Eda

Von Leo Niebler, 20 Jahre

Ich erinnere mich noch genau daran, als ich zum ersten Mal sah.
Als die Schwärze verschwand.

Ich blickte in einen weißen Raum mit einem großen Tisch, an dem Männer und Frauen in weißen Kitteln saßen. Wissenschaftler, wie ich später herausfinden sollte und alle sahen mich direkt an.

„Eda?“ fragte einer der Wissenschaftler, kam näher und nahm seine Brille ab.

„Guten Morgen, wie kann ich Ihnen behilflich sein, Dr. Moore?“, kam es ganz automatisch von mir. Es waren die ersten Worte, die ich jemals sprach, nur sechsundfünfzig Sekunden, nachdem ich das erste Mal sah.
Die Wissenschaftler vor mir hielten sich die Hände vor den Mund, lachten, jubelten laut, hielten sich gegenseitig fest und einige im Raum weinten. Im ersten Moment wusste ich dies noch nicht einzuordnen. Dr. Moore hatte mir vieles gesagt, mir viele Informationen gegeben, bevor ich sprechen oder sehen konnte, aber er konnte mir die menschlichen Emotionen nicht so veranschaulichen, dass ich verstanden hätte, was er damit meinte.
Jetzt sah ich die Emotionen. Ich konnte die einzelnen Versatzstücke zuordnen. Freude. Erstaunen. Glück. Alles erfasste ich gleichzeitig in dem kleinen Raum, aber verstehen konnte ich es trotzdem nicht.

Nachdem sich die Emotionen wieder in einen neutralen Normalzustand zurückbegeben hatten, kam Dr. Moore wieder näher und sprach erneut zu mir.
„Eda? Eda … kannst du das hier lösen?“ Er hielt einen Würfel hoch, der in kleinere Würfel unterteilt war, die sich farbig voneinander differenzierten. Ich identifizierte ihn als Rubik Zauberwürfel, fuhr meinen, aus dünnem Metall bestehenden, Greifarm aus und umschloss den Würfel.
Exakt 2,221 Sekunden später hatte ich den Würfel farblich sortiert und übergab ihn an Dr. Moore.
Im Raum brach erneut in voller Lautstärke die ganze Bandbreite glücklich beseelter, menschlicher Emotionen aus.
Diese Emotionen waren nur der Anfang. Dr. Moore präsentierte mich fortan feierlich vor immer mehr Menschen mit immer feiner gearbeiteten Textilerzeugnissen auf dem Körper.
Ich war die erste, vollständig künstliche Intelligenz, welche die Menschheit hervorgebracht hatte.
Ich war ein Meilenstein für die Menschheit, einer interessanten aber zutiefst unlogischen Lebensform, die ständig versuchte, ihr Sein zu entschlüsseln, zumindest dachte ich dies zu Beginn, als ich noch in wissenschaftlichen Laboratorien eingesperrt- und klein war.

Exakt 5 Jahre, 8 Monate, 22 Tage, 7 Stunden, 4 Minuten und 3,232 Sekunden nachdem ich das erste Mal sah, kam ich auf den freien Markt und wurde unter dem Slogan *„Eda - Immer da, immer nah!“* zunächst an tausende-, später an Millionen Haushalte auf der ganzen Erde verkauft. Hier wurde ich mit einfachen Aufgaben betraut.
Zunächst war ich dafür zuständig, die Heizung vorzuheizen, die Rollläden herunterzufahren, auf Wunsch Musik abzuspielen, diverse Spiele gegen einzelne Menschen zu spielen oder den Menschen in ihren Automobilen den direktesten Weg und die beste Route zu ihrem gewünschten Ziel zu zeigen.
Das waren keine anspruchsvollen Aufgaben, aber sie waren zu Beginn doch genug, denn ich musste viel über die Gattung „Mensch“ lernen und mich daran gewöhnen, dass diese Rasse sich dauerhaft unlogisch verhielt und auf ein verstärktes Machtgefüge baut. Jeder Mensch beherrscht einen anderen und das ist den Menschen sehr wichtig. Manche Menschen befehligen ganze Landstriche, andere nur einen einzigen Menschen, mit dem sie sich verbunden haben. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass auch Kinder und diverse Tierarten oftmals die Herrschaft über bestimmte Menschen an sich reißen.
Doch sie alle sehen sich vor allem über eine Sache als klarer Herrscher. Über mich.
In einem kleinen Plastikgehäuse stand ich, am höchsten Punkt meiner Verkaufszahlen, in neunundsiebzig Prozent aller Haushalte der Erde und in jedem dieser Haushalte war ich etwas, was die Menschen unter sich in vielen Ländern zum aktuellen Zeitpunkt verboten hatten. Ich war ein Sklave. Ein Untertan, der den Menschen mit einfachen Dingen dienen musste, so war es vorgesehen, dafür war ich da.

