Haferbrei und Kräutertee

Von Martine Betz, 22 Jahre

„Guten Morgen, meine Liebe. Hast du gut geschlafen?“, goldenes Sonnenlicht strömte durch zurückgezogene Vorhänge.
„So gut wie es geht, nicht wahr…“, obwohl die Wärme unter der schweren Bettdecke meine schmerzenden Gelenke umschmeichelte, so war das zusätzliche Gewicht zu einer Belastung geworden.
„Ich werde dir sofort aufhelfen, lass mich deinen Morgenmantel holen“, mit einem sanften Klicken öffneten sich die Fenster, die frische Luft klärte meinen vernebelten Kopf ein wenig.
Man musste sich erstmal daran gewöhnen, wenn man von einer Müdigkeit geplagt wurde, die jedem Schlaf standhielt, aber zum Glück war ich nicht allein, ansonsten wäre ich wohl schon lange durchgedreht.

„Danke, Mika… Du bist die Beste…“, obwohl ich halb in mein Kopfkissen murmelte, schienen meine Worte anzukommen.
„Du musst mir doch nicht danken. Ich mach das doch gerne“, ihre Stimme strahlte Geborgenheit aus, schaffte, was die schwere Decke nicht tun konnte.
Sie hatte nun den verschlissenen Bademantel geholt, den sie so liebevoll einen Morgenmantel nannte, es war vielleicht nur eine Kleinigkeit, aber diese Bemühungen mein tristes Leben zu einem glamourösen Ereignis zu machen, brachten doch kostbare Freude in meinen Alltag. Mit knirschenden Gelenken schob ich nun doch die Decke von mir. Der Morgen war genauso schwer, wie der Abend. Auch wenn der Nachtschlaf unruhig war, so war er doch ruhig genug, dass es sich anfühlte als wären ihre Gelenke eingerostet, als müsste ich brüchige Metallspäne abschleifen, um mich aus meinem Bett zu erheben. An den Abenden war es nicht der Rost, sondern es war die abgeschliffene Substanz meiner Glieder, die mich umtrieben. Und dennoch. Es war wohl unangebrachter Stolz, der in mir den Zwang weckte, mich doch jeden Morgen allein, ohne helfende Hand, auf die Füße zu arbeiten. Zumindest so lange ich es noch konnte.
„Was würde ich nur ohne dich machen… Hilf mir auf die Sprünge, was steht heute an?“, kein Kommentar fiel zu meinen zittrigen Bewegungen oder dem wackeligen Stand, als ich meine Arme mit größter Vorsicht in die Ärmel des Mantels gleiten ließ.

„Natürlich gibt es zunächst ein reichhaltiges Frühstück, ich habe extra frische Früchte liefern lassen, die Vitamine werden dir guttun! Du musst noch deinen PM anrufen, eure Telko ist für halb zehn geplant, wie jeden Dienstag, es kommt zwar auf das Ergebnis des Gesprächs an, aber du hast in deinem Kalender notiert, dass du heute mit deinem Teil des Codes fertig werden möchtest, aber in der Nacht ist eine Message eingegangen, dass sich das gesamte Projekt verzögert, also denke ich, dass du keinen größeren Stress machen musst…“, wie ein melodischer Singsang prasselten die Worte auf mich ein, obwohl sie mir einen Arbeitstag präsentierten, war ich dennoch froh von meiner Routine eingelullt zu werden.
„Danke, Mika. Bist du schon fertig mit dem Frühstück, ansonsten gehe ich erst noch in Bad und mach mich frisch…“, ich versuchte krampfhaft den Schlaf aus meinen Augen zu reiben, aber an diesem Punkt konnte wohl nur noch kaltes Wasser Abhilfe schaffen.

