ENTSCHEIDUNGEN

Von Lisa Baumann, 20

Es war zu spät, um etwas zu machen. Sie hatte den ganzen Tag im Bett gelegen und jetzt war es zu spät, der Tag war gelaufen, verbraucht, wie die Luft in ihrem Zimmer. Nona wankte ins Bad und schüttete sich kaltes Wasser ins Gesicht.
Ihr Handy blinkte und lockte sie zurück in die Dunkelheit ihres Zimmers. Chris, die in Chemie neben ihr saß, fragte, ob sie heute mit zu Mariko feiern kommt.

Mariko wohnte in einer anderen Stadt und es dauerte ewig, bis sie ankamen, aber Chris erzählte ihr etwas über eine Wüstenstadt, die sie im Urlaub besucht hatte, (Chris nannte sie “einen Rückzugsort aus unserer postmodernen Kapitalismushölle”) und so verging die Zeit.
In Marikos Wohnzimmer saßen sie zu sechst in einem unförmigen Kreis zusammen, aus den Lautsprechern kam etwas in einer Sprache, die Nona nicht verstand. Chris und Mariko verzogen sich irgendwann mit einer Schachtel Zigaretten. Ein Junge mit dunklen Strähnen in den ansonsten bleichen Haaren fragte, ob es hier auch etwas zu essen gibt.
Hier hinten, sagte jemand und Chipstüten raschelten, aber Nona sah nicht, wer es war. Sie hatte auf ihr Handy geschaut.
Die Musik hörte nicht auf, obwohl sich fast jeder beschwerte, und niemand stand auf, um die Chipstüten zu holen. Nona sah sich im Raum um. Der Junge mit den dunklen Strähne sah es und rollte eine Bierflasche in ihre Richtung über den Boden. Dann nahm er sein Handy wieder in die Hand als hätte die Unterhaltung gar nicht stattgefunden.
Auf den Bildern würden später alle lachen und die Flaschen in die Kamera strecken und unter dem Filter würde niemand Augenringe haben oder Erbrochenes auf dem T-Shirt.

Gegen Mitternacht fragte ihr Vater, wann sie nach Hause kommt. Als sie sich verabschieden wollte, wäre Nona fast betrunken über Chris und Mariko gestolpert, die auf der Treppe rauchten. Mariko bot ihr an, hier zu übernachten, aber sie musste wirklich gehen.
Die Straßenbahnstation war direkt vor der Haustür. Nona dachte an den Jungen mit den dunklen Strähnen und daran, wie er das Bier auf dem teuren Holzboden von Marikos Eltern verschüttet hatte. Sie setzte sich neben eine alte Frau, die sie misstrauisch anglotzte und schloss die Augen. In ihrer Fantasie zog das Bier in den Boden ein und hinterließ hässliche Flecken.
Als sie wieder aufwachte, hielt die Bahn irgendwo in der Vorstadt. Der Wagen war außer ihr leer. Hinter den Glasscheiben war es komplett dunkel als hätte jemand einen Lichtschalter gedrückt. Kein Problem. Sie versuchte, tief ein- und auszuatmen, weil Mariko ihr mal gesagt hatte, dass sie das immer vor Prüfungen macht. Sie hat einen Routenplaner auf dem Handy und wenn nichts schief läuft, genug Akku für den Heimweg. Nona schob die Hand in ihre Tasche und wühlte nach einem rechteckigen Gegenstand. Aber da war nichts. Sie realisierte es in dem Moment, als die Bahn wieder anfuhr. Weil das Handy noch auf dem fleckigen Holzboden lag.
Bei der nächsten Station stieg sie aus. Der Alkohol machte es ihr schwer, irgendetwas zu erkennen, aber da waren definitiv keine Menschen. Ihr wurde übel, wirklich übel. Sie drehte sich nach links, nach rechts, aber da waren überall nur Häuser und Straßen, die ihr nichts sagten. “Du kannst hier übernachten, wenn du willst”, hörte sie Mariko sagen und am liebsten hätte sie hier auf diesem unbekannten Platz geweint.

