Grounding

Von Johanna, 20 Jahre

Irgendetwas ist falsch. Max läuft auf dem Laufband. Wie jeden Tag. Zwei Stunden laufen. Jeden Tag um dieselbe Zeit. Er läuft mit einer Geschwindigkeit von 5,9 Minuten pro Kilometer. Jeden Tag.
Ein Fuß vor den anderen. Links, rechts. Links, rechts. Falls er mal vergisst, welcher Fuß als nächstes kommt, erinnert sein SmartGuide ihn daran.
Normalerweise mag Max Laufen. Zumindest hat sein SmartGuide ihm gesagt, dass er Laufen mag. Eigentlich ist es ihm auch egal. Normalerweise.
Aber heute ist es ihm nicht egal. Max hat einfach keine Lust mehr zu laufen.
Seine Atmung wird immer schneller.
Normalerweise würde sein SmartGuide ihn jetzt anweisen das Tempo zu drosseln.
Aber heute nicht. Heute bleibt die Stimme in seinem Ohr stumm. Max weiß nicht was er machen soll. Einfach von selbst langsamer zu laufen erscheint ihm zu riskant. Er weiß wie wichtig es ist, das Tempo zu halten. Sonst wird man irgendwann überholt.
Es fühlt sich so komisch an. Max atmet immer schneller. Was ist das? Warum atmet er so schnell?
Er will seinen SmartGuide fragen, aber das Ding scheint nicht mehr zu reagieren.
Max spürt wie die Panik überhandnimmt. Das hat er noch nie gefühlt. 

Regungslos begutachtet Sarah die Situation, die sich vor ihren Augen abspielt.
Der junge Mann neben ihr ist zusammengebrochen und jetzt fließen ihm Tränen aus den Augen. Seine Nase wird ganz rot und er macht schniefende Geräusche. Sein Brustkorb hebt und senkt sich schnell, obwohl er sich gar nicht mehr körperlich betätigt.
Sarah versteht nicht. Doch ihre Verwirrung wird glücklicherweise schnell durch Gleichgültigkeit ersetzt. Gleichgültig ist Sarahs Lieblingszustand. Es ist einfach. Und es ist das einzige, woran sie gewöhnt ist.
Er schreit.
Warum schreit der Mann?
Mehr Gleichgültigkeit.
Ihr Laufband schaltet sich wieder ein. Die kurze Unterbrechung hat sie 30 Sekunden ihres Tageskontos gekostet und ihr SmartGuide meldet ihr, dass sie die am besten durch schnelleres Laufen aufholen kann.
Sarah läuft schneller. Sie mag laufen. Es gibt ihr ein gutes Gefühl.
Fast so gut wie Gleichgültigkeit.

Max verlässt das Gebäude. Es hat ihn einige Minuten gekostet, den Ausgang zu finden. Jetzt ist er nicht mehr in seinem täglichen Zeitplan und niemand sagt ihm, wie er das wieder aufholen kann. Kurz flackert eine Frage in seinem Kopf auf, aber er vergisst sie sofort wieder.
Er glaubt den Weg nach Hause zu kennen, deshalb geht er los.
Auf der Anzeige seines SmartGuides, die er um das Handgelenk trägt, will er nachschauen, was das Problem ist, aber die Anzeige ist schwarz. Er tippt ein paarmal drauf, aber sie bleibt dunkel.
Er spürt ein Kribbeln im Bauch und auf einmal bekommt er nicht mehr so gut Luft wie vorher. Er kann noch Atmen, aber es fühlt sich nicht mehr so perfekt an. Max sieht auf. Um ihn herum sind andere Menschen, alle fixiert auf ihren SmartGuide, der ihnen den Weg zeigt.
Wenn sein BodyChip nicht sein ganzes Leben lang die übermäßige Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin blockiert hätte, wüsste Max, dass seine Kurzatmigkeit von Angst herrührt.

