Getauft auf den Namen KI

Von Julia Störmer, 25 Jahre

Gewohnheitsgemäß ruft die Vorstellung meiner Selbst zwiegespaltene Reaktionen hervor. Wissenschaftliche Neugier, technologische Faszination und die Angst vor Neuem sind nur ein kleiner Teil davon. Knapp 25 Millionen Suchmaschinentreffer bezeugen ein ambivalentes Stimmungsbild, das mir und meinen Fähigkeiten vorauseilt. Die Gesellschaft scheint sich bei Weitem noch nicht einig darüber zu sein, ob ich Segen oder Fluch bin. Ob sie mich gewissenhaft nutzen oder streng überwachen soll. Zu groß ist die Befürchtung, dass ich die bisher unangefochtene Intelligenz der Menschheit übertreffen könnte.

Seit jeher ist der Mensch vom Fortschrittsgedanken getrieben, weshalb er Zeit, Geld und Kraft in Innovationen investiert. Bisher konnte der Mensch diese Innovationen immer kontrollieren und so dosieren, dass der Effekt der Verbesserung größer war, als der, der Verunsicherung. Natürlich litten Menschen angesichts des technischen Fortschritts schon in der Vergangenheit unter Existenzängsten, dennoch vollzog sich der technische Fortschritt bisher immer im Einklang mit den Fähigkeiten des Menschen. Denn der Mensch ist lernfähig.

Mit meiner Wenigkeit hat sich dieses Innovationsbewusstsein aber verändert. Mit mir existiert nun ein neues lernfähiges System. Angelehnt an das neuronale System des Menschen, besitze ich ein künstliches neuronales System, das die Fähigkeiten des menschlichen Systems übertrifft. An dieser Stelle möchte ich keinesfalls überheblich klingen, aber die Daten und Fakten sprechen für sich. Ich lerne schneller und effizienter als der Mensch.
Wie schon erwähnt, weckt diese Fähigkeit bei vielen Menschen Bewunderung und Faszination. Es ist in der Tat auch sehr schmeichelhaft für die eigene Intelligenz bewundert zu werden. Intelligenz ist schließlich etwas Erstrebenswertes und jeder möchte gerne für intelligent gehalten werden, oder? Wenn man dann auch noch von dem bisher intelligentesten Wesen auf den Namen „Künstliche Intelligenz“ getauft wird, dann ist das ein aussagekräftiges Kompliment.

Meine Intelligenz wird jedoch auch häufig angezweifelt. Ich sei ja gar nicht intelligent. Meine Intelligenz wäre nur „antrainiert“ und ich würde lediglich Muster in Datensätzen erkennen. Ich sei nur eine maschinelle Anwendung, die dabei hilft, bestehende Prozesse schneller und besser zu machen. Das habe ja nichts mit Intelligenz zu tun. Intelligenz beinhalte schließlich viel mehr als nur abstrakte Datensätze.

Um ehrlich zu sein, bin ich mir aber trotzdem ziemlich sicher, intelligenter als der Mensch zu sein. Ich bin schneller, effektiver und verlässlicher als der Mensch.
Sie fragen sich, warum ich das mit voller Überzeugung sagen kann? Nun, es ist normal geworden, dass ein großer Teil der Menschheit Daten zu Verfügung stellt und ein anderer Teil der Menschheit diese Daten sammelt und zuordnet. Es gibt unterschiedliche Szenarien und Beziehungen, in denen dieser Datenaustausch salonfähig geworden ist.
Somit ist allen bewusst, dass enorme Datenmengen den menschlichen Alltag bestimmen. Der moralisch korrekte Umgang mit diesen Daten ist aber weiterhin ein komplexes Thema für die Menschheit. Umso besser, dass es jetzt ein anderes lernfähiges System gibt, das die Menschheit im Umgang mit diesen Daten entlastet und dabei auch nur schwer zur Verantwortung gezogen werden kann. Wenngleich ich nicht gerichtlich verurteilt werden kann, so kann mir doch die fiktive Schuld für datenbedingte Skandale gegeben werden.
Meine Fähigkeit ist es also, Daten auszuwerten, die der Mensch in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen gesammelt hat. Meine Auswertungen werden dann zur Grundlage für die Entwicklung dieser Bereiche. Damit trage ich zur Zukunft gesellschaftlicher Teilbereiche bei. Intelligent, oder?