Es war gegen vier, als sie nach Hause kam. Der Junge mit den dunklen Strähnen hatte ihr Handy gefunden und dann war er mit Chris und Mariko losgefahren. Sie hatten Nona unter einer Straßenlaterne gefunden. Auf dem Heimweg hatte Chris ihre Hand gehalten und nicht losgelassen, bis Nona ausgestiegen war. Das Haus war dunkel, aber im Himmel sammelte sich schon das erste Blau. Sie taumelte in eine Ecke, um sich zu übergeben und dort blieb sie dann einfach liegen.
Nach einer unbestimmbaren Weile blieb ein Mädchen, das Nona nicht kannte, neben ihr stehen. Sie trug eine Latzhose mit einem Clown-Aufnäher auf der Brusttasche und starrte fasziniert auf das Erbrochene in der Ecke. Ihr Mund formte Wörter. Nona konnte keine Lippen lesen, deshalb schaute sie das Mädchen nur an wie ein betrunkener Kunstbanause die Mona Lisa.

Ihr Vater erzählte später, dass das Mädchen gerade erst mit ihrer Familie in die Wohnung nebenan gezogen war. Ahrenberg, das stand auf dem Klingelschild. Ohne sie hätte Nona wahrscheinlich noch eine ganze Weile da draußen gelegen, erinnerte sie ihr Vater immer wieder, und deshalb lud er die ganze Familie zum Essen ein. Nona sagte während des ganzen Abends kein Wort.
Sie bekam ihre Diagnose im Herbst, nach einigen Zwischenfällen, die damit geendet hatten, dass ihr Vater sie irgendwo abholen musste und sie auf dem Heimweg hinten saß und tief ein- und ausatmete. Der Therapeut erklärte ihrem Vater, was sie schon wusste: Nona bekam Panikattacken, wenn sie ihr Handy nicht bei sich hatte. Das war zurückzuführen auf ihre Angst davor, die falsche Entscheidung zu treffen und die Konsequenzen tragen zu müssen oder handlungsunfähig zu sein, wie damals in der Nacht nach der Party. Man kann eine Therapie sofort beginnen. “Dad, es ist okay. Ich habe keinen Krebs oder so”, sagte Nona ihm, als sie im Auto saßen. Sie wollte einen Witz machen über Teenager und ihre Handys, aber irgendwie war das nicht mehr länger lustig.

Die Sitzungen beim Therapeuten waren jeden Freitag. Im Wartezimmer hing ein Fernseher, aber Nona konnte sich sowieso nicht merken, welches der stumpfsinnigen reichen Reality-TV-Mädchen letzte Woche schwanger geworden war, deshalb verfolgte sie die Handlung nur mit einem Ohr. Mit dem anderen hörte sie ihrem Vater zu. Er las irgendetwas von einem Erziehungswissenschaftler aus Boston vor.

“Wir vertrauen nun blind einem Algorithmus, dass er die richtige Entscheidung für unsere Kinder trifft. Bei so banalen Sachen wie der Suche eines Fitnessstudios, aber auch bei Entscheidungen, die ihre Sicherheit betreffen. Wir vertrauen dem Algorithmus zum Beispiel, dass er für sie den Heimweg findet. Und dann wundern wir uns, warum wir unseren Kindern nicht mehr vertrauen. Wir sind es, die diesen Vertrauensverlust zu verantworten haben.”

“Wow. Tiefsinnig”, sagte Nona.
Ihr Vater warf ihr einen Blick zu, dann fragte er sie, wie ihre Woche gewesen war (ereignislos). Die Frage, wann sie wieder in die Schule gehen will, hängt unausgesprochen im Raum. Sobald ich wieder eine Entscheidung treffen kann, ohne vorher in Tränen auszubrechen, denkt Nona. Ohne mich auf Dauerschleife zu fragen, was ich bei einer falschen Entscheidung alles kaputtmache. Dann gehe ich wieder in die Schule, kein Problem. Ihr Vater fragte nicht nach der Schule, sondern lächelte sie nur aufmunternd an. Er konnte sich so gut verstecken hinter diesem Lächeln, das er sich von ihrem Therapeuten abgeschaut hatte und das gleichzeitig gar nichts sagte und alles.

Der Höhepunkt jeder Sitzung war nach der Sitzung, wenn ihr Vater auf dem Weg zum Auto mit ihr eine Übung machte, die er in einem Buch über Verhaltenstherapie gefunden hatte.
Man geht in sich und sagt das erste, was man gerade tun möchte. Und dann macht man das fünfmal und aus diesen fünf Möglichkeiten wählt man die beste aus und die macht man dann. Sobald wie möglich. Deshalb hatten sie ihre Samstage schon auf einem Riesenrad verbracht, in der Bibliothek und irgendwann waren sie auch mal bei ihrer Mutter zu Besuch gewesen, die mit ihrem neuen Freund in Brasilien lebte.
Ihre Blicke trafen sich im Rückspiegel. Anscheinend hatten sie beide im selben Moment daran gedacht, dass sie das nie wieder tun würden.