Um Punkt 07:00 Uhr schlägt Ulrich die Augen auf und erhebt sich aus dem Bett. Er fühlt sich frisch und ausgeschlafen. Früher hat ihn das Klingeln seines Weckers immer brutal aus dem Schlaf gerissen. Dank BodyChip wacht er jeden Morgen zur gleichen Zeit quasi von selbst auf.
Natürlich nicht wirklich von Selbst. Sein BodyChip blockiert seine Melatoninausschüttung, sodass er sich sofort hellwach fühlt.
Er geht zwei Schritte zu seinem ausklappbaren SmartBath, das sich sofort von selbst aufklappt. Er steckt seinen Kopf in die perfekt auf ihn angepasste Öffnung und zieht ihn nach zwei Minuten mit geputzten Zähnen und gestylten Haaren wieder aus der Öffnung. Sein SmartGuide meldet ihm, dass er von der gebückten Haltung Rückenschmerzen hat. Und Sekunden später spürt Max ein leichtes Ziehen. Aber er macht sich keine Sorgen. Natürlich nicht. Sein BodyChip hat die Schmerzmittel bereits zur betroffenen Stelle gesendet und sofort lässt das Ziehen auch schon wieder nach.
Er verlässt sein Zimmer und sieht seinen Nachbar vor dessen Tür stehen. Er hat noch nie mit ihm gesprochen. Ulrich will die Treppe nach unten nehmen. Aufzüge gibt es zwar, aber sein SmartGuide hat ihn angewiesen die Treppe zu nehmen.
Sein Nachbar steht einfach da. Er scheint nicht in seine Wohnung zu kommen und allgemein wirkt er ziemlich aufgeregt.
Aufregung ist Ulrich völlig fremd, aber bevor er sich über den Zustand des jungen Manns weitere Gedanken machen kann, ist es ihm auch schon wieder egal. Es fixiert sich auf das Display seines SmartGuides und läuft die Treppen runter. Links, rechts. Links, rechts. Nach wenigen Sekunden ist er so fixiert auf die Stufen, dass er seinen Nachbarn wieder völlig vergessen hat.

Max steht vor der Tür zu seinem Zimmer. Die Tatsache, dass er es gefunden hat, macht ihn stolz, auch wenn der dieses Gefühl eigentlich gar nicht kennt. Aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte gibt es für jeden Menschen ein Zimmer von exakten 24,5 Quadratmetern. Das beklemmende Gefühl in seiner Brust hat sofort nachgelassen. Er fühlt sich ein bisschen so wie sonst. Nur stärker. Sein Herz schlägt immer noch schneller, aber diesmal findet er es nicht so schlimm. Dass er seine Tür zum ersten Mal allein gefunden hat, stellt ihn zufrieden. Sehr sogar. Er fühlt sich tatsächlich besser als sonst.
Max gefällt nicht, dass er sich abwechselnd so viel besser und schlechter fühlt als sonst. Er will zurück zu seiner gleichgültigen Zufriedenheit.
Er hält seinen SmartGuide vor die Tür, aber nichts passiert. Normalerweise würde sich die Tür jetzt öffnen. Aber heute scheint kein normaler Tag zu sein. Max bleibt nichts anderes übrig, als das Haus wieder zu verlassen und raus auf die Straße zu gehen, um selbstständig nach einer Lösung für sein Problem zu suchen.
Und wieder schwanken seine Gefühle ins Negative. Lange hält er das nicht mehr aus.

Petra geht die Straße entlang. Noch 130 Meter, dann nach links abbiegen. Sie weiß nicht wo links ist, aber zum Glück zeigt ihr SmartGuide es ihr mit einem roten Pfeil.
Noch 60 Meter. Petra sieht der Meteranzeige zu, wie sie immer weiter runter läuft und bereitet sich mental auf das Abbiegen vor. Links ist die Seite, auf der sie ihren SmartGuide trägt.
Links in 5 Meter. 4. 3. 2. 1.
Petra biegt ab und prompt stößt sie mit einem jungen Mann zusammen. Petra ist noch nie mit jemandem zusammengestoßen. Sie bleibt stehen und sieht auf. Zum ersten Mal seit langem hält sie ihren Blick nicht auf ihren SmartGuide fixiert. Der junge Mann vor ihr wirkt verwirrt. Und er sieht ziemlich süß aus. Er gefällt Petra.
Sofort erhört ihr BodyChip ihren Serotoninspiegel und senkt ihren Dopaminspiegel, um eine Verliebtheit zu vermeiden. Ihre Pheromonfreisetzung ist in Zeiten der Überbevölkerung sowieso konstant blockiert.
Die Chemorezeptoren des SmartGuides registrieren sofort, dass die Pheromone des Mannes nicht blockiert sind. Sofort erhöht er Petras Adrenalinspiegel, damit sie nicht länger hier stehen bleibt.
Sie dreht sich um und fixiert ihren Blick wieder auf das Display des SmartGuides. Als nächstes muss sie nach rechts. Gut, dass es die roten Pfeile gibt.

