I.R.O.N.

Von Lina Pöschko, 14 Jahre

Fünf Monate und ich war noch immer nicht darüber hinweggekommen. Er war die wichtigste Person in meinem Leben, der Einzige, dem ich alles erzählen konnte, der immer für mich da war.
Ich hatte ihn geliebt, mehr als alles andere auf der Welt. Ich konnte nicht mehr aufhören zu weinen, jetzt wo ich einmal angefangen hatte. Seit dem Tod meines Vaters hatte ich immer wieder Panikattacken und keine Therapie hatte bis jetzt geholfen. Meine Noten in der Schule waren drastisch gesunken auch in meinen Lieblingsfächern Mathe, Physik, Astronomie und Informatik, die auch gleichzeitig meine Hobbys waren. Meine Welt war nur noch schwarz-weiß und ich würde alles, wirklich alles dafür geben, wenn ich meinen Vater davon abhalten hätte können, vor fünf Monaten in dieses Auto zu steigen und los zu fahren. Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als ich jemanden meinen Namen rufen hörte.
„Dani!" klang die Stimme meiner Stiefmutter Sylvia herauf. Sie war wie eine echte Mutter für mich. An meine leibliche Mutter konnte ich mich nicht mehr erinnern. Sie starb nur wenige Monate nach meiner Geburt, doch ich hatte ein Bild von meinem Vater und ihr. Sie war hübsch gewesen und von Dad wusste ich, dass sie sich genauso für das All interessiert hatte, wie ich. Später lernte mein Vater Sylvia kennen und heiratete sie. Ich war ihr dankbar dafür, dass sie mich als Tochter annahm aber das einzige wofür sie noch nie Verständnis gehabt hatte, war Dads und meine Liebe zur Technologie.
Obwohl ich sie gehört hatte, blieb ich nur am Boden sitzen und starrte das Foto in meinen Händen an, es war das letzte Bild, dass von Vater und mir aufgenommen wurde. Es zeigte uns beide, wie wir in voller Ausrüstung standen, er einen Lötkolben und ich eine Pinzette in der Hand, vor uns der noch nicht fertige "Iron" Handschuh, den wir zusammen bauten. Er war unser größtes Projekt bis jetzt gewesen, wurde aber nie fertig gestellt.
Ich hörte ihre Schritte die Treppen hochkommen. Sylvia öffnete langsam, sie war schön wie immer aber die Ringe unter ihren Augen verrieten, dass sie auch noch immer trauerte. Sie ging auf mich zu, kniete sich vor mich auf den Boden und hielt mir ein Taschentuch hin. Dankbar nahm ich es an und strich mir eine Strähne meiner kurzen, braunen Haare aus dem Gesicht.
„Was gibt's?" fragte ich leise.
„Ich wollte dir nur alles Gute zum Geburtstag wünschen." 
Verwundert sah ich auf und starrte sie an. Wie hatte ich nur meinen eigenen Geburtstag vergessen können? Mein Vater hatte sich immer die größte Mühe gegeben, meinen Geburtstag zu dem schönsten Tag des Jahres zu machen. Auch wenn wir nicht besonders reich waren, dekorierte er das Haus und lud meine Großeltern, meine Tante und meinen besten Freund Tyler ein. Allerdings hatte ich es seit der Beerdigung nicht mehr übers Herz gebracht, ihn zu treffen.
„Danke, aber mir ist nicht nach feiern zumute."
„Trotzdem habe ich ein Geschenk für dich, es ist von deinem Vater."
Ich sah sie verständnislos an. „Wirklich?"
Sie holte eine kleine Schachtel aus ihrer Westentasche und gab sie mir. Es war eine unauffällige, kleine schwarze Schachtel auf der „Für Dani" stand. Langsam, mit zitternden Händen, öffnete ich die Schachtel.
Ich legte den Deckel neben mich und sah, was mein Vater mir hinterlassen hatte. Es war ein USB Stick, an dem man überhaupt nichts Besonderes entdecken konnte. Ich versuchte, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Sylvia legte mir ihre Hand auf die Schulter. „Es geht doch darum was darauf ist, nicht? Ich lasse dich damit allein."
Ich wusste, dass sie Recht hatte.
Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis der Computer endlich bereit war. Als ich den USB Stick angesteckt hatte, erschien ein Brief. Stumm las ich.
Meine liebe Dani,
Ich hoffe, es geht dir gut. Wenn du das liest, werde ich schon tot sein.
 
Ich schnappte nach Luft. Er hatte es gewusst? Aber wie?
