Die Bestimmung

Von Ida Fitz, 16 Jahre

„03-641, wie kann es sein, dass die achtunddreißigste Etage immer noch nicht fertig ist? Das muss heute schneller gehen. Partington wird nicht bis in alle Ewigkeit warten.“
Er hörte den Aufseher, bevor er ihn sah. Seine Stimme dröhnte ihm in den Ohren, und seine schweren Schritte stapften durch den Schlamm zu Füßen des halbfertigen Hochhauses auf ihn zu.
„Ich habe ihm versprochen, dass das Center bis zum Beginn des nächsten Jahres fertig sein wird.“
Er seufzte kaum merklich und wandte sich um. Sein Vorgesetzter baute sich vor ihm auf, die Hände in die Seiten gestemmt. Die blank polierten Schuhe mit Dreck verspritzt. Das schmale Gesicht so mürrisch wie immer. Und der Hochmut in seinen Augen. „An die Arbeit, 03-641!“, herrschte er sein Gegenüber an.
„Natürlich, Sir.“ 03-641 senkte den Kopf. „Ich fange sofort an.“
Sein Vorgesetzter nickte knapp. „Bis zum Ende des Tages hast du die nächsten drei Etagen fertiggestellt.“
Und dann war er wieder alleine. Alleine am Fuß des gewaltigen Hochhauses, das wie ein mahnender Zeigefinger in den bleigrauen Himmel ragte, alleine mit hunderten von Stahlträgern, mit Staub und Schlamm und Schmutz, alleine mit der Anstrengung und der Erschöpfung. Es war nicht die Arbeit, die ihn erschöpfte. Schließlich war er es nicht anders gewohnt, als zu arbeiten. Er hatte schon immer Gerüste gebaut, war an Fassaden hinaufgeklettert, hatte Stahlträger miteinander verschraubt und Holz auf Eisen geschichtet, sein ganzes Leben lang. Eigens dafür war er konstruiert worden. Aber es war diese Welt, die ihn erschöpfte. Diese Welt voller Egomanen und Psychopathen. Er war müde von ihr. Müde von ihrer Kälte. Müde von den Blicken, mit denen sie ihn bedachten. Der Stolz auf ihr Werk, auf ihre unauslöschliche Neuerungssucht und ihre verdorbenen Einfälle, die sie als Fortschritt bezeichneten, war darin ebenso zu erkennen, wie die Verachtung für ihn. Sie hielten sich so sehr für etwas Besseres. Dabei sah er doch genauso aus wie sie. Die gleiche Haut, das gleiche Haar, der gleiche Körper. Dass sie ihn nach ihrem Abbild gefertigt hatten, war nur ein weiteres Zeichen ihrer Arroganz. Doch die grüne Kontrollleuchte an seiner Schläfe verriet ihn. Andropodos 03-641. Ein mechanisches Herz. Ein mechanisches Leben, geregelt wie ein Uhrwerk, das immer denselben Takt schlug. Arbeiten. Arbeiten. Arbeiten. Das ist deine Bestimmung. Zu etwas anderem bist du nicht gut.
Er schaute an dem Ungetüm aus Stahl und Glas hinauf, das sich vor ihm erhob. Der Himmel darüber war schwer von Wolken, Wolken natürlicher Art und die, die die Menschen mit ihren stinkenden Fabriken und lärmenden Transportmaschinen erzeugten. Er machte sich an den Aufstieg, Stück für Stück auf dem wackeligen Gerüst, das er mit seinen eigenen Händen errichtet hatte. Höher. Immer höher. Als er dort angekommen war, wo er gestern den Bau beendet hatte, einhundertundzwanzig Meter über dem Boden, machte er sich wieder an die Arbeit. Seine Aufgabe war gefährlich wie keine andere. Zu gefährlich für seine Erfinder und ihresgleichen. Nur ein falscher Schritt, und er würde in den Tod stürzen. Aber was machte das schon? Er war austauschbar. Ersetzbar. Andropodos 03-641 war nichts Besonderes. Nein, er war ganz und gar unbedeutend, einer von Hunderttausenden, geboren aus dem genialen Geist der Menschen, aber selbst vollkommen geistlos. Wen störte es schon, wenn eine willenlose Arbeitsmaschine zu Bruch ging? Es konnte doch so schnell eine neue hergestellt werden.
