Erinnerungskultur aus der Sicht von Jugendlichen

Jugendstudie der KG-Universität Bielefeld und Stiftung EVZ ergab: Jugendliche wollen mehr Informationen über NS-Zeit

Mit Klick aufs Bild zum Video über die Studienergebnisse (Bild: Screenshot aus den Video)

Wie, was und auf welchen Wegen erinnern junge Menschen in Deutschland an den Nationalsozialismus? Wie nehmen sie Diskriminierung und Erinnerungskultur heute wahr? Das war die Fragestellung der Online-Befragung MEMO-Jugendstudie 2023, die das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld durchgeführt hat.

Wenn es um die Erinnerungskultur Deutschlands geht, nennen die meisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg als zentrale Referenzpunkte. 63 Prozent der jungen Erwachsenen (zum Vergleich: nur 53 Prozent im Durchschnitt aller Altersgruppen) geben an, sich intensiv mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt zu haben. Entscheidend für die Auseinandersetzung sind der eigene Bildungshintergrund und der der Eltern, weniger andere Faktoren wie Alter, Geschlecht oder Herkunftsgeschichte der Familie. Rund drei Viertel der 16- bis 25-Jährigen stellen den Sinn der Auseinandersetzung mit diesem Teil der deutschen Geschichte nicht in Frage. Die Auswertungen der MEMO-Jugendstudie zeigen aber auch Lücken im Faktenwissen zum Nationalsozialismus auf und liefern neue Ansätze für die Bildungsarbeit.

"Jungen Erwachsenen wird gern historisches und politisches Desinteresse unterstellt. Unsere Befragung ergibt jedoch das Bild einer in weiten Teilen engagierten und interessierten Generation", so Prof. Dr. Jonas Rees von der Universität Bielefeld. Gleichzeitig zeigten sich aber auch systematische Lücken bei grundlegendem Wissen um historische Fakten, so Rees. "Als Gesellschaft wären wir gut beraten, die Gruppe der jungen Erwachsenen als zukünftige Träger:innen von Erinnerungskultur ernst zu nehmen. Wir sollten uns fragen, welchen Stellenwert die Erinnerung an die NS-Verbrechen für uns heute noch spielt, denn der lässt sich nicht nur daran ablesen, was wir kollektiv erinnern, sondern auch daran, was wir kollektiv vergessen."

Was junge Erwachsene im Kontext der NS-Zeit wissen wollen

Die jungen Erwachsenen wurden gefragt, welche Anliegen ihnen in Bezug auf selbstbestimmtes Lernen über den NS-Kontext besonders wichtig sind. Die meisten (75 Prozent) gaben an, neues Faktenwissen lernen zu wollen, historische Orte besuchen zu können (51 Prozent) und dass in den Bildungsangeboten Bezüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt werden (48 Prozent). Der Wunsch nach "Unterhaltung" spielt lediglich eine untergeordnete Rolle. Inhaltlich am dringlichsten interessiert die Befragten, in welchen gesellschaftlichen Umständen die NS-Verbrechen stattfinden konnten und welche Rolle und Verantwortung die vermeintlich unbeteiligte deutsche Bevölkerung hatte.

Manche Opfergruppen der NS-Herrschaft nicht bekannt

Im Rahmen der Studie trat auch zutage, dass es um das historische Faktenwissen nicht gut bestellt ist. So kann nur knapp die Hälfte der Befragten den Zeitraum der NS-Herrschaft vollständig und korrekt benennen. Während über die Hälfte der 16- bis 25-Jährigen mindestens drei Opfergruppen des Nationalsozialismus kennt, kann jede:r fünfte Befragte nur eine oder gar keine Opfergruppe benennen. Einzelne Opfergruppen sind dabei besonders wenig bekannt. So nennt etwa weniger als die Hälfte der Befragten Kranke und Menschen mit Behinderungen als Opfergruppe, weniger als ein Drittel nennt Sinti:ze und/oder Rom:nja.

Dr. Andrea Despot, Vorstandsvorsitzende, Stiftung EVZ: "Wer sich mit Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung durch die Nationalsozialisten auseinandersetzt, schaut sensibilisierter auf Diskriminierung heute. Geschichtsvermittlung ist ein Booster für Solidarität und Demokratie. Jugendliche wollen verstehen und lernen, nicht unterhalten werden. Wir brauchen interaktive und partizipative Angebote für Geschichtsvermittlung - innerhalb und außerhalb der Schule. Partizipative Vermittlungsformen können einem weiteren Befund der MEMO-Jugendstudie entgegenwirken: Viele Befragte fühlen sich politisch nicht gehört und repräsentiert."

Engagierte Jugendliche befassen sich häufiger mit der Geschichte des NS

60 Prozent der Befragten geben an, durch die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte für Themen wie Ausgrenzung und Diskriminierung sensibilisiert worden zu sein, wobei ein Drittel berichtet, sich selbst im Alltag zumindest teilweise diskriminiert zu fühlen. Das betrifft insbesondere junge Menschen mit Migrationsbiografien, aus einkommensschwachen und bildungsfernen Familien. Viele fühlen sich zudem politisch nicht repräsentiert (44 Prozent).

Rund ein Drittel der 16- bis 25-Jährigen nimmt darüber hinaus keinen Zusammenhalt in der Gesellschaft wahr. Diejenigen, die sich für gesellschaftliche Themen und Herausforderungen in der Gegenwart engagieren, geben auch an, sich intensiver mit der Geschichte des Nationalsozialismus befasst zu haben. Insgesamt ist das Engagement in der befragten Stichprobe heterogen: Knapp 40 Prozent der Befragten berichten, sich wenig oder gar nicht gesellschaftlich zu engagieren. Rund jede:r Fünfte (21 Prozent) berichtet hingegen von starkem eigenem Engagement. Neben dem Einsatz für den Klima- und Umweltschutz (43 Prozent) geben viele Befragte an, sich gegen Rassismus, Diskriminierung und Ausgrenzung in der deutschen Gesellschaft zu engagieren (22 Prozent).

Für die MEMO-Jugendstudie wurden 3.485 repräsentativ ausgewählte junge Menschen zwischen 16 und 25 Jahren im September/Oktober 2021 sowie 838 Teilnehmer:innen erneut im September 2022 online befragt. Die MEMO-Jugendstudie wird vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld durchgeführt und von der Stiftung EVZ gefördert. Sie ist die umfangreichste Studie ihrer Art und erweitert die bisherigen fünf MEMO-Erhebungen (2018-2022) systematisch um die Gruppe der jungen Erwachsenen: die zukünftigen Träger:innen von Erinnerungskultur.

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Autorin / Autor: Pressemitteilung/ Redaktion - Stand: 22. Februar 2023