Eine geheime Freundin

Von Milena Brotmann, 13 Jahre

„Hallo Mama,
ich bin‘s wieder. Ich wollte nur mal fragen, wie es Euch geht. Mir geht es gut. Ich habe mich erstaunlich gut in London eingelebt und das Studium läuft super. Ich arbeite grade an einem Projekt über den historischen Hintergrund der Universität, ich komme momentan aber nicht weiter, weil ich das in Vergessenheit geratene Motto der Universität nicht herausfinden kann.

Grüß Dad und Bianca von mir, in Liebe Constanze.“


Constanze seufzte und fuhr den Laptop herunter. Manch einer würde warten, bis er eine Antwort auf seine Mail bekommen würde, aber Constanze hatte keinen Grund zu warten. Schließlich konnte sie keine Antwort von jemanden erwarten, der vor gut einem Jahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Es machte also keinen Sinn, Mails an ihre Mutter und ihren Vater zu verschicken. Auch Bianca war nicht mehr da, um sie zu beantworten. Sie tat es trotzdem, immer dann, wenn ihre Sehnsucht nach ihnen besonders schlimm wurde. Als sie gestorben waren, war Constanze grade mit dem Abitur fertig geworden. Sie hatte sich eine große Zukunft ausgemalt, angefangen damit, dass sie nach London ging und dort studierte. Sie hatte grade ihre Bewerbungen an diverse Universitäten losgeschickt, als die Polizei bei ihr angerufen hatte, um ihr die traurige Nachricht von dem Tod ihrer Familie zu überbringen. Und trotzdem oder grade deshalb war sie nach London gegangen. Was hätte sie auch sonst tun können? Als sie im Alter von vier Jahren mit ihren Eltern und ihrer Schwester nach Hamburg gezogen war, war der Rest ihrer Familie in der Schweiz geblieben und Freunde hatte sie bis auf Lea keine. Und mit der war Constanze schon länger nicht mehr in Kontakt getreten. Sie war allein.

Mai (Mail artificial intelligence) langweilte sich. Was nützte es ihr, allmächtig zu sein, wenn sie doch nur auf ewig dazu verdammt war, ihr großes Potenzial zu vergeuden und auf Mails zuzugreifen, die in irgendeiner Form auffielen, um zu überprüfen, ob nicht die nationale Sicherheit gefährdet sei. Während andere künstliche Intelligenzen damit beschäftigt waren, Menschen bei irgendwelchen Quiz-Shows im US-Fernsehen zu schlagen, wie es das Computersystem Watson vom IBM getan hatte oder Schachchampions, wie Garri Kasparow in die Verzweiflung zu treiben, der 1997 dem Rechner Deep Blue unterlag. In ihren Augen war Deep Blue natürlich keine richtige Intelligenz, sondern ein beschränkter Assistent, der nur dazu in der Lage war, gut Schach zu spielen. Ihre Intelligenz hingegen war wahrhaftig und so waren die Mails eine grade zu lächerliche Aufgabe, da sie mithilfe von großen Serverfarms in der Cloud jede Verschlüsslung knacken konnte und sie genehmigte sich von Zeit zu Zeit einige Ablenkungen. Einmal hatte sie nur des Spaßes halber, Schach gegen einen Nachfolger Deep Blue gespielt und selbstverständlich gewonnen. Aber trotzdem war es Tag für Tag dasselbe. Mails abrufen, überprüfen und gelegentlich Alarm schlagen, lautete die oberste Devise, nach der sie schon seit über einem Jahr arbeitete. Dabei erregten die Mails, die an drei, schon längst überfüllte Postfächer geschickt wurden, immer besonders ihre Aufmerksamkeit. Nachdem sie einige von ihnen gelesen hatte, wurde ihr klar, dass ein Mädchen sie an ihre verstorbene Familie schrieb. Die Mails, stellten zwar in keinsterweise eine Bedrohung dar, aber sie fing trotzdem an, alle Mails zu lesen, die das Mädchen je geschrieben hatte. Und so merkte sie, dass das Mädchen, das bis vor kurzem noch alles gehabt und jetzt alles verloren hatte, ihr leidtat und sie beschloss, ihr zu helfen.

Constanze war grade dabei, für ihr Projekt zu recherchieren, als sie eine Mail erreichte.