Felix hatte immer nur schreiben wollen. Aber irgendwann, als schon ein halbes Jahr vergangen war, seit man seinen Job in der Lokalredaktion wegautomatisiert hatte, und er sich als freier Journalist über Wasser halten musste, verstand er, dass es nicht darum ging, was er wollte. Es ging darum, was Nona brauchte.
Felix hatte einen guten Abschluss in Psychologie und jetzt wollte er weitermachen und Psychotherapeut werden. Nona sagte, sie fände es komisch, sich eines Tages von ihm therapieren zu lassen, aber er wusste, dass es da draußen noch genug Kinder gab wie sie. Zumindest hatten sie ihm das in der Selbsthilfegruppe für besorgte Eltern gesagt. Die meisten dort hatten Kinder, die in irgendeiner Form von ihren Smartphones “geschädigt” worden waren (ein Euphemismus für ausgeprägtes Suchtverhalten) und sie alle verstanden nicht, warum Felix kein Aktivist geworden war, der Firmeneingänge belagerte, oder sich ihnen nicht in ihrer Kommune der Fortschrittsverweigerer anschließen wollte. Um ganz ehrlich zu sein, das konnte er sich einfach nicht leisten.

Er traf Ottilia zum ersten Mal, als sie im Wartezimmer nach demselben Buch griffen, einer alte Ausgabe von Anne auf Green Gables. Die Auswahl an Büchern war so mager, dass es unweigerlich so kommen musste, aber sie lachten trotzdem darüber.
Er fragte sie, was sie beruflich machte. Sie sagte, sie berät Politiker. Früher hätte er sie wahrscheinlich zu einem Charakter in einem Politthriller gemacht. Jetzt sah er sie nur beeindruckt an.
Genauer gesagt, fuhr Ottilia fort, hilft sie bei der Entwicklung hochintelligenter Algorithmen für deren Wähler-Targeting.
“Und das bedeutet das?”, fragte er und lachte dann. “Entschuldigung, mit so etwas kenne ich mich wirklich gar nicht aus.”
Sie lächelte. “Das ist okay, die meisten Leute haben keine Ahnung davon.”
Sie sah sich im Raum um als wollte sie ein Geheimnis mit ihm teilen. “Wir haben Zugriff auf sehr viele Daten. Die Algorithmen wissen also, was die Wähler wollen. Das macht es für sie leicht, richtig mit ihnen zu kommunizieren.”
“Was wissen sie denn genau?”, hakte er nach und fragte sich, was der Erziehungswissenschaftler aus Boston dazu sagen würde.
“Alles mögliche.” Sie zuckte mit den Schultern. “Wie ein Wähler am liebsten Informationen aufnimmt, welcher Teil vom Wahlprogramm ihm am wichtigsten ist, am besten auch, was er über solche Sachen wie Migrations- oder Sozialpolitik denkt. Aber das ist langweilig.”
Ottilia winkte ab. “Was ist mit Ihnen? Was machen Sie?”

Die Tage hatten sich in den letzten Wochen so ewig langgezogen, dass Nona am Abend das Gefühl hatte, ein ganzes Jahr überstanden zu haben. Die einzigen Personen, mit denen sie regelmäßig sprach, waren ihr Vater und ihr Therapeut. Dieser erinnerte sie nach jeder Sitzung daran, ihr Handy aus der Hand zu legen und ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Sie versprach es. Mache dir bewusst, welche Entscheidungen du treffen willst und dann treffe sie. Wie leicht das gesagt war und wie schwer es war, das auch zu tun.
Es hatte sich herausgestellt, dass man in der Schule schnell in Vergessenheit gerät, wenn man zu krank ist, um feiern zu gehen. Chris hatte ihr ein einziges Mal geschrieben und gesagt, dass sie geklingelt hatten, aber Nonas Vater ihnen nicht erlaubt hatte, hochzukommen, weil sie sich gerade ausruhte.
Felix hatte Ottilia nach der Arbeit in ein Restaurant eingeladen, das Insekten servierte.
“Zweifelst du nie daran, was du tust?”, fragte er, als sie beim Nachtisch saßen.
Sie lachte über seine Frage. “Sollte ich das?”
Er wusste es nicht. Ehrlich, er wollte keinen Streit anfangen. Aber dann dachte er daran, was man ihm in der Selbsthilfegruppe über Ottilia gesagt hatte. Wenn sie mit ihren Kenntnissen wenigstens Krebs bekämpfen würde. “Ich meine nur, dass es vielleicht Folgen haben könnte.”, sagte er nur.
Dann ließ er das Thema fallen, aber als sie den Wagen vor seinem Haus anhielt, musste Ottilia es noch einmal aufgreifen. Was glaubte er denn, wie Politik heutzutage funktioniert? Und überhaupt, was denn für Folgen? Glaubte er etwa, sie wäre daran schuld, dass Nona krank ist? Was hatte ihre Arbeit denn mit Nonas Krankheit zu tun?“
“Alles!”, schrie Felix ihr entgegen und sie zuckte zusammen. Dann stieg er aus.
Nona hatte an der Tür auf ihn gewartet. Sie hatte gesehen, wie er ausgestiegen war. “Du musst dein Leben wegen mir nicht anhalten, Dad. Lad sie ein, wenn du willst”, sagte sie und lächelte so wunderbar ahnungslos.
Felix zeigte ihr sein Therapeuten-Lächeln. “Ist schon in Ordnung. Das wäre eh nichts geworden.”

