Hörner

Von Sarah, 19 Jahre

Ich könnte eine Geschichte über einen mutigen Prinzen, der einen Drachen bezwingt und das Herz einer wunderschönen Prinzessin erobert, erzählen, aber solche Geschichten findet er langweilig. Deshalb wird meine Geschichte nicht von tapferen Kriegern, sondern von einem kleinen Jungen handeln, dessen Lieblingsgeschichte die eines Nashorns ist, das sich nichts sehnlicher wünscht, als endlich ein genauso großes Horn wie sein Vater zu haben. Er wartet darauf und versucht alles, um seinem Ziel näher zu kommen, doch erst als er jemandem das Leben rettet, bekommt er sein lang ersehntes großes Horn. Es ist keine spannende, keine romantische, aber eine mutmachende Geschichte und dieser Junge hatte ihren Sinn verstanden. Und nur weil er ihn immer besser verstehen wollte, ließ er sich das Buch Tag für Tag aufs Neue vorlesen. Dieser Junge war wie alle anderen Kinder: abenteuerlustig, froh und voller Energie, mit dem Unterschied, dass er krank war. Er konnte nicht am Tag mit den anderen Kindern draußen spielen, nicht ein Stöckchen vor dem Nachbarshund wegwerfen und „Lauf!“ brüllen. Dieser Umstand machte ihn sehr einsam. Er hatte keine Freunde, keine Spielkameraden, nicht mal ein Haustier. Wenn er doch nur Hörner hätte, dachte er insgeheim.

Es war ein Tag wie jeder andere und trotzdem sollte er das Leben dieses Jungen von Grund auf verändern. Diese Veränderung ging nicht von ihm aus, sondern von seiner Mutter. Sie fuhr von der Arbeit nach Hause: Die selbe Strecke, zur selben Zeit, bis ihr Blick auf ein Werbebanner fiel. Hing das gestern auch schon dort? Hatte sie es einfach übersehen? „Die neueste Innovation im Bereich menschlicher Beziehungen: das Robotier.“ Sie hielt neben dem Schild und sah es sich genauer an. Dort wurde für einen kleinen Roboter geworben, nicht größer als ein mittelgroßer Hund. Wenn man den Programmierern Informationen zuspielte, sollte er in der Lage sein, sich wie ein Haustier zu verhalten, nur ohne Dreck und den Drang nach Draußen zu müssen. Sie brauchte nicht lange zu überlegen, wählte die ausgeschriebene Nummer und bestellte ihr ganz persönliches Robotier. Es wunderte sie, dass zuvor noch keiner auf solch eine Idee gekommen war. In einer Welt, in der beinahe der gesamte Arbeitssektor von Maschinen gesteuert wurde, hatte man sie bisher nie ins Private gelassen. Ferngesteuerte Ärzte und selbstfahrende Autos waren Realität, aber programmierte Familienangehörige? Insgeheim dachte sie sich, dass diese für alle außer sie abschreckend wirken mussten. Für sie, die keine andere Möglichkeit mehr sah, ihrem Sohn einen Freund zu schenken, erschienen sie wie ein Wunder.

Drei Tage später landete das Päckchen dank des daran befestigten Fallschirms sanft im Garten. Sie hatte ihrem Jungen nichts davon erzählt, er sollte sich keine Hoffnungen auf etwas machen, das dann nicht funktionierte. Zuerst wollte sie das Robotier testen und packte es aus. Sofort leuchteten intensive, blaue Augen auf und eine junge Stimme meinte: „Du bist nicht Tommy.“ Daraufhin hüpfte das Robotier vom Tisch und machte sich auf den Weg in das Zimmer ihres Sohnes. Dieser lag auf dem Bett und hörte Musik. Eilig ging sie hinterher und sah gerade noch, wie der Roboter neben ihn sprang. Sie hatte noch nie gesehen, dass ihr Sohn sich jemals so erschreckt hatte. Intuitiv schubste er das Robotier vom Bett, was sich daraufhin lauthals beschwerte: „Hey, das ist aber nicht nett von dir!“ „Wer bist du?“, wisperte Tommy leise. Das Robotier verzog seinen Mund zu so etwas wie einem Lächeln. Sie wusste gar nicht, dass Maschinen überhaupt zu so etwas im Stande waren. „Ich bin dein Freund“, verkündete der Roboter. „Mein Freund? Ich habe keine Freunde“, ungläubig begutachtete Tommy den Eindringling in seinem Zimmer. „Jetzt schon, Tommy“, sagte das Robotier und sprang erneut aufs Bett. Diesmal schubste Tommy ihn nicht weg, rückte aber ein wenig an die Seite. „Woher kennst du meinen Namen?“ „Das ist ein Geheimnis.“ „Erzählen sich Freunde nicht gegenseitig Geheimnisse?“, fragte Tommy und seine Mutter merkte, dass er langsam auftaute. „Stimmt, aber vorher musst du noch wissen, wie ich heiße.“ Als das Robotier nichts weiter sagte, lachte Tommy und sagte: „Und wie heißt du?“ „Ich bin Luck, freut mich dich kennenzulernen“, er gab ihm die Hand und Tommy ergriff sie sofort.
Es war die erste Begegnung und der erste Moment einer langen Reihe von Momenten, in der aus Fremden Freunde wurden. Luck war für Tommy und seine Familie viel mehr als ein Haustier, er war so viel mehr als das. Beim Essen saß er immer neben Tommy, auch wenn er nichts aß, beim Schlafengehen lag er neben ihm im Bett und beide lauschten gespannt der Geschichte mit dem Nashorn und wenn es dann ans Einschlafen ging, summte Luck ihm leise eine beruhigende Melodie ins Ohr, ehe auch er sich in Richtung seiner Ladestation begab. Es war nicht so, dass er die Familie brauchte, um zu überleben, die Familie brauchte ihn. Natürlich gab es auch Tage, in denen das Leben ihnen ein großes Nein entgegenschrie, in denen Luck repariert werden musste. Die Technik hatte immer ihre Fehler und würde diese auch für immer haben. Aber jedes Mal konnte man Luck helfen, wieder auf die Beine zu kommen, genauso wie man Tommy jedes Mal helfen konnte.