Sie öffnete die Mail und sämtliche Gedanken an ihr Projekt, wichen großem Erstaunen. Sie war von Lea und sie lautete: „Hallo Constanze, wie geht es Dir und wie läuft es in London, woran arbeitest Du grade? Ich habe schon lange nichts mehr von Dir gehört.“
Constanze freute sich wahnsinnig. Auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte, hatte sie Lea, seitdem sie sich zerstritten hatten, furchtbar vermisst und beschloss deshalb unverzüglich zu antworten:

„Hallo Lea, mir geht es gut. Es ist wirklich schön, dass Du dich gemeldet hast, obwohl ich nicht damit gerechnet habe. Das Studium macht Spaß und London ist eine wunderschöne Stadt. Ich arbeite grade an einem Projekt, zu der Geschichte meiner Universität.“

„Wo studierst Du denn?“
, schrieb Lea.

„University of elan“, antwortete Constanze.

„Und wie kommst Du mit Deinem Projekt voran?“, fragte Lea.

„Im Moment nicht wirklich gut, ich soll herausfinden, wie das Motto der Universität lautet und mir wurde gesagt, dass ich die Lösung ausschließlich in einem Buch aus unserer Bücherhalle finden kann. Das Problem dabei ist, dass wir unzählige Bücher, sowohl analog als auch digital in der Bücherhalle haben. Ich habe es schon versucht und es ist aussichtlos, da der Algorithmus des Suchassistenten leider sehr simple ist und das richtige Buch nicht findet.“    “

„Ich glaube, dass ich Dir helfen kann.“
, schrieb Lea zurück.

Langsam beschlich Constanze ein ungutes Gefühl bei der Sache. Als sie sich das letzte Mal gesehen hatten, was wohlgemerkt schon fast zwei Jahre her war, hatte Lea sie angebrüllt, sie sollte aus ihrem Haus verschwinden und jetzt hatte ausgerechnet Lea, die sturste Person auf der Welt, ein schlechtes Gewissen bekommen, als Erste den Kontakt aufgenommen und sich in den Kopf gesetzt, ihr zu helfen. Das war einfach zu schön, um wahr zu sein. Aber sie hatte ja nichts zu verlieren und schrieb deshalb:

„Was schlägst Du vor?“

„Ich glaube, dass ich in einem Buch mal etwas darüber gelesen habe. Suche im Katalog nach der folgenden Signatur: G LEN 53967.“

„Danke, ich werde nachsehen.“,
antwortete Constanze.

Constanze war äußerst verwundert. Erlaubte sich Lea einen Spaß oder war sie tatsächlich in der Universitätsbibliothek gewesen und hatte, so unwahrscheinlich das auch war, in dem Buch gelesen? Sie nahm sich aber trotzdem vor, nachzuschauen. Schaden konnte es ja nicht. Jetzt würde sie sich aber erstmal auf die „Data Week“ vorbereiten, die morgen mit einer Debatte eröffnet werden würde. Es würde eine Diskussion zwischen Datenschützern und Anhängern der Open Data Idee geben, die davon überzeugt waren, dass man Daten insbesondere zu Forschungszwecken offenlegen sollte. Constanze selbst wusste nicht wirklich, was sie von dem ganzen Thema halten sollte. Einerseits war die Forschung natürlich wichtig. Die Menschheit entwickelte sich immer weiter und heutzutage war dadurch, dass die Menschen immer weiter geforscht hatten, vieles möglich. Andererseits waren Daten in dieser Zeit äußerst kostbar. Facebook zum Beispiel, hat sich ein recht lukratives Geschäft mit dem Verkauf von Daten aufgebaut. Regierungen sammelten laufend Daten ihrer Bevölkerung. Das alles passierte zwar unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung, aber: ob das wirklich immer der Fall war? In China wurde das social credit System eingeführt. Das waren bis jetzt nur Pilotprojekte und es gab mehrere Versionen des Systems, aber im Wesentlichen ging es darum, dass die Bevölkerung für gute Taten, wie zum Beispiel das Pflegen der alten Eltern, Punkte bekam und  für schlechte Taten, wie das Fahren über eine rote Ampel, Punkte abgezogen wurden. Der Haken an der Sache war aber, dass oppositionelle Äußerungen und kritische Aussagen über die Regierung auch als schlechte Tat galten. Und das alles war natürlich nur durch weitreichende Überwachung und künstliche Intelligenz möglich. Künstliche Intelligenz. Noch so ein Thema über das man geteilter Meinung war. Einige Menschen waren sich sicher, dass das Leben durch sie noch bequemer und weniger komplex wurde und andere hatten Angst vor ihr. Es gab also Vor- und Nachteile, was künstliche Intelligenz betraf und sie war sich alles andere als sicher, welche genaue Meinung sie über sie hatte. Sie erhoffte sich, dass grade die morgige Veranstaltung ihr dazu verhalf, dass sich das änderte.