Sie verbrachten den Rest des Abends vor dem Fernseher. Dann ging Nona in ihr Zimmer, wo es zu dunkel und stickig war, um zu schlafen, also riss sie das Fenster weit auf und legte sich ins Bett. Irgendwann war die kalte Luft bis in jeden Winkel des Zimmers vorgedrungen war und es war so kalt, dass man sich unter der Decke verkriechen musste, wo es auch dunkel und stickig war und man genauso schlecht schlafen konnte.
Das Licht draußen war angegangen. Als Nona aufstand und zum Fenster ging, war der Boden eisig unter ihren Füßen. Das Mädchen stand im Hof. Sie trug einen Müllbeutel in der Hand, Kopfhörer in den Ohren und schaute mit ihren dunkel geschminkten Augen zu ihr hoch.
“Hi.”
Nona sagte nichts. Sie dachte an Anne und ihren Vater wie er regungslos im Wartezimmer saß und daran, wie sich morgens alle durch das Schultor drängten.
Das Mädchen ging weiter und begann auf halber Strecke zu den Mülltonnen irgendwas von Queen zu singen. Es klang schief und sie schwang dabei ihre Arme als wäre sie betrunken.
“Hey! Willst du mit auf eine Party kommen?”, rief Nona ihr hinterher.
Sie wären nur noch zu fünft gewesen, wenn sie nicht mitgekommen wäre. Den Jungen mit den dunklen Strähnen hatte in der Nacht zuvor der Krankenhubschrauber geholt. Irgendjemand sagte, Magersucht, aber das glaubte Nona nicht. Auf den Bildern lachten sie alle.

Das Mädchen hieß Joy. Sie stand später mit Nona unter der Laterne im Hof und beide wussten nicht recht, wie sie sich verabschieden sollten. “Ich bin froh, dass wir Nachbarn sind”, sagte Joy dann und streifte sich eine lockige Strähne hinters Ohr.

Der Fernseher lief im Wartezimmer. Sie waren zu früh. Die Reality-TV-Mädchen feierten die Schwangerschaft mit alkoholfreien Cocktails, die aussahen als hätte jemand eine Badebombe reingeworfen.
Joy schlief neben Nona ein, während sie auf den Beginn ihrer Sitzung warteten. Nona holte sich irgendwann eine alte Ausgabe von Anne auf Green Gables aus dem Regal auf der anderen Seite des Raumes und blätterte sie durch, ohne viel von der Handlung mitzubekommen. Nur eines: I’ve done my best, and I begin to understand what is meant by ‘the joy of strife’. Next to trying and winning, the best thing is trying and failing , sagte Anne.

Felix wartete vor dem Krankenhaus auf sie. Auf dem Rückweg erklärte Nona Joy die Übung und lachte am Ende, weil es ihr irgendwie peinlich war.
Joy fand es nicht peinlich. “Was willst du jetzt tun?”, fragte sie Nona. “Weißt du, was ich jetzt tun will? Meinen Kopf aus dem Fenster halten und den Wind in meinen Haaren spüren.”
Joy streckte den Kopf aus dem Fenster und die Ringellocken flogen um ihren Kopf. Nona machte es ihr nach und vom Fahrtwind kamen ihr sofort die Tränen.
In diesem Moment verstand sie, dass genau das die Entscheidungen waren, die sie treffen sollte. Diese imperfekte Entscheidungen, Partys, alte Bücher, Flecken auf dem Holzboden, zerzauste Haare im Fahrtwind. Entscheidungen, deren Sinn wir nur verstehen, wenn wir auf sie zurückblicken.

Autorin / Autor: Lisa Baumann