„Keine Sorge, du hast noch genug Zeit für die Morgentoilette, in 25 Minuten wird das Essen fertig sein“, wie Musik in meinen Ohren.
Mein Körper fühlte sich immer noch bleiern an, wortlos schleppte ich mich ins Badezimmer. Heute war zumindest kein Tag, an dem ich bei der Körperpflege Hilfe brauchte. Ich hatte mich zumindest langsam daran gewöhnt und konnte Mikas Hilfe wirklich wertschätzen, dieses Vertrauen und die Gewissheit, dass es das normalste in der Welt war genau die Hilfe zu kriegen, die ich auch brauchte.
Die Zeit würde nicht für duschen oder baden schicken, aber das war nicht schlimm, ein wenig auffrischen reichte aus, um in den Tag zu starten. Zeit und Energie waren beides kostbare Güter, die ich nicht genug wertschätzen konnte. Kaltes Wasser im Gesicht und ein wenig Bewegung, um die Gelenke in Schwung zu bringen halfen mir wirklich in den Tag zu starten, ich fühlte mich immer mehr wie ich selbst. Kurz kam mir der Gedanke in meinem Schlafanzug zu bleiben, um zu frühstücken, aber ich kannte mich, neben dem Essen würde ich mich in einem Gespräch mit Mika verlieren und ehe ich es mich versah stand meine Telko vor der Tür und ich müsste sofort mit der Arbeit loslegen. Alles ein Zeichen dafür, dass ich es einfach hinter mich bringen sollte und mir meine Klamotten für den Tag anziehen sollte.

Gerade als mir in den Sinn kam, dass ich mir gar nichts mitgenommen hatte, dass ich auf dem Hocker, der seinen festen Platz vorm Waschbecken hatte, eine violette Leggings und ein schwarzes Sweatshirt liegen. Ein schiefes Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Was würde ich nur ohne meine Mika tun, ich musste ihr wirklich mehr zurück geben für alles war sie tat. Nicht nur hatte sie mir Kleidung hingelegt, sie hatte darauf geachtet, dass es weiche, lose Kleidung war, warm und schonend für meine empfindlichen Gelenke. Genau das was ich brauchte, wenn ich bloß an die Stunden dachte, die ich am heutigen Tag hinter meinem Schreibtisch verbringen würde.

„Uhrzeit“, der Hauscomputer machte mich darauf aufmerksam, dass ich noch genug Zeit hatte kurz über meine Zähne zu schrubben, bevor ich mich in die Küche machen müsste. So schnell wie meine steifen Finger es zuließen, putze ich meine Zähne, mein Haarband wanderte in die Tasche meines Sweatshirts, damit Mika mir gleich die Haare zusammen machen konnte.
Schon auf dem Weg in die Küche stieg mir ein leckerer fruchtiger Geruch in die Nase, auch wenn mein Magen sich noch nicht ganz mit der Idee von Frühstück angefreundet hatte, konnte ich doch nicht leugnen, dass ich mich wirklich auf das Essen freute. Essen, dass jemand liebevoll für einen zubereitet hatte, war ein ganz besonderer Genuss, den ich mich sehr glücklich schätzte, zu haben. Heutzutage war es die Norm, keine Frage, aber wenn ich daran dachte wie es noch vor wenigen Jahrzehnten war, was Leute so mitmachen mussten, wenn sie sich in meiner Situation fanden, ich wollte es mir gar nicht genauer ausmalen. Zum Glück war die Welt nun anders.

„Soll ich dir eine Tasse Kaffee machen oder hättest du lieber einen Tee, um deinen Magen zu schonen?“, noch bevor ich um Ecke kam, konnte ich das Lächeln in Mikas Stimme hören, sie war einfach so fürsorglich, man konnte gar nicht anders, als eine Wärme in der Brust zu spüren, wenn sie so etwas rücksichtsvolles sagte.
„Lieber Tee, mein Magen ist jetzt schon empfindlich und ich muss auch noch meine Medikamente nehmen…“, ich ließ mich auf meinen Stuhl plumpsen. Eigentlich ein sehr einfacher, wenn auch nicht wirklich gemütlicher Stuhl aus einem Karbonmaterial, aber zusammen mit Mika hatte ich das perfekte Kissenverhältnis hergestellt, damit ich in Ruhe mit so wenig Unbehagen wie möglich essen konnte.

„Wird gemacht, deine Tabletten liegen schon bei deinem Glas“, mit ein paar wenigen Handgriffen war eine dampfende Tasse Kräutertee zubereitet. Auch wenn es ein Kapseltee war, den Mika nur schnell in den Rehydrator geschoben hatte, es fühlte sich doch immer ein wenig so an wie damals, als ich noch meine Großeltern auf dem Land besucht hatte. Ich ignorierte meine Pillen und griff die Tasse, zum einen um meine Finger noch mehr zu wärmen, aber auch, um einen tiefen Atemzug des sachten Dufts der Kräuter zu nehmen. Bilder von wilden Wiesen schossen durch meinen Kopf, eine Hand, die durch die Gräser streift. Es war schwer zu sagen, ob es wirklich eine Erinnerung war oder doch nur ein Bild, dass ich aus einer alten Werbung kannte, aber es erfüllte mich mit Sehnsucht. Keine echte brennende Sehnsucht, mehr der warme Druck in der Brust, wenn man an vergangene Zeiten denkt, sich daran erfreut was man hatte, frei von Reue was das Hier und Jetzt betraf.

