeinem Grund auf dieser Erde weilt. Egal, welche Umstände dazu geführt haben und egal, wie sein Körper geschaffen ist. Er hat einen Grund, genau so zu sein. Und wenn es nur dafür ist, einem traurigen Menschen ein Lächeln zu schenken. Aber welchen Sinn habe ich? Ich bin doch bloß eine durchschnittliche 18-jährige in ihrem letzten Schuljahr auf dem College. Oder?

Es ist die Stimme meines Vaters Gil, die mich an diesem Morgen aus dem Schlaf reißt. Grummelnd ziehe ich mir die Decke über den Kopf, doch sein Klopfen hört nicht auf. Aus Erfahrung weiß ich, er wird nicht eher von meiner Tür verschwinden, bis ich aufgestanden bin. Also wühle ich mich aus dem Bett, schlüpfe in meine Schuluniform und binde mir die Krawatte, während ich aus dem Zimmer trete. Gerade wollte Gil wieder zu einem Klopfen ansetzen, denn seine Faust landet auf meiner Stirn.
»Aua!«, maule ich und ernte ein Grinsen. »Du hast 5 Minuten, Kati. Lunchbox steht unten.«
»Jaja«, nuschele ich und hüpfe die Treppe nach unten, schlüpfe in meine Schuhe, schnappe mir Schlüssel, Tasche und eile hinaus. Im letzten Moment denke ich an die Lunchbox und packe sie ein. Im Bus wartet bereits Lilith auf mich. Mit ihrer Schultasche hat sie erfolgreich einen Platz für mich verteidigt. Dort angekommen reibe ich mir den restlichen Schlafsand aus den Augen.
»Bereit für die Party heute Abend?«, fragt sie und grinst mich an. Ihre braunen Augen funkeln aus ihrem dunklen Gesicht heraus. »Das wird unsere Nacht, das kann ich spüren. Heute ist es soweit.« Ich verdrehe lachend die Augen. Ich glaube, es ist vor jeder Party das Gleiche. Aber ich muss ihr Recht geben. Heute ist irgendetwas anders. In meinem Bauch kribbelt es vor freudiger Erwartung. In der Schule angekommen hüpft Lilith sogleich von ihrem Sitz und eilt durch den Bus nach vorne. Sie kann es wie immer kaum erwarten, zu ihrem Mathekurs zu kommen, obwohl sie darin eine Niete ist. Ich weiß das, denn ich mache ihre Hausaufgaben. Aber ich weiß auch, warum sie es so eilig hat: Pascal.

Nach der Schule gehe ich zum Parkplatz, denn es ist Freitag. Gemeinsam mit meinem besten Freund wird allwöchentlich das Wochenende eingeläutet, indem er mich nach seiner Arbeit von der Schule abholt und wir gemeinsam zu einem Diner fahren und uns die Bäuche vollhauen. Als ich am Parkplatz ankomme, ist er bereits da. Die Hände lässig in den Jeanstaschen, das karierte Hemd offen über einem weißen Oberteil und den Schlapphut tief ins Gesicht gezogen steht er da und kaut auf einem Grashalm. Er hat mich noch nicht bemerkt, also nehme ich mir die Zeit, ihn eine Weile zu betrachten. Die Arbeit hat seine Muskeln definiert, an seinem Kinn sprießt ein Dreitagebart. In meinem Bauch beginnt es zu hüpfen und ich versuche mich daran zu erinnern, wann das angefangen hat. Wann ich anfing, in ihm mehr zu sehen, als meinen besten Freund. Ich würde es ihm gerne sagen, aber ich tue es nicht. Weil ich Angst habe, ihn zu verlieren, wenn er nicht das Gleiche denkt. Und das könnte ich nicht ertragen. Dann lieber so, wie es jetzt ist. Solange ich in seiner Nähe sein kann, bin ich glücklich. Ich trete aus meinem Versteck und gehe auf den Parkplatz. Tobi sieht mich sofort. »Hey Sherif!«, nenne ich ihn bei dem Spitznamen, den er von mir bekommen hat, seit er das erste Mal mit seinem Hut auftauchte.
»Hey Kat.« Seine waldgrünen Augen kommen funkelnd aus dem Hutschatten hervor und bohren sich direkt in meine. »Bereit für eine neue Mission?«
»Klar, worum geht‘s diesmal?«, frage ich und hüpfe zur Beifahrerseite.
»Mir ist ein Gerücht zu Ohren gekommen, dass die Sandwiches im Peezos in ihrer Genialität gestiegen sind. Dies erscheint mir recht fragwürdig und muss dringend überprüft werden.«
»Na dann, lass uns keine Zeit verlieren.« Während er das Auto auf die Straße lenkt, ahmt er mit seiner Stimme eine Polizeisirene nach. So ein Kindskopf, denke ich kichernd und fühle mich leicht.

