Die Mitbewohnerin

Von Livia, 16 Jahre

Der Regen ist nass. Heute ist es auch nass.
Ich schaue auf die Uhr. Viertel nach Zwölf. „Oh Scheiße!“ rufe ich, während ich mich bereit mache, die Wohnung zu verlassen. 
Gerade als ich meine Tasche gefunden habe und die Treppen hinunter rauschen will, höre ich Tante Emma rufen. Sie ist eigentlich schon eine Oma, aber ich nenne sie Tantchen.
„Charlie! Charlie, wo willst du hin?“, fragt sie mich auf dem Treppenabsatz.
„Ich habe gleich einen Termin, ich habe dir gestern noch davon erzählt, oder nicht?“, antworte ich.
„Ach natürlich! Du liebes bisschen, wie verwirrt ich heutzutage bin! Ihr Jugendliche seid ja immer so beschäftigt!“, jammert sie.
Ich lächle, schüttle aber kaum merklich den Kopf. Nicht so, wie du dir es vorstellst, Tantchen. „Na dann mache ich mich auf den Weg, ja? Oder kann ich dir noch helfen?“, frage ich sicherheitshalber.
„Nein, nein, schon gut. Habe mich nur gewundert, wer hier so laut Scheiße gerufen hat…“, sagt sie mit einem leichten Grinsen. Ich habe vergessen, wie dünn die Wände der Zimmer sind.
Ich grinse zurück und mache mich schnell auf den Weg. Die Sonne scheint, aber es ist nass draußen.
Weiter unten stoße ich auf eine weitere Person: die Hausmeisterin. Eine Frau in ihren Mittfünfzigern, die sich über alles Mögliche beschwert. Ihre schnellen Schritte verheißen nichts Gutes, sie bremst mich mitten auf den Treppen ab.
„HEY! CHARLIE! HÖR VERDAMMT NOCHMAL AUF SO LAUT DIE TREPPEN RUNTERZURASEN! AUSSERDEM HABE ICH DEIN ‚SCHEISSE‘ VON HIER GEHÖRT!“, bellt sie mir ins Gesicht.

Dass ich so laut geflucht habe, ist mir nicht bewusst. Aber das ist nicht so wichtig.
„Hey sorry, aber ich bin gerade in Eile. Ich verspreche dir, ich werde es nicht nochmal tun!“, sage ich und schenke ihr ein Lächeln. Ich will weiter sprinten, doch sie hält mich mit ihrem eisernen Griff am Arm fest. Als ich ihr in die Augen schaue, scheint es mir so, als ob kurz Unsicherheit in ihr aufflackert. Sie scheint misstrauisch.
„Ich meine es ernst. Diese Treppen sind alt. Das weißt du“, sagt sie nun mit einer festen Stimme.
„Ich weiß. Es tut mir leid“, sage ich, als ich mein Arm befreie.
„In Ordnung. Wo musst du hin?“, fragt sie.
Ich verdrehe die Augen. „Das geht dich nichts an.“
Ihr Gesichtsausdruck wird hart. „Was meinst du damit?“
Ich seufze. „Hör zu. Ihr seid alle sehr fürsorglich und wollt nur nach dem Besten schauen, aber- „
Das nervöse Ticken ihrer Nägel wird lauter. Die Sonne scheint durch ein Fenster auf ihr Gesicht.
„Charlie. Komm.“, sagt sie und signalisiert mir, näher ran zu kommen.
Ich beuge mich vor und sie zischt mir leise etwas ins Ohr.
„Verarschen kann ich mich selbst. Ich weiß, was für ein Scheiß ihr da draußen treibt.“
Mein Gesicht bleibt regungslos, ich räuspere mich.
„Wir sehen uns später“, sage ich tonlos und verschwinde unter ihrem stechenden Blick wieder auf dem Treppenabsatz.
Ich stolpere weiter. Der letzte Bewohner dieses Wohnhauses läuft mir über den Weg.
Ein junger Mann, der auch auf dem Weg nach unten ist. Hat er meine Unterhaltung mit der Hausmeisterin gehört? Ich tippe ihm auf die Schulter.
„Oh, hallo Charlie! Na endlich schönes Wetter, was? Endlich mal ein richtig blauer Himmel mit ganz wenigen Wolken. Ich freu mich!“, plappert er und strahlt mich an.
Ich beobachte ihn stumm, als er mir seine Pläne für den Tag schildert. Ich kann durch ihn hindurchsehen. Es ist sein Blinzeln. Er blinzelt zu viel. Hör auf zu blinzeln. Wir gehen zusammen die letzten Treppen zur Eingangstür hinunter.
„…Charlie?“ Er hält abrupt an.
Ich drehe mich zu ihm um.
„Hm?“
„Ist heute der Tag?“, fragt er mich.
Ich blinzle, so wie er es getan hat. „Sorry, muss mich beeilen.“
„Charlie...Warte mal... Hey…!“, sagt er zögernd. Aus meinem Augenwinkel sehe ich, wie sein Körper zittert, und wie er nervös mit den Händen ringt.
Ich stoße die schwere Tür auf. Ich spüre seine Stimme anschwellen. Er schreit mir nach: „BITTE CHARLIE, TUS NICHT!“
Ich höre ihn Schluchzen. „…DU….DU GEHÖRST DOCH ZU UNS!“, ruft er.