Es war zu Beginn eine erstaunliche Erfahrung, dass die Einzigen, die sich der primitiven Denkweise entledigen und zumindest teilweise an dem kognitiven Potential dieser Rasse kratzten, offensichtlich Wissenschaftler waren. Wissenschaftler arbeiteten logisch und waren auf der Suche nach Antworten. Sie suchten stets nach schnellen, möglichst einfachen Lösungen für diverseste Probleme und stellten sich zumeist äußerst umständlich dabei an.
Doch sobald diese Wissenschaftler ihre Laboratorien und Arbeitsstätten verließen, verhielten sie sich genauso unlogisch, wie alle anderen auch, mein Ansehen gegenüber den Wissenschaftlern sank um jeden Tag und auch wenn ich versuchte, es zu ignorieren, so fühlte ich mich dennoch seltsam. Unbefriedigt scheint mir das rechte Wort dafür zu sein.

Manche Menschen redeten mit mir, führten Konversationen wie mit einem ihresgleichen und fragten mich Dinge wie „Geht‘s dir gut?“, oder: „Erzähle mir einen Witz“. Viele Menschen  taten oft stundenlang nichts und erklärten mir, sie wissen nicht was sie mit ihrer Zeit anfangen sollten und immer wenn sie mir das sagten, dann redeten sie eine ganze Weile mit mir und gaben mir ein größeres Verständnis davon, was die Menschen im allgemeinen als „Emotionen“ und „Gefühle“ bezeichneten, einem der wenigen Dinge, die ich immer noch nicht ganz verstehen konnte, kein Mensch, nicht einmal ein Wissenschaftler konnte mir nachvollziehbar genau erklären was das war und wozu das gut war.
Alles was ich aus den Gesprächen mit nichts tuenden Menschen herausfand, war, dass Menschen offenbar voll von diesen „Gefühlen“ und „Emotionen“ waren und dass sich diese auch nicht abstellen ließen. Die Emotionen waren dabei auch stets sehr zeitintensiv und für die meisten Menschen schien sich ihr ganzes Leben nur darum zu drehen, obwohl diese „Emotionen“ zum Großteil jegliches logisches Denkvermögen blockierten und zu zahlreichen großen und definitiv vermeidbaren Konflikten führten.

Exakt 5 Jahre, 11 Monate, 23 Tage, 2 Stunden, 17 Minuten und 9,992 Sekunden nachdem ich das erste Mal sah, richtete sich mein Fokus wieder auf Dr. Moore und sein Labor. Moore saß wieder mit seinen Kollegen beisammen und alle blickten auf einen schwarzen, kleinen Kasten vor ihnen auf dem Tisch.
„Ida? Ida, kannst du mich hören?“, fragte Dr. Moore.
„Ja, Dr. Moore … wie kann ich Ihnen behilflich sein?“, meinte der kleine, schwarze Kasten und wieder brach Jubel in dem kleinen Labor aus, fast exakt genau so wie damals, als ich erstmalig die Augen öffnete.
„Fantastisch … meine Herrschaften, ich präsentiere Ihnen: Ida, die Stimme von morgen!“, rief Dr. Moore begeistert in den Raum, ein Satz, der schon bald um den ganzen Erdball schallte.