So zogen einige der besten Jahre dieses Jungen ins Land. Tommy liebte Luck und Luck liebte Tommy. Sie waren unzertrennbar, eine Einheit, die nicht zerstört werden konnte. Das dachten zumindest alle...
Es kam nicht unerwartet. Luck hatte immer häufiger Aussetzer, doch jeder aus der Familie ignorierte sie. Sie wollten das Unvermeidliche nicht wahrhaben. Es war ein kühler Spätsommertag, für die meisten Menschen ein Tag wie jeder andere, doch für diesen Jungen brach an diesem Tag eine Welt zusammen. Luck schloss seine intensiv blauen Augen und egal wie sehr sich alle bemühten, er war nicht wieder wach zu kriegen. Luck war gestorben. Für alle diejenigen, für die er gelebt hatte. Für Tommy und seine Familie war er gestorben.

Tommy hörte tagelang nicht mehr auf zu weinen, es war der erste Verlust, den der kleine Junge verkraften musste. Er wollte nicht, dass Luck sein Zimmer verließ. Jede Nacht holte er ihn zu sich und stellte sich vor, wie er die gleiche Melodie in sein Ohr flüsterte wie die vielen Abende zuvor, doch er hörte nichts. Luck blieb stumm. Seine Mutter hatte vorgeschlagen, ihm ein neues Robotier zu kaufen, doch er wollte nicht. Er wollte nicht, dass jemand seinen Luck ersetzte, denn Luck konnte keiner ersetzen. Genauso wie man um ein lieb gewonnenes Haustier, das Teil der Familie geworden ist, trauert, so trauerte Tommy um Luck. Luck, der für diesen Jungen so viel mehr war als ein Gemisch aus Metall und Festplatten.
Einen Monat später war Tommy nun endlich so weit, sich gebührend von seinem Freund zu verabschieden. Er wollte ihn im Garten beerdigen, dort, wo Luck immer auf ihn aufpassen konnte und wo auch er immer ein Auge auf ihn haben würde. Sie buddelten ein Loch und legten den leblosen Luck hinein. Tommy liefen erneut heiße Tränen über das Gesicht, obwohl er sich das Weinen seit ein paar Wochen offiziell abgewöhnt hatte. Jetzt konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten. Jetzt war Lucks Tod endgültig. Mit zitternden Händen warf Tommy das Wertvollste, das ihm geblieben war, zu Luck hinunter – die Geschichte des Nashorns. Er konnte sie ohnehin auswendig und Luck sollte sie und somit ihn nicht vergessen. Der Blick seiner Mutter glitt von einem bewunderten, über einen schockierten, bis hin zu einem stolzen, als sie meinte: „Jetzt hast du dein Horn bekommen, Tommy.“ Der aber weinte nur noch mehr und deutete hinunter auf Luck. „Was ist mit Luck? Er hat sein Horn noch nicht bekommen.“ „Glaubst du das wirklich? Denkst du nicht, dass er sein Horn nicht schon bekommen hat, als er das erste Mal in dein Zimmer gestürmt ist?“ Er überlegte einen Moment. In dem Augenblick, in dem seine Tränen versiegten, nickte er lächelnd. „Ihr beide habt euer Horn bekommen. Zwei Hörner.“

Autorin / Autor: Sarah