Auf diesem USB Stick befindet sich mein komplettes Wissen und mein größtes Projekt, dass ich noch nicht fertigstellen konnte. Es gibt eine Organisation namens Python, sie haben meine Arbeit ausspioniert und wollten meine Daten stehlen. Sie haben mir gedroht, dich zu verletzen, wenn sie meine Pläne nicht bekommen würden. Aber ich wusste, dass ich sie nicht aushändigen durfte. Also musste ich mich entscheiden und ich denke, ich habe das Richtige getan. Ich habe eingewilligt ihnen die Daten zu geben, allerdings habe ich einen Fehler eingebaut, so dass sie ihnen nichts nützen werden. Dies hier schreibe ich, kurz bevor ich ins Auto steige und losfahre, wenn ich nicht zurückkomme, weißt du, dass sie mich erwischt haben. Beende mein Projekt, solange Python noch denkt, die korrekten Pläne zu haben. Ich weiß, du kannst das. Bleib stark und sei vorsichtig! Python wird von der Regierung gedeckt!
In Liebe, Dad.

Tränen kullerten meine Wangen hinunter. Wieso hatte er mir nichts erzählt? Sein größtes Projekt? Ich überflog den Brief nochmal nach irgendwelchen Hinweisen, doch als ich keine finden konnte, schloss ich das Tab. Zu meiner Verwunderung öffnete sich ein zweites, ein schwarzer Bildschirm auf dem stand: „Zugriff auf Dr. Stephan Williams Daten und Projekte, Code bitte hier eingeben." Darunter waren 6 leere Felder. Ich dachte nach, es musste einen Hinweis oder einen Anhaltspunkt geben, irgendwas. Ich versuchte es mit seinem Geburtsdatum. Der Bildschirm leuchtete rot auf. "Noch drei Versuche." Natürlich nicht. Wenn ich mein Vater wäre, welchen Code würde ich wählen? Ich versuchte es schließlich mit 020603, das Sterbedatum meiner Mutter und betete, dass es stimmte. Der Bildschirm leuchtete grün und ich atmete erleichtert auf.
Ich musste mir einen Überblick auf der Seite verschaffen, alles war verwirrend, aber ich wusste, dass mein Vater ein System hatte. Das hatte er immer. Ich scrollte hinunter, bis zum allerletzten Ordner, er war nicht wie die anderen mit ein paar Buchstaben und einer Zahl benannt, dieser Ordner hieß „Projekt I.R.O.N"
Ich klickte auf die Maustaste, um den Ordner zu öffnen. Es war eine Bedienungsanleitung. Ich kannte sie. Sie war es gewesen, die wir benutzt hatten, um den Iron Handschuh zu bauen.
Hatte ich die ganze Zeit mit an seinem größten Projekt gearbeitet, ohne zu merken, dass es mehr als nur ein Spiel war? Natürlich war er besonders, da man ihn wie ein Gerät anlegen konnte und sich dann die restlichen Teile wie von selbst um die Hand legten sollten. Aber lohnte es sich, dafür zu morden?
Ich sah mir die Einleitung weiter an, sie war lang und kompliziert und ich verstand sie nicht wirklich. Nur den letzten Satz kapierte ich. „Sprich: Iron Stimmungsscanner, um zu aktivieren."
Zum ersten Mal seit seinem Tod, betrat ich das Arbeitszimmer meines Vaters. Langsam öffnete ich die Tür und hörte, das von früher mir so vertraute Knarzen. Die Box mit den Kabeln war noch ausgeräumt und unter einem Tuch stand der Anfang des Handschuhes. Ich hatte ganz vergessen, wie kompliziert gebaut er war und wie viele Stunden wir daran gesessen hatten.
Ohne zu zögern holte ich meinen Laptop und legte mir Schutzkleidung an. Ich war bereit, ich würde meinen Vater stolz machen. Ich würde niemals aufgeben.
Diese Motivation hatte ich nur in den ersten zwei Stunden, denn ich war kaum ein Stück weitergekommen. Ich war mir nie sicher ob ich das Richtige tat. Als ich gerade verzweifelt versuchte ein Kabel an der richtigen Stelle anzubringen, rief Sylvia mich zum Abendessen.
Von dem Projekt erzählte ich ihr nichts und sie fragte auch nicht.
In dieser Nacht wurde mir klar, dass ich das nicht allein schaffen konnte, ich brauchte Hilfe und mir fiel nur eine Person ein, die genügend Wissen und Können hatte. Tyler, mein bester Freund. Ich sprang über meinen Schatten und schrieb ihm eine Nachricht.
Dann legte ich mein Handy beiseite und schlief ein. Nach einem immer wiederkehrenden Alptraum erwachte ich schweißnass und musste erst tief durchatmen.
Ich sah auf mein Handy Display, Tyler hatte mir tatsächlich zurückgeschrieben. Als ich seinen Text las, fiel mir ein Stern vom Herzen. „Wann soll ich da sein?" Seine Antwort war kurz, aber genügte mir, um zu wissen, dass er verstand, was ich durchgemacht hatte.