Als die Dämmerung hereinbrach, sicherte er die neu gebauten Gerüstetagen ab, zog sich auf den obersten Stahlträger hinauf und setzte sich darauf nieder, die Beine über die Kante baumelnd. Er schaute hinab in die Stadt unter sich, ein dunkles Loch, in dem grellbunte Lichter wie Milliarden von winzigen Augen zwinkerten und Menschen durch die Straßen surrten wie Schwärme von giftigen Insekten. Von hier oben war der Gestank nicht mehr zu riechen, und das wütende Getöse des Verkehrs war kaum mehr als ein gedämpftes Rauschen. Alles schien so friedlich aus mehr als einhundertundzwanzig Metern Höhe. Sie ließen immer höhere Gebäude bauen, vielleicht, um den schmutzigen Abgaswolken zu entkommen, die ihnen den Atem nahmen, vielleicht aber auch in dem verzweifelten Versuch, endlich den Himmel zu erreichen. Sie sahen alle so klein aus, wie sie dort unten durch die Straßen hasteten. Genauso klein und unbedeutend wie er selbst. Er stellte sich vor, wie er sie unter seinen Füßen zertrat, einen nach dem anderen. Oh, er hasste sie so sehr. Und gleichzeitig hatte er sich noch nie etwas mehr gewünscht, als wie sie zu sein.
Er stand auf, erhob sich auf dem wackeligen Stahlgerüst. Es hatte Nächte gegeben wie diese, in denen er hier oben gestanden hatte und daran gedacht hatte, einfach in die Tiefe zu springen. Dem allem zu entkommen. Aber das wäre zu leicht gewesen. Er wollte ihnen deutlich machen, dass auch er wütend werden konnte. Dass diese grüne Kontrollleuchte an seiner Schläfe ihn nicht zu einem demütigen Sklaven machte. Roboter. Arbeitsmaschine. Befehlsempfänger. Bediensteter.
Er war so viel mehr als das.
Und er würde es ihnen zeigen.

In der Nacht schlich er sich hinaus aus der engen Baracke, in der er Seite an Seite mit den anderen Arbeitern seiner Klasse untergebracht war, und begab sich zu dem Ort, an dem alles begonnen hatte. Die Fabrik erhob sich düster gegen den Nachthimmel, als wollte sie ihn abwehren. Ihm deutlich machen, dass er nicht hier sein sollte. Du bleibst in der Unterkunft bis zum Morgengrauen, hieß der Befehl. Dann gehst du wieder zur Baustelle. An die Arbeit. Aber er hatte sein ganzes Leben lang nichts anderes getan, als Befehle auszuführen. Jetzt war Schluss damit. Einmal, nur einmal, wollte er tun, was er selbst für richtig hielt.
Zum Glück war er ein guter Kletterer. Der Gedanke amüsierte ihn, dass genau die Fähigkeit, die sie ihm für ihre eigenen Zwecke auf den Leib geschneidert hatten, ihnen nun zum Verhängnis werden würde. Es fiel ihm nicht schwer, in die Fabrik einzusteigen. Wer erwartete schon von einem Roboter, dass er etwas tun würde, was derart gegen seine Bestimmung verstieß? Er kletterte an der dunklen Fassade hinauf und ließ sich durch ein Lüftungsgitter fallen. Drinnen folgte er dem unermüdlichen Rattern und Zischen, das aus der Halle im Herzen der Fabrik drang. Und dann stand er wieder dort, wo er vor mehr als zehn Jahren auf einem Fließband das Licht der Welt erblickt hatte. Sein Mutterleib. Der Ort seiner Geburt. Es hatte sich kaum etwas verändert, seit er zuletzt hier gewesen war. Die hundert fleißigen Hände, die metallene Körper mit Haut ummantelten und künstliche Augen in künstliche Gesichter einsetzten, waren immer noch da. Hundert fleißige Hände, nur dafür konstruiert, um noch mehr von Ihresgleichen zu erschaffen, noch mehr fleißige Hände, die sich selbst zu Sklaven machten. Der Anblick erfüllte ihn mit Abscheu. Wie konnten sie sich so etwas befehlen lassen? Das alles musste enden, hier und jetzt. Kein Roboter würde jemals wieder einen anderen in dieses Leben als unterwürfiger Diener zwingen müssen. Seine Hände zitterten, als er den Sprengstoff in seiner Tasche berührte. Sein Herz klopfte, als wollte es seine Brust zertrümmern. Er musste wahnsinnig sein, so etwas zu tun. Aber wer sonst würde etwas verändern, wenn nicht er? In diesem Moment war er so bedeutend wie niemand sonst.