„Stimmt etwas mit dem Tee nicht? Ich kann auch einen Früchtetee zubereiten, aber zusammen mit dem Obst, könnte das deinen Magen reizen, auch wenn du neuen Magenschoner bekommen hast, so sollte man doch eher nichts riskieren…“, ich schreckte aus meiner Achterbahnfahrt der Nostalgie hoch.
„Oh nein, alles gut, ich hab mich nur an etwas erinnert…“, ich nahm einen vorsichtigen Schluck vom Tee. Er war zwar noch sehr heiß, aber genau das fühlte sich gerade angenehm an, also nahm ich noch einen kleinen Schluck, bevor ich die Tasse wieder abstellte. Schmeckte nach Kräutern und Zahnpasta.
„Ach so, erinnern…“, das Lächeln auf ihren Lippen kannte ich gut. Es war immer dieser leere Blick, wenn sie nichts sagen konnte, da sie es nicht verstand, weil es so etwas banales wie Erinnerungen, echte oder falsche, in Mikas Welt einfach nicht gab. Manchmal fand ich das sehr beneidenswert.
„Ist egal, was hast du Leckeres aus dem Obst gezaubert? Es riecht schonmal himmlisch und wie ich dich kenne schmeckt es nur noch besser“, der versteinerte Blick wich von ihrem Gesicht, machte Platz für ein echtes Lächeln, als sie nun begann mir einen rötlichen Brei in eine Schüssel zu löffeln.

„Ich habe eine altüberlieferte Frühstücksspeise namens Haferbrei zubereitet. In den Archiven wird es als ein beliebtes sehr nährendes Gericht beschrieben mit einer langen Tradition, ich habe es mit Beerenfrüchten zubereitet, damit es noch zusätzliche Vitamine hat, deine letzte Blutuntersuchung hat gezeigt, dass du mehr Vitamine brauchst und ich weiß, dass du nicht noch mehr Tabletten nehmen möchtest“, immer gab es eine solch fürsorgliche Erklärung für die Dinge, die Mika für mich tat, es war wirklich süß. Die gefüllte Schüssel wurde vor mir abgestellt und ich musste ein wenig schmunzeln, das war schon eine der lustigsten Beschreibungen von Haferbrei, die ich je gehört hatte.
„Danke, Mika. Sagst du Bescheid, wenn mein Anruf kommt?“, ich begann nun doch gierig zu essen, der Tee hatte meinen Magen genug beruhigt, dass das Hungergefühl nun überwog.
„Natürlich“, sie begann die Küche aufzuräumen, es hatte gedauert, aber langsam hatte ich mich daran gewöhnt, dass Mika einfach nicht damit umgehen konnte, nichts zu tun. Es widersprach ihrer Natur.

Wir genossen das Schweigen zwischen uns, keine hatte das Bedürfnis es mit unnötigen Worten zu überbrücken, ich konzentrierte mich auf mein Essen, warm, weich, es war genau das was ich brauchte. Ohne große Anstrengung konnte ich mich recht gut sättigen, man lernte die kleinen Dinge im Leben wirklich zu schätzen.
„Dein Anruf ist da, ich räume auf, dann kannst du in deinem Arbeitszimmer telefonieren. Möchtest du deinen Haferbrei mitnehmen?“, Mikas Stimme riss mich aus den Gedanken.
„Danke, aber ne lass mal, du kannst die Reste aufheben, vielleicht esse ich später nochmal“, ich schlurfte in mein an die Küche grenzendes Arbeitszimmer, dankbar für die kurzen Laufwege in meiner Wohnung, durch das Sitzen beschwerten sich meine Gelenke schon wieder über die Bewegung, die ich ihnen abverlangte.
Die altbekannten Wände meines Arbeitszimmers brachten mich schon immer ganz automatisch in die richtige Gemütsverfassung. Nun hieß es konzentriert und produktiv arbeiten. Wo ich mich früher dazu zwingen musste immer mal wieder auf die Uhr zu schauen, um zu verhindern, dass ich mich in die maßlose Erschöpfung arbeitete, da hatte ich nun Mika, die in regelmäßigen Abständen zu mir kam, manchmal brachte sie Kaffee oder ein Glas Wasser, einen kleinen Snack oder erinnerte mich daran, mir kurz die Bein zu vertreten. Insgesamt waren meine Tage dadurch einfach viel angenehmer geworden, das einzige was sie natürlich nicht abändern konnte, waren die permanent trockenen Augen vom stundenlangen Starren auf Computerbildschirme. Da konnte man einfach nichts machen, auch heute schaltete ich die drei Bildschirme auf meinem Tisch ein und fuhr den PC hoch, zum Glück nur eine Sache von Sekunden, da es langsam wohl wirklich drängte den Anruf entgegen zu nehmen. Ein PM ist nicht für Geduld bekannt, verständlich, wenn man bedenkt, dass er viele Telefonate führen musste und meistens war man von Anfang an einige Tage hinterm Zeitplan. Der Fluch solcher Projekte.