„Heute, 10 Uhr" schrieb ich zurück.
Um 9:50 klingelte es an unserer Tür und ich raste sofort hin, um Tyler zu öffnen. Er sah aus wie immer, seit den Monaten in denen wir uns gesehen hatten, hatte er sich kein Stück verändert. Es tat gut, ihn zu sehen, ich hatte ihn vermisst, ohne es überhaupt zu bemerken und realisierte es jetzt erst. „Komm rein," sagte ich einfach nur.
„Gut, dass du mir geschrieben hast, ich hatte schon fast gedacht du wärst tot," sagte er und ich wusste nicht, ob er es ernst meinte oder nicht.
„Also?" fragte er als wir in meinem Zimmer angekommen waren und sah mich dabei so aufgeregt an, als wären wir wieder die sieben jährigen Kinder, die zusammen Detektiv spielten. „Ich muss dir etwas zeigen." Ich holte den USB Stick hervor.
Er las. „Wow“, murmelte er.
„Du bist der einzige, den ich kenne, der sich noch besser mit Technik auskennt als ich und auch der einzige, dem ich so sehr vertraue. Hilfst du mir?"
Er tat so als würde er überlegen. „Hmm?" sagte er schließlich und schnippte mir gegen die Stirn. Ich wollte protestieren, zurück schnippen, aber wir hatten besseres zu tun.
Ich führte ihn ins Arbeitszimmer und zeigte ihm den Handschuh, indem ich das Tuch dramatisch langsam herunterzog. Er sah recht beeindruckend aus, wie eine Roboterhand, wenn auch noch nicht vollständig und funktionstüchtig. Tyler erkannte aber, wie schwer der Bau bis jetzt schon gewesen war. „Hast du eine Ahnung wofür er ist?" fragte er mich. Langsam schüttelte ich den Kopf, als wir angefangen hatten, ihn zu bauen, hatte ich gedacht, er sollte nur schön anzusehen sein.
Wir sahen uns zusammen die Anleitung an. Tyler nieste und schüttelte den Kopf. „Ich habe seit ein paar Tagen eine Erkältung," sagte er frustriert. Er holte Nasenspray aus seiner Hosentasche. Nohtyp stand darauf.
„Was ist das für eine Marke?" fragte ich interessiert. „Ich glaube die verkaufen alle möglichen medizinischen Produkte. Wieso fragst du?"
„Nur so."
Wir arbeiteten drei Stunden und da Tyler die meisten Fachausdrücke kannte, kamen wir auch viel schneller voran. Wir kamen auf immer neue Theorien, was der Handschuh bewirken könnte. Gehirnoperationen, Gedankenlesen, Zugriff auf alle Waffen in der Umgebung, ein ultimativer Schutzhandschuh, das alles kam uns in den Sinn, doch nichts schien uns glaubwürdig.
Nach einer Woche waren wir bei der letzten Seite der Anleitung. Der Handschuh sah schon ziemlich cool aus, aber welches Geheimnis verbarg er? „Fast fertig." Tyler riss mich aus meinen Gedanken. Er ging ein paar Schritte zurück und ich tat es ebenso, zur Sicherheit. Nichts passierte. „Müssen wir ihn irgendwie einschalten?" fragte ich. Mein Herz schlug, dass ich es in meinem Hals spürte.
„Keine Ahnung," murmelte Tyler enttäuscht. Ich ging zu meinem Laptop und sah mir die Anleitung noch einmal genau an.
„Natürlich!" sagte ich. „Sprich: Iron Stimmungsscanner, um zu aktivieren."  Ich holte tief Luft und versuchte die Worte so sicher als möglich zu sagen.
Wir warteten zwei, drei Sekunden, doch nichts passierte. Ich sagte es nochmal, diesmal ein bisschen lauter, auch das half nichts. Tyler raufte sich die Haare. „Das gibt's doch nicht.“ Er ging zu dem Handschuh und sah ihn sich noch einmal genau an.
„Wofür ist das hier?" fragte er plötzlich. Ich ging zu ihm, und sah was er meinte. In dem Handschuh war eine Lücke, vielleicht für ein Kabel. „Vielleicht muss man ihn aufladen?" fragte ich unsicher. Langsam schüttelte Tyler den Kopf. „Nein, warte!"
Er nahm den USB Stick und steckte ihn langsam in die Öffnung des Handschuhs. „Ich denke das könnte funktionieren, wenigstens passt er," sagte er leise. „Sag es nochmal."  Ich räusperte mich und sagte erneut: „Iron Stimmungsscanner."
Ich wollte den Handschuh am liebsten gegen die Wand schmettern, doch dann fing der Kreis in der Mitte der Handfläche zu blinken an.
