Einmal kriminell, immer kriminell?

Forscher untersuchten Entwicklung der Jugendkriminalität über einen längeren Zeitraum und stellen Vorurteile in Frage

Wenn Jugendliche Straftaten begehen, werden die Gründe dafür oft darin gesucht, dass sie sozial benachteiligt werden, Gewalt in der Familie erfahren, in der Schule gemobbt werden oder zuviel Gewalt in Filmen oder Computerspielen ausgesetzt sind.

Laut der Langzeitstudie "Kriminalität in der modernen Stadt" des Kriminologen Prof. Dr. Klaus Boers (Westfälische Wilhelms-Universität Münster, WWU) und des Soziologen Prof. Dr. Jost Reinecke (Universität Bielefeld) haben diese Faktoren zwar kaum eine direkte Wirkung auf ein mögliches straffälliges Verhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Allerdings führen sie dazu, dass Jugendliche die Ausübung von Gewalttaten harmlos finden und ihre Zeit mit entsprechend auffälligen Freunden verbringen – dies wiederum steht in einem deutlichen Zusammenhang mit der Begehung von Straftaten, so die Forscher.

Von 2002 bis 2019 befragten die Wissenschaftler in Duisburg rund 3.000 Personen zwischen dem 13. und 30. Lebensjahr zunächst jedes Jahr und später alle zwei Jahre nach selbst begangenen Delikten (Täterbefragung) sowie nach ihren Einstellungen, Werten und Lebensstilen. Die Wissenschaftler bekamen dadurch Einblicke in das Dunkelfeld der Kriminalität, indem auch über Straftaten berichtet wurde, die in keiner offiziellen Statistik auftauchen. Zusätzlich werteten sie Daten über Verurteilungen und Verfahrenseinstellungen aus.

*Jugendkriminalität erledigt sich mit zunehmendem Alter meist von selbst*
Gelegentliche Diebstahls- oder einfache Gewaltdelikte sind vom späten Kindes- bis zum mittleren Jugendalter vor allem unter Jungen (bis zu 28 bzw. 25 Prozent), aber auch unter Mädchen (bis zu 22 bzw. 14 Prozent) nicht ungewöhnlich. Allerdings werden ab dem Ende des Jugendalters die allermeisten Jugendlichen nicht mehr straffällig, wobei dies für Mädchen früher als für Jungen gilt. "Dieser starke Rückgang der Jugendkriminalität ist normal und ein Erfolg einer regulär verlaufenden Erziehung und Sozialisation", betont Klaus Boers. "Mit zugewandten und aufmerksamen Eltern und Lehrern, unter Freunden und in Vereinen regelt sich das meiste von selbst."

*Forscher halten nichts von "Null-Toleranz-Strategie"*
Jugendliche würden soziale Normen vor allem dann akzeptieren, wenn die Gesellschaft pädagogisch angemessen auf Regelverletzungen reagiere. Deshalb finden die Forscher es sinnvoll, dass das Jugendstrafrecht oft auf vorübergehende Delikte Jugendlicher mit Verfahrenseinstellungen reagiere. Das sei ein Grund, warum seit den 2000er Jahren die Kriminalität von Heranwachsenden insgesamt um ein Drittel, die Gewaltkriminalität sogar um die Hälfte zurückgegangen ist. "Eine sogenannte ,Null-Toleranz-Strategie', also die Verurteilung von leichten, ersten Straftaten, würde solchen positiven Entwicklungen entgegenwirken", unterstreicht Jost Reinecke.

*Aus jugendlichen Intensivtätern werden nicht zwingend lebenslang Straffällige*
Problematisch sei nur eine kleine Gruppe von Intensivtätern von fünf bis acht Prozent, die die Hälfte aller Delikte sowie drei Viertel der Gewalttaten ihrer Altersgruppe begehen. Sie sind vor allem während der Jugendjahre aktiv, hören aber zum größten Teil zum Ende des Jugendalters damit auf. Und was noch wichtig ist: Die frühe Intensivtäterschaft führt nicht unbedingt dazu, dass die Betroffenen immer so bleiben. Immerhin die Hälfte der im späten Kindesalter intensiv Auffälligen begeht schon in den folgenden Jugendjahren deutlich weniger Straftaten. Diese auch international bestätigten Befunde stützen die These, dass vorbeugende Maßnahmen und Behandlungsprogramme auch Intensivtäter zur Umkehr bewegen können.

*Aufmerksamkeit und Vertrauen hilfreich*
Besonders hilfreich seien gute Beziehungen zwischen Schüler_innen, Lehrkräften, Familienangehörigen und Freund_innen, die geprägt sind von Aufmerksamkeit und Vertrauen. Der in der Regel glimpflich verlaufende Kontakt mit der Polizei oder Justiz wirke sich dagegen nur selten unmittelbar auf das weitere Verhalten der Jugendlichen aus. Hingegen könnten drastischere Maßnahmen dazu führen, dass straffällige Cliquen und deren Einstellungen verstärkt werden. Und wer der Justiz bekannt sei, habe – unabhängig vom tatsächlichen Ausmaß seiner weiteren Taten – ein höheres Risiko, erneut kontrolliert zu werden.

*Vorurteil aus dem Weg geräumt*
Die Studie räumt auch mit einem weiteren stark verbreiteten Vorurteil auf: Jugendliche mit Migrationsgeschichte begehen der Studie zufolge nicht mehr Diebstähle als Jugendliche deutscher Herkunft. Mädchen türkischer Herkunft – zu dieser Gruppe verfügten die Wissenschaftler in Duisburg über eine gute Datenlage – fallen zudem bei allen Straftaten seltener auf als deutsche Mädchen. Die Gewaltrate hänge somit nicht von der Herkunft ab, sondern von sozialen Defiziten.

Das Fazit der Wisseschaftler: Selbst problematische Täter_innen hören häufig spätestens als Heranwachsende damit auf, Straftaten und vor allem Gewalttaten zu begehen. Diese positive Entwicklung kann mit pädagogischen Maßnahmen sowie angemessenen Reaktionen seitens Polizei und Justiz gefördert werden. Es besteht eine gute Chance, auch nach dem Jugendalter positive Bindungen und Einstellungen aufzubauen.

*Über die Studie*
Die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) über knapp 20 Jahre geförderte Untersuchung ist in Deutschland die einzige und international eine der wenigen Langzeituntersuchungen, die delinquentes Verhalten vom späten Kindes- bis ins frühe Erwachsenenalter in den Blick nimmt. Die Studie unterscheidet sich von bisherigen Untersuchungen vor allem dadurch, dass einmalige Befragungen lediglich Momentaufnahmen lieferten, aber nichts über die Entwicklung der Kriminalität aussagten.

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