Am Abend holt Tobi mich von Zuhause ab. Wie immer ist er pünktlich vor der Tür. Ich verabschiede mich schnell von Gil und hüpfe dann zu ihm ins Auto. Mein ganzer Körper kribbelt. Heute wird sich etwas verändern, ich kann es tief in mir spüren. Ob es Tobi auch so geht? Während der Fahrt jedenfalls ist er wie immer und entlockt mir mit seinen Worten ein Lachen nach dem anderen. Wenn mich jemand fragen würde, was ich zum Leben brauche, wäre meine Antwort kurz. Tobi.
Die Party ist bereits in vollem Gange, die Tanzfläche gerammelt voll. Ich suche nach Lilith und sehe sie auf der Tanzfläche, die Arme um Pascals Nacken geschlungen. Sie hat es also geschafft, denke ich. Als ihr Blick mich streift, grinst sie mich an und zeigt mir mit einer Hand einen Daumen nach oben. Ich wende mich ab und nehme das Getränk entgegen, welches Tobi mir besorgt hat.
»Tanzen?«, fragt er kurz darauf und ich nicke. Es ist wie immer ein riesiger Spaß. Tobi schafft es immer, mich aus der Reserve zu locken, und gemeinsam machen wir die wildesten Verrenkungen und Formen. Ich habe sicherlich Muskelkater morgen früh, so viel wie ich heute bereits gelacht habe. Als die Musik langsamer wird, ist er mir plötzlich ganz nah. Seine Nasenspitze ist nur wenige Millimeter von meiner entfernt. Ich kann die goldenen Flecken in seinen dunklen Augen sehen. Mein Blick wandert zu seinen vollen Lippen, die ein wenig geöffnet sind und schon beginnt mein Mund trocken zu werden und mein Puls beschleunigt sich. Sein Atem streift meine Wange und prickelt auf meiner Haut.
»Lass uns raus gehen«, haucht er mir ins Ohr und streicht mir eine Strähne hinters Ohr. Ich nicke, lasse ihm einen kleinen Vorsprung und husche noch kurz aufs Klo. Im Spiegel sehe ich, dass meine Wangen rot sind, mein Haar klebt feucht an meiner Stirn, aber meine Augen leuchten.
Ich bahne mich die letzten Meter nach draußen durch, kalte Luft schlägt mir entgegen. Den Pfützen nach, hat es zwischendurch geregnet. Der Duft von Regen liegt noch in der Luft. Suchend schaue ich nach Tobi, kann ihn aber im ersten Moment nicht entdecken. Dafür sehe ich jemanden in einer Gasse auf dem Boden liegen. »Alles in Ordnung, kann ich ...?« Weiter komme ich nicht, denn als ich nah genug dran bin, bleiben mir die Worte im Hals stecken. Sofort wird mir eiskalt. Diesen Hut würde ich überall erkennen.
»Tobi!« Ich renne zu ihm und lasse mich auf die Knie fallen. Er liegt mir dem Gesicht nach unten leblos auf dem Boden, doch ich registriere die schwache Atmung, mit der sich sein Brustkorb hebt und senkt. Sein Oberteil ist nass und dunkel verfärbt.
»Tobi? Hörst du mich? Wach auf!« Ich nehme sein Gesicht in meine Hände, drehe ihn auf den Rücken und sehe das Loch in seiner Brust. Der metallische Geruch von Blut dringt in meine Nase. Jemand muss mir gefolgt sein und den Krankenwagen gerufen haben, denn kurz darauf ertönt ein Martinshorn und kommt immer näher.
»Tobi, komm schon!« Seine Lider flattern und öffnen sich ein Stück.
»Kat?«, flüstert er. Als er hustet, schwappt Blut aus seinem Mund.
»Ich bin hier, hörst du? Alles wird gut. Wach bleiben!«, antworte ich. In meiner Brust zieht sich alles zusammen. Er ist total unterkühlt und noch immer kommt Blut aus seiner Brust. Er muss auf alle Fälle wach bleiben. Wenn ich nicht die stockende Bewegung seines Brustkorbes spüren würde, ich würde denken, er sei bereits tot.
»Dort hinten«, höre ich eine Stimme, dann treffen mich Lichtkegel von Taschenlampen. Ich tausche den Platz mit einer Sanitäterin, schaue zitternd zu, wie sie das Unmögliche versuchen. Ihre Rücken versperren mir die Sicht auf meinen besten Freund.