Er trat auf einen der Arbeiter zu, die am Fließband standen und mit präzisen, ruckartigen Bewegungen Zähne in offene Münder einsetzte. „Hör zu“, raunte er ihm ins Ohr. „Du musst hier verschwinden. Ihr alle müsst verschwinden. Diese Fabrik wird in wenigen Minuten explodieren. Dann seid ihr frei. Beendet diese nichtswürdige Arbeit. Geht zum Ausgang. Ihr alle werdet frei sein.“
Der Arbeiter schaute auf, starrte ihn mit großen Augen an. „Frei?“ Das Wort verhallte in der dampferfüllten Luft, so ungläubig, als hätte er es noch nie zuvor gehört.
„Ja. Sag es den anderen weiter. Vertrau mir. Du siehst doch, dass ich einer von euch bin.“
Für einige quälende Augenblicke zögerte der Arbeiter. Dann beugte er sich zu seinem Nachbar hinüber.
03-641 atmete tief ein. Ja, jetzt endlich würden sie die Fesseln sprengen. Gemeinsam. Er spürte bereits den Geschmack der Freiheit auf der Zunge. Das war es, was er immer gewollt hatte. Er war nicht mehr alleine. Er hatte Brüder und Schwestern, und heute Nacht würden sie endlich ihren grausamen Eltern entkommen. Gemeinsam die bezwingen, die sich für unsterblich hielten.
Eine Stimme peitschte durch die Halle, kalt wie das Blut in den Adern seiner Schöpfer. „Mir ist zu Ohren gekommen, dass es hier einen Verräter gibt.“ Ein Mann stand am Ende des Raums, so stolz und selbstgefällig, wie nur ein Mensch sein konnte. „Ein Roboter hat einen Befehl missachtet und ist von seiner Bestimmung abgewichen. Ein Systemfehler, der dringend korrigiert werden muss.“ Er nickte einer zweiten Person zu, die in seinem Schatten stand.
Vorbei. Vorbei, bevor er die Bombe hatte legen können. Vorbei, bevor es überhaupt erst begonnen hatte. Ein Systemfehler, der dringend korrigiert werden muss. Was ist mit Emotionen? Zorn? Verzweiflung? Nein. Gefühle haben nichts zu suchen bei einem Roboter. Du hättest es wissen müssen, 03-641.
Er fuhr herum, rannte, doch er spürte Hände in seinem Nacken, lange bevor der Ausgang in Sicht war. Sie packten ihn, gruben sich in seine Schultern, machten ihn wieder zum Sklaven. Er würde als ein Niemand sterben. Einer von Hunderttausenden. Nur eine weitere verlorene Arbeitskraft. Aber was machte das schon? Es gelang ihm, sich umzudrehen, dann ergriffen ihn weitere Hände, und er spürte, wie ihm jemand den Sprengstoff entriss. Er sah in die Augen dessen, der ihn zuerst gepackt hatte. Darin war nichts als Leere. Dann sah er die grüne Kontrollleuchte an dessen Schläfe.

Autorin / Autor: Ida Fitz