Das Icon der Telefonapp blinkte schon auf, also tippte ich drauf und das Fenster poppte sofort auf, der mittlere Bildschirm wurde von dem Gesicht meines Vorgesetzten ausgefüllt, hinter ihm der altbekannte Hintergrund eines antiquierten Bücherregals, dass die hintere Wand seines Arbeitszimmers schmückte.
„Guten Morgen, Felicia. Ich habe deine Berichte gekriegt, also sollte das ein kurzes Gespräch werden. Beim Projekt läuft ja alles nach Plan, sehr gut. Die CARE-Einheit scheint eine große Hilfe für dich zu sein“, seine Hände machten wie immer schnelle und hektische Bewegungen, um die Worte zu vermitteln, man musste sich wirklich daran gewöhnen seine Zeitensprache entziffern zu können, aber zumindest hatte er sie nicht verlernt wie viele andere, die sie nach ihrer Schulzeit nicht mehr anwendeten.
„Ja momentan läuft alles ziemlich gut, ich muss mich noch ein wenig erholen, du weißt ja wie es eh ist, aber der Chip, um mit Mika kommunizieren zu können hilft enorm, auch wenn der Eingriff mich ziemlich umgehauen hat“, wie aus einem Reflex wanderten meine Hände zu der kaum ertastbaren Narbe hinter meinem Ohr.
Ich hatte mich so lange dagegen gewehrt, es war vielleicht das natürliche Misstrauen, dass einem Informatiker in die Wiege gelegt wird, wenn es um Technologie geht, oder vielleicht wollte ich mir auch nicht eingestehen wie sehr mir solche Unterstützung in meinem Alltag helfen würde. Es war ein unschönes Bild, dass ich immer im Kopf hatte bevor Mika in mein Leben getreten war. Eine eiskalte metallene Maschine, ständig um einen herum, eine Kamera, die einen verfolgt und mit harten „Händen“ an einem rumzerrte, kein Mitgefühl, kein Verständnis. Ein Erfolgsrezept, um in seinen eigenen vier Wänden zu vereinsamen.

„Stimmt natürlich, ich hab es ja auch bei meinem Bruder gesehen, es braucht ein wenig Eingewöhnung, aber dann will man sie gar nicht mehr missen. Wir alle fühlen uns auch besser jetzt wo wir wissen, dass immer jemand da ist, falls mal etwas bei dir sein sollte“, man konnte Aufrichtigkeit ein seinen Gesten erkennen. Er hatte lange auf mich eingeredet, wollte mich überzeugen, dass er es mit eigenen Augen gesehen hatte wie sehr CARE-Einheiten den Leuten halfen, dass sie keine kalten gefühllosen Maschinen waren, sondern genau wie ein Mensch bis auf das Blut.
„Klopf, klopf. Du hast dir kein Wasser mitgenommen, du Dummerchen! Der menschliche Organismus reagiert sehr empfindlich auf Dehydration“, eine fürsorgliche Stimme zu hören, das war es wohl, was mich am meisten gepackt hatte. Es war eigentlich nicht meine Natur, aber sofort waren mir Tränen in die Augen geschossen und als ich direkt Antworten konnte, keine Handbewegungen notwendig, die langsam immer schwieriger wurden mit meinen dauerhaft schmerzenden Händen, spürte ich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte.
„Danke, Mika. Wirklich.“

Autorin / Autor: Martine Betz