„Stimmidentifizierung läuft." Eine weibliche Stimme, nicht ganz menschlich, aber auch nicht wie ein Android. Ich sah mich um, denn es klang so als käme sie von überall im Raum. Tyler starrte auf den Handschuh, bevor er sich zu mir wandte und flüsterte: „Sag was."  Ich zögerte kurz, dann sagte ich: „Hier spricht Daniela Williams, ich bin die Tochter von Stephen Williams." Kurz blinkte das blaue Licht weiter, dann wurde es grün und die weibliche Stimme sagte: „Stimme erkannt, willkommen Daniela."
„Na los, zieh ihn an!" sagte Tyler und ganz vorsichtig griff ich nach dem Handschuh. Sofort schlang sich ein Band um mein Handgelenk und er war fixiert. Er verschmolz praktisch mit meiner Hand und als ich ihn anhatte, leuchtete ein Kreis in der Handmitte in einem hellen Blau auf.
„Möchten Sie Assistenz Iron aktivieren?" fragte, die den Raum füllende, Stimme.
„Ähm, ja" sagte ich.
Auf einmal fing der blaue Kreis an zu flackern und dann strahlte ein Lichtstrahl, eine Projektion heraus. Ich hielt meinen Arm ausgestreckt und sah gebannt zu, wie sich viele blaue Pixel zu einem Kopf zusammensetzten. Nach etwa einer Minute schwebte ein durchscheinender, hellblauer Kopf vor mir in der Luft, projiziert von dem blauen Kreis meines Handschuhs.
„Das ist," stotterte Tyler neben mir. „Wahnsinn," beendete ich seinen Satz. Wir hatten Iron erschaffen, eine künstliche Intelligenz. „Guten Tag, Miss Williams." sagte der Kopf mit der bekannten, weiblichen Stimme. „Ich bin ihr persönlicher Assistent Iron." Ich schluckte. Das konnte ich einfach nicht glauben, ich Daniela, hatte eine künstliche Intelligenz erschaffen und sie gehorchte mir. Meine Hand zitterte so sehr, dass das Bild flackerte.
„Ich wurde programmiert, um einen medizinischen Fortschritt zu erreichen. Dank meines Wissens können viele neue Medikamente entstehen."
Es ging also nicht um Waffen? Warum sollte jemand einen medizinischen Fortschritt verhindern wollen? Ich sah Tyler an, er schien genauso verwirrt wie ich. Plötzlich kam mir eine Idee. „Iron, was kannst du mir über Nohtyp erzählen?"
Tyler runzelte die Stirn.
Iron sagte: „Nohtyp ist eine Marke, die medizinische Arzneimittel verkauft. Sie ist das am meisten Gewinn machende medizinische Unternehmen der letzten zwei Jahre."
Plötzlich schien auch Tyler ein Licht aufzugehen und er sagte verblüfft: „Python heißt rückwärts Nohtyp."
„Und damit sie weiterhin ihre Produkte verkaufen können, hat eine Gruppe versucht, die Pläne meines Vaters zu stoppen oder sie für ihre Zwecke zu benutzen," vollendete ich. Tyler fuhr sich durch die Haare. „Verdammt, was machen wir jetzt," murmelte er. „Iron, was weißt du über Python?"
„Python ist eine universelle, üblicherweise interpretierte höhere Programmiersprache. Sie hat den Anspruch, einen gut lesbaren, knappen Programmierstil zu fördern."
Ich stutzte. Tyler unterbrach mich: „Dafür ist keine Zeit. Wir haben jetzt Iron, das heißt, wir müssen aufpassen, wem wir vertrauen und immer auf der Hut bleiben. Wenn es stimmt und sie einen so großen medizinischen Fortschritt bringen kann, darf sie auf keinen Fall die Hände von Phyton geraten." Ich nickte. „Ich wünschte mein Vater wäre hier, er wüsste sicher was zu tun ist." „Hey, wir haben gerade die coolste künstliche Intelligenz der Welt entwickelt. Solange Iron gesperrt ist, kann niemand Zugriff auf ihr medizinisches Wissen erlangen, oder?" Die weibliche Stimme sagte in ihrem freundlichen, monotonen Ton: „Zugriff auf meine Daten, haben nur Dr. Williams und Miss Williams."
„Siehst du, nichts kann passieren." sagte Tyler beruhigend doch genau in dem Moment hörte ich ein Piepen. „Was war das?" fragte ich ängstlich und sah mich um.
Ich schrie vor Entsetzen auf. „D-da." stotterte ich und nun drehte sich auch Tyler in die Richtung, in die ich blickte und wurde schneeweiß. „Scheiße," flüsterte er. Dort vor dem Fenster, flog eine Drohne und ihr rotes Kameralämpchen blinkte.

Autorin / Autor: Lina Pöschko