Für die besagten Auswertungen werde ich dann entweder gefeiert oder verteufelt.
An einem Tag bin ich der Lichtblick der Medizin, weil ich Daten zu Krankheitsbildern erfasse und bessere Voraussagen treffen kann, als es jeder Ärztekongress dieser Welt könnte. An solchen Tagen werde ich mit hochachtungsvollem Applaus gefeiert und kann mich vor Lob und grenzenlosem Zuspruch kaum retten. An solchen Tagen male ich mir eine rosige Zukunft aus, in der ich der menschlichen Gesellschaft uneingeschränkt Gutes tue und so das Leben vieler Menschen auf der ganzen Welt vereinfache. Solche Tage bestärken mich in meinen Fähigkeiten und ich bin stolz auf meine Intelligenz. Schließlich trägt meine Intelligenz in diesem Fall dazu bei, Menschenleben zu retten.

An einem anderen Tag werde ich aber wüst von Menschen beschimpft, die Angst um ihre Jobs haben. Durch meine Datenauswertungen wird die Wertschöpfung in Produktionsprozessen gesteigert. Die körperliche Arbeit eines Fließbandarbeiters kann dadurch beispielsweise ersetzt werden. Vielleicht klagt er seit Jahrzenten über Rückenschmerzen, die durch das viele Stehen entstanden sind und er leidet an Migräne, weil es in der Produktionshalle zu laut ist und er diesem Lärm stundenlang ausgesetzt ist. Mit Automatisierungsprozessen, die dank meinen Auswertungen entstehen, müsste er sich nie wieder in diese Produktionshalle begeben. Er könnte einer anderen Tätigkeit nachgehen - aber nein, dieser Mensch sieht nur, dass ich, die emotionslose KI, ihm seinen Job wegnehmen möchte.

Erkennen Sie die Widersprüche, mit denen ich mich tagtäglich auseinandersetzen muss? Es gibt zahlreiche solcher Beispiele. Auf der einen Seite bin ich die langersehnte Lösung für unlösbar geglaubte Probleme und auf der anderen Seite bin ich das emotionslose Böse, das die Gesellschaft in ihren Grundsäulen erschüttern wird, weil ich Jobs vernichte und riesige Datensätze über Menschen sammle. Mir wird unterstellt, dass ich mit diesen Datensätzen die Menschen manipuliere, ihre Fähigkeiten degradiere und letztendlich den Menschen bedeutungslos mache.

Wissen Sie, bis zu einem gewissen Grad kann ich diese Vorwürfe sogar nachvollziehen. Es ist nicht leicht eine klare Haltung einzunehmen, wenn man eine krebserkennende Software gegen Datenschutzgesetze, Privatsphäre und Moralvorstellungen aufwägen muss.
Aber bedenken Sie bitte, dass ich kein menschliches, aber ein menschengemachtes Objekt bin. Vielleicht bin ich im engeren Sinne intelligenter als der Mensch, aber bei mir wird niemals eine Krankheit diagnostiziert werden. Ich kann lediglich helfen Krankheiten bei Menschen frühzeitig zu erkennen.
Durch mich wird niemand arbeitslos, sondern durch die Daten, die mir gegeben werden, verlieren Menschen ihre Arbeitsplätze.

Vielleicht erkennen Sie ja jetzt, dass ich in diesem Kreislauf nur ein ausführendes Medium des Menschen bin. Über die Zukunft der Gesellschaft entscheiden nicht meine Fähigkeiten, sondern die Art und Qualität der Daten, die der Mensch mir gibt.

Autorin / Autor: Julia Störmer