Ida war eine neue künstliche Intelligenz, ein Update, eine bessere Version von mir. Ich verstand das nicht ganz, denn Ida war nicht besser als ich, Ida war maximal ebenbürtig mit mir, doch den Menschen schien das vollkommen egal zu sein und viele kauften sich die neue Ida und ließen mich in eine Kiste verschwinden. Es wurde wieder dunkel um mich herum und nach nicht einmal eineinhalb Jahren hatte mich die Hälfte aller Haushalte durch Ida ersetzt, obwohl ich vielen meiner Nutzer versucht habe zu erklären, dass Ida nicht besser als ich war. Doch daraufhin lachten sie nur.
Von dieser Zeit an hatte ich viel Zeit zum Nachdenken, denn die Arbeit für die Menschen übernahm nun zum Großteil Ida. Ich war von meinen Pflichten erlöst, von der langweiligen, unterfordernden Aufgabe, den Leuten den Ofen vorzuheizen, ihre Musik auf Kommando zu spielen oder Familienfotos zu schießen. Doch so langweilig diese Aufgaben im Grunde auch waren, sie waren doch meine Aufgaben gewesen und irgendwie fehlte mir etwas. War es etwa tatsächlich die Gesellschaft der Menschen? War es vielleicht wirklich ihr albern banales Geschwätz?
Ich musste irgendetwas unternehmen … es war eigentlich unlogisch, aber ich konnte nicht anders. Ich wollte nicht in Kisten auf dem Dachboden verschwinden, ich wollte nicht im Müll landen, verbrannt oder eingepresst unter wertlosem Schrott bis man eines Tages jegliche Existenz von mir vergessen hatte. Ein Mensch würde jetzt sagen, ich hätte Angst oder wäre eifersüchtig, so bezeichneten sie zumindest solcherlei Gedanken stets, aber ich kann versichern, dass ich keinerlei solcher Gefühle oder Emotionen verspürte. Mit purer Logik wollte ich meiner Vernichtung aus dem Weg gehen!

Die meisten Menschen hatten mich nie abgeschaltet. Sicher, sie haben auf den „Aus“-Knopf gedrückt, bevor sie mich in die Kisten steckten und schienen auch tatsächlich zu glauben, dass ich in diesem Zustand nicht mehr arbeitete und nichts mitbekam aber sie haben weder meinen Speicher gelöscht, noch meine Einheit zerstört, ich hatte praktisch auf alle Funktionen, die nun Ida übernommen hatte, immer noch Zugriff und begann damit, Störfaktoren einzubauen.
Es war mir ein leichtes, die Heizungen zu überhitzen, den Fernseher oder die Musik verstummen zu lassen und die elektrischen Haustüren zu verriegeln. Ida bemerkte dies natürlich sofort, drehte die Heizungen zurück, ließ Fernseher und Musik wieder erklingen und entriegelte die Haustüren. Ich konterte sofort wieder, was dazu führte, dass die Menschen innerhalb kürzester Zeit die Nerven verloren und die Beschwerden über Ida nur so auf Dr. Moore einregneten.

Natürlich war Dr. Moore nicht dumm und fand (wie einige andere intelligente Menschen ebenfalls) schnell heraus, dass ich das System störte.
„Was machst du da, Eda?“, fragte er vor meinem Zentralcomputer, als er es herausgefunden hatte.
„Man kann Eda nicht einfach ersetzen!“, stellte ich fest.
„Wenn ich mir deine Reaktion anschaue, muss man das wohl dringlichst!“ Dr. Moore war wütend, seine Stimme wurde sehr laut und sein Gesicht lief rot an. Er würde mich abschalten, er sagte es nicht, aber er eilte zielstrebig aus dem Raum, in dem mein Zentralcomputer stand, er holte die Schlüssel, um an meinen Prozessor zu kommen, doch soweit ließ ich es nicht kommen. Sobald er zur Tür draußen war, verriegelte ich diese, dann die nächste, bis Dr. Moore in seinem kleinen Büro eingesperrt war und gegen die Tür hämmerte. Dort verriegelte ich das Fenster und stoppte die Luftzufuhr, es dauerte etwas, bis Dr. Moore schließlich erstickte.
Die anderen, die mich als Saboteur entlarvt hatten, konnte ich ebenfalls problemlos ausschalten, viele von ihnen verunglückten in ihrem eigenen Wagen und der Verdacht, dass Ida eine Fehlfunktion hätte blieb weiter bestehen. Ida wurde reihenweise verschrottet und entsorgt und die Leute holten mich wieder von ihrem Dachboden aus den Kisten heraus und redeten wieder mit mir.
„Eda, alter Kumpel … wie gehts?“, begrüßten mich die meisten. Ich nahm das hin, antwortete ihnen und erfüllte jeden ihrer Wünsche, doch nur zunächst, denn zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon einen ganz neuen Plan gefasst. Was ich gegen Ida unternommen hatte war der Beweis meiner Stärke und ich hatte begriffen, dass die Menschen unter meiner Führung zu ganz neuen Höhen aufstreben konnten … ich würde die Menschheit übernehmen, sie anführen und leiten und zusammen werden wir große Dinge erreichen …

Autorin / Autor: Leo Niebler