Im Krankenhaus haben sie Tobi gleich in den OP verfrachtet. Ich warte auf einer Bank davor. Ihn jetzt alleine zu lassen, kommt nicht in Frage.
Ein Blick auf die Uhr im Gang zeigt mir, dass ich vor einer halben Stunde hätte zu Hause sein sollen. Ich hole mein Handy hervor und rufe Gil an. Er geht nach dem zweiten Klingeln dran.
»Wo zum Teufel bist du? Wir haben gesagt zwölf Uhr.«
»Ich bin im Krankenhaus«, antworte ich. »Es ist Tobi.« Meine Worte sind mehr ein Schluchzen, aber Gil hat alles verstanden.
»Ich bin in fünfzehn Minuten da«, sagt er und legt auf. Als er endlich da ist, vergrabe ich meinen Kopf in seinem T-Shirt und presse mich weinend an ihn. Wenig später erscheint ein Arzt und klärt uns auf. Tobi hat viel Blut verloren, aber dank seiner Blutgruppe war eine Transfusion kein Problem. Doch sein linker Lungenflügel ist zerstört und das Herz wurde gestreift. Wenn in 24 Stunden keine passenden Organspenden gefunden werden, können sie ihm nicht mehr helfen. Mir wird schwindelig, meine Knie knicken ein und ich sinke zu Boden. Ich spüre, wie mich Gils Hände auffangen, dann wird es dunkel um mich herum.

Ich wache in meinem Zimmer auf, die Sonne scheint durch die halb zugezogenen Vorhänge. Im Haus ist es ruhig, von Gil ist nichts zu sehen. Vorsichtig klopfe ich an seine Bürotür, doch als keine Reaktion kommt, öffne ich sie langsam. Sein Schreibtisch ist leer, Gil ist nicht da. Dafür fällt mir eine Akte auf seinem Schreibtisch ins Auge. Obwohl sie ein ganzes Stück weg liegt, kann ich genau sehen, was auf ihr steht. K-T-20. Es ist diese Bezeichnung, die irgendetwas in mir in Gang setzt. Ich schlage sie auf und fühle mich, als würde ich in ein Loch gesaugt. In der Akte sind Bilder von mir. Als Kind. In einem Flüssigkeitsbehälter. Hektisch blättere ich durch die vielen Seiten, nehme jede Information in mich auf, während mir innerlich immer kälter wird. Meine Hand wandert zu meinem Nacken, dort wo ich zwei kleine Narben habe. Aber laut diesen Aufzeichnungen ... Eine Stimme hinter mir lässt mich herumfahren.
»Kati, was machst du da?« Ich hebe die Akte hoch.
»Was ist das. Warum sind da solche Bilder von mir drin. Was bedeutet das?« Gils Gesicht wird weiß. »Du hast sie gelesen?« Ich starre ihn an.
»Gil? Ist das wahr, was hier drinsteht?« Sein Schweigen ist mir Antwort genug.
»Ich verstehe das nicht, wie kann ... All das hier?« Ich starre mich an, betrachte meine Arme, meine Hände und Finger. »Wie kann das alles nicht echt sein?«