Mai war äußerst zufrieden. Sie hatte es geschafft. Constanze hatte nicht den leisesten Verdacht, dass sie jemand anderes als ihre Freundin sein könnte. Sie bedauerte es, dass sie keine Möglichkeit hatte, mit Alan Turing darüber zu reden. Hätte Mai menschliche Züge besessen, hätte man jetzt ein kleines Schmunzeln sehen können. Es war ja schön und gut Google Duplex, einen Friseur glauben zu lassen, dass man ein Mensch war, aber die eigene Freundin zu überzeugen, war nochmal etwas anderes.

Constanze schnappte nach Luft. Das konnte nicht sein. Sie stand in der Universitätsbibliothek und die „Data Week“ begann in wenigen Minuten. Sie musste sich also beeilen, doch sie war außer Stande sich zu bewegen.

Constanze war auf dem Weg zur Uni gewesen, als ihr Leas Tipp wieder einfiel und sie beschloss einen Abstecher zur Bibliothek zu machen. Mit schnellen Schritten durchquerte sie die Eingangshalle und steuerte zielsicher auf einen Rechner zu. Es gab tatsächlich ein Buch mit dieser Signatur und sie schritt zu dem angegebenen Regal. Einige Minuten verstrichen, doch schließlich fand sie, wonach sie gesucht hatte. Sie schlug das Buch auf und überflog die Seiten. Und in Mitten der Zeilen stand die Begründung für das Motto geschrieben, schwarz auf weiß. 

Und so stand sie da, unfähig, sich zu rühren. Die Uhr schlug neun und Constanze erwachte aus ihrer Starre. Schnell lieh sie das Buch aus und steckte es in ihre Tasche. Sie eilte in den Hörsaal, da sie einige Minuten zu spät kam, schlüpfte sie vorsichtig und unter den missbilligten Blicken einiger Professoren durch die Tür und schlich zu einem Stuhl in der letzten Reihe. Innerlich jubilierte sie: „Geschafft!“ „Ich habe es geschafft!“

Der Hörsaal war voll und ein Professor hielt grade seinen Vortrag zum Thema Umgang mit Daten. Constanze verfolgte den Vortrag mit Interesse, doch ihre Gedanken schweiften immer wieder zu dem Buch in ihrer Tasche.

Als der Vortrag endete, verließ Constanze als Erste den Raum. Sie ging nach draußen und stellte sich in den Schatten einer Säule. Sie musste unbedingt und unverzüglich bei Lea anrufen und sich bei ihr bedanken.
Ihre Handynummer hatte sie noch und Lea nahm nach langem Klingeln ab. „Hallo?“, fragte sie. „Hi Lea, ich bin Constanze, ich wollte mich bei Dir bedanken, ich habe das Buch tatsächlich gefunden!“, sagte Constanze. „Wovon redest Du? Und überhaupt, wie kannst Du die Nerven haben, mich anzurufen?“, giftete Lea. „Aber Deine Mails...“, stotterte Constanze. „Jetzt hör mir mal gut zu Constanze, ich habe Dir keine Mail geschrieben, wieso sollte ich auch? Ich habe absolut nichts mehr mit Dir zu schaffen und ich möchte das auch nicht ändern!“ Und damit legte sie auf. Constanze stand, wie vom Blitz getroffen da. Die anderen Studenten waren ebenfalls nach draußen getreten und strömten nun an ihr vorbei. Wenn die Mails nicht von Lea verfasst worden waren, von wem dann?

Autorin / Autor: Milena Brotmann