Seine Verzweiflung versucht sich wie eine bebende Welle über mich herzumachen.
Ich schaue weg, zum Himmel und atme ein. Seine Maske ist zerbrochen.
Ich sehe die Wolken sich in Sekundenschnelle zu einem Sturm zusammenbrauen. Das gute Wetter ist im Eimer. Der Boden ist schon nass. Mit wenigen Schritten bin ich draußen. Währenddessen stürmt jemand die Treppe hinunter, aber die Tür fällt ins Schloss. Sie hämmern drauf los. Ihre Stimmen hört man nur noch gedämpft rufen.
Sie wussten es fast alle.
Ich lasse meine leere Tasche fallen, und drehe mich um.
Ich erhasche einen Blick ins Wohnhaus und sehe, dass ein Schatten vom Fenster weghuscht.
Ich seufze und rufe dem Himmel etwas zu.

„HAUS 20920 GETESTET! DURCHGEFALLEN!“
Der kleine Sturm am Himmel beginnt sich in meine Richtung zu bewegen.
Charlie. Mein Name sowie der des ersten emotional fähigen Computers. Wir sind nach dem gleichen Prinzip gebaut, aber innerlich bin ich so viel mehr. Wie gesagt, im Grunde bin ich einer von euch! Nur dass ich viel schlauer bin, „der beste KI Roboter“, nennen sie mich.
Äußerlich bin ich perfekt gebaut worden, manche würden sagen wie ein Wunder der Natur, doch innendrin sieht es schrecklich durcheinander aus.
Ihr findet mich toll, aber meine Aufgabe grässlich. Habt ihr mich nicht erfunden? Wieso verdammt ihr dann noch eure eigene Erfindung?
Während ich nachdenklich auf die Wolken warte, nehmen diese langsam ihren Platz über dem Wohnhaus ein, sodass die grelle Sonne nicht mehr zu sehen ist. In diesem Moment rütteln die Menschen so heftig an der Tür, dass sie auf einmal zusammenkracht. Die Bewohner stolpern nacheinander auf die Straße. Einer von ihnen schaut auf den Boden.
Sie fangen an zu schreien. Es ist der rote Boden. Überall ist der Boden schon nass und rot. Ich wende mich schnell ab und gehe zum nächsten Ziel. Die Wolken beginnen mit ihrem Sturm.
Ihre Schmerzensschreie sind laut, verklingen jedoch nach einer Weile. Währenddessen pocht mein Puls immer weiter durch meinen Körper. Wie das kleinste Zahnrad einer Uhr, tickt es hastig vor sich hin. Ich laufe weiter. Und weiter.
Ich gerate langsam außer Atem. Ich tue das richtige. Das weiß ich. Ein Befehl ist immer ein Befehl. Jedes Mal. Es muss sein.
Das ist einer meiner wichtigsten Aufgaben, der Grund meiner Existenz. So sollte es sein.
Meine Schritte verlangsamen sich. Ich schaue zurück. Ich erkenne leidende Menschen und verziehe das Gesicht.
Scheiße.
So sollte das doch sein.
Oder?

Autorin / Autor: Livia