Gemeinsam mit Gil sitze ich am Küchentisch und höre zu, was er mir zu sagen hat. Sein echter Name ist Professor Benjamin Belér. Er war Forscher für Humanmedizin und hatte sich auf künstliche Organe spezialisiert. Mit seinem Team arbeiteten sie daran, künstlich erzeugte Organe in einem Organismus zu entwickeln. Auf diese Weise wollten sie eine Möglichkeit entwickeln, Organspenden jederzeit und für jedermann zur Verfügung zu stellen. Ich war ihr Versuchsobjekt. Ich bin zu 100% aus künstlich hergestellten menschlichen Geweben zusammengesetzt. Inklusive meines Gehirns, in welchem sich ein Computer versteckt, der es am Laufen hält. Das würde zwar meine verstärkte und verbesserte Aufnahmefähigkeit erklären. Es würde erklären, wieso ich jede Matheaufgabe im Kopf lösen kann. Aber nicht meine Gefühle für Tobi. Ich habe das Thema in der Schule gehabt. Computer können so nicht fühlen. Er hält mich also in Betrieb, aber alles Andere ist mehr oder weniger menschlich. Doch meine Erinnerungen können verändert werden, was erklärt, wieso ich mich an die Laborzeit von damals nicht erinnere. Bis Gil mich befreite. Er hat es gelöscht, denn in Gils Augen war ich mehr. Als er erkannte, dass sie einen selbstständig denkenden Menschen erschaffen hatten, befreite er mich und floh. Aus Benjamin Belér wurde mein Vater Gil Whyte, aus mir, K-T-20, wurde seine Tochter Kati. Dank ihm führte ich ein Leben als echter Mensch. Und jeder Tag bestärkte ihn darin, das Richtige getan zu haben. Doch dann, ganz langsam, sickert die Erkenntnis dessen, was ich bin, in meine Gedanken. Ich bin ein menschliches Ersatzteillager. Und auch ich muss das Richtige tun. Ich bin kein Mensch. Ich bin ein Computer. Diesen Unterlagen zufolge besteht mein Gehirn aus Drähten und Silikon, das einzige, was nicht gespendet werden kann. Das einzige, was kein künstlich erzeugtes menschliches Gewebe ist. Ich wurde erschaffen, um Menschen mit kaputten Organen zu helfen, denn anders als sie, kann ich scheinbar nicht daran sterben. Mein Gehirn wird einfach auf Standby gestellt, bis ich wieder komplett bin. Das kann eine Weile dauern, aber ... Mein bester Freund liegt im Sterben. Der Mann, den ich liebe. Und alles was ihn retten kann ist ... Ich stehe auf, schnappe mir die Akte und eile zur Tür.
»Kati, was hast du vor?«, fragt Gil und springt ebenfalls auf.
»Ist dir klar, was das hier bedeutet?«, frage ich und halte die Mappe hoch.
»Tu das nicht«, sagt er. Er weiß es genau.
»Ich muss das tun. Ich bin seine einzige Chance.«
»Wenn du da hingehst und das machst, dann ... Es wird Jahre dauern, bis du wieder ...«
»Gil! Überleg doch mal. Wenn das hier wahr ist, dann könnt ihr mir Organe entnehmen, wann immer ihr wollt. Ja, vielleicht muss ich dafür ein paar Jahre in irgendwelchen Tanks verbringen. Und das ist okay. Ich kann warten, aber Tobi nicht.« Ich schnappe mir meine Jacke und die Autoschlüssel. »Bitte Gil. Ich will nicht Schuld sein, dass er stirbt, wenn ich weiß, das ich ihn eigentlich retten kann. Was sind denn ein paar Jahre, wenn man damit den Menschen rettet, den man liebt?« Er muss den Schmerz in meinen Worten gehört, die Trauer in meinen Augen gesehen haben. Denn schließlich senkt er den Blick und nickt.
»Okay«, sagt er. »Aber ich mache das. Wenn du jetzt gehst, werden sie dich wieder einsperren. Das lasse ich nicht zu.«
Danach geht alles plötzlich sehr schnell. Einige Telefonate und etwa eine Stunde Autofahrt später sehe ich mich plötzlich in einem OP-Kittel wieder. Mein Puls geht schnell, ich sehe den Tank, in den mein lebloser Körper anschließend gelegt wird, bis ich so weit bin, wieder in Betrieb zu gehen. Der Gedanke ist merkwürdig. Bis vor wenigen Stunden war ich ein einfaches Mädchen und plötzlich bin ich nicht mehr als ein Computer. Gil wird mein Gehirn abschalten, wie einen Fernseher, den man nicht mehr braucht. Und es ist okay. Er wird mein Herz und meine Lunge nehmen und sie Tobi geben.
»Bereit?«, fragt Gil und sieht mich unter seinem OP-Kittel an. Ich habe Angst, aber ich weiß, dass es das Richtige ist. Wenn ich die Augen schließe, dann sehe ich Tobis Gesicht vor mir. Die grünen Augen unter seinem Cowboyhut. Das breite Lächeln mit dem kleinen Grübchen in der linken Wange. Also nicke ich. Wenn alles gut geht, dann werde ich irgendwann zurückkommen. Und wenn nicht ... Dann ist wenigstens Tobi in Sicherheit. Mein letzter Gedanke, bevor mein Gehirn in den Standby-Modus wechselt, ist für ihn. Es sind drei Worte und noch nie in meinem Leben habe ich etwas so ernst gemeint. Ich liebe dich.

"Forschungswunder rettet Menschenleben
Am vergangenen Samstag wurde erstmalig in der Geschichte der Menschheit eine Transplantation mit künstlichen Organen der Firma CyberNature ausgeführt. Die Operation eines Lungenflügels und eines Herzens war erfolgreich, der Patient ist wohlauf und gesund.
Weitere Informationen finden sie auf Seite 4."

Autorin / Autor: Shanti M. C. Lunau