Max sieht der jungen Frau nach, die gerade in ihn reingelaufen ist. Er wusste ja, dass es Frauen gibt, er hat sich nur nie wirklich dafür interessiert. Aber diese Frau beschleunigt seinen Puls fast genauso sehr wie das Laufband. Er fühlt sich mit einem Mal so wach. So lebendig.
Und sofort stellt er sich vor, wie es wohl wäre, wenn er sich mit dieser Frau unterhalten würde. Nie zuvor hat er sich Gedanken über einen anderen Menschen gemacht. Wenn sie sich nur umdrehen würde. Dann wäre der Tag gerettet.
Aber die Frau dreht sich nicht um. Sie setzt einen Fuß vor den anderen, genauso wie Max es sonst immer tut. Sie haben so viel gemeinsam.
Er wartet auf die Gleichgültigkeit, die normalerweise auf jede ungewohnte Situation folgt. Aber da kommt nichts.
Max lässt sich zu Boden gleiten. 
Niemand beachtet ihn.
Er ist mit der ganzen Situation überfordert. Nichts von allem, was in den letzten Minuten passiert ist, geht an ihm vorbei wie sonst. Alles nimmt Einfluss auf ihn. Über alles was er gesehen hat, alles was er getan hat, muss er nachdenken. Wie ein Schiff mit einem Leck wird er von Allem überschwemmt und runtergezogen. Er ist verzweifelt, weil niemand ihm sagt, was er jetzt machen soll und ohne die unterstützende Stimme in seinem Kopf fühlt er sich unendlich einsam.
Außerdem hat er Kopfschmerzen und Hunger. Sein ganzes Leben hat er nichts davor gefühlt. Und jetzt alles auf einmal.
Wohin jetzt?
Er steht wieder auf und beginnt zu laufen. Links, rechts, links, rechts. Das ist alles was er kann.
Er weiß nicht welchen Weg, deshalb entscheidet er an jeder Ecke spontan wo er hingeht.
Irgendwann erreicht er eine Brücke.
Heute ist alles möglich.
Vielleicht kann er ja fliegen.

Ein Bergungsroboter zieht die Leiche aus dem Fluss.
„Ertrunken vor ca. 2 Stunden, Näheres nach näherer Untersuchung“, schreibt sein Code.
Er will den SmartGuide lesen, aber der scheint außer Funktion zu sein.
„SmartGuide und BodyChip funktionslos. Ursache noch unbekannt.“
Er sendet die Informationen an die Cloud. Nach einem schnellen Abgleich mit den Überwachungskameras der Stadt erhält er sofort einen Befund.

„Ursache war ein einfacher Verschleiß des SmartGuides. Folge für den Träger war eine Überforderung durch Empfindungen. Der Sprung von der Brücke war ein gelungener Suizid, ausgelöst von den neuen Gefühlen. Kollateralschaden. Recyceln.“

Der Roboter druckt den Bescheid und ganz behutsam tackert er ihn auf der Stirn der Leiche.
Die armen schwachen Menschen. Jeden Tag versuchen sie, zu arbeiten wie die Maschinen, aber nie kommen sie an ihr Ziel. Und auf dem Weg zur Optimierung bleibt immer jemand auf der Strecke.
Der Roboter schüttelt den Kopf und freut sich aber, dass er bald Feierabend hat und zurück in die Ladestation kann. 
Wie fragil und irreparabel diese Menschen sind.
Mitleidig nimmt der Bergungsroboter den jungen Mann auf und bringt ihn zum Recylinghof.
Zum Glück ist der SmartGuide noch nicht verloren. Den bekommt man wieder hin.
Über seinen Träger kann